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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


der mit einem einzigen kleinen, blutrothen Stirnauge geschmückte spitze Kopf aufgehängt scheint, wie der Kopf eines Schuljungen, den seine Cameraden an dem Rockkragen hinter die Thür aufgehängt haben, durch welche der Lehrer eintreten soll. Unter diesem Kopfe stehen die Fühler, die Freßspitzen kaum hervor; an der Bauchseite des Leibes sind vier Fußpaare, mit Schwimmborsten besetzt, angebracht; der aus vier Gliedern bestehende, mit doppelter Endkralle versehene Hinterleib verjüngt sich nach hinten und läßt ebenso den Darm durchscheinen, wie der Leib die doppelt in sich zurückgebogene Eierschnur, die bei weiterer Entwickelung des Eies den ganzen Leibesraum ausfüllen wird. Auf dem Rücken aber entfalten sich seltsame, flügelförmige Blattanhänge, die an ihren Rändern in lange, biegsame, am Ende abgestumpfte Anhänge auslaufen, im Nacken eine Kapuze mit drei Spitzen, dann zwei Paar seitlicher Flügelblätter, jedes mit zwei Spitzen, und hinten wieder ein Blatt, ähnlich dem Hinterleder der Bergleute. Papa Hesse in Brest, der das Thierchen entdeckt hat, und in Erfindung unaussprechlicher Namen eine ganz besondere Stärke besitzt, hat ihm den Gattungsnamen Notopterophorus (Rückenflügelträger) beigelegt. Aber das Thier fliegt weder, noch schwimmt es mit diesen Anhängen; es bewegt sie nur träge hin und her und kriecht äußerst langsam und bedächtig auf dem Boden des Glasgefäßes, in welches man es gebracht hat, ebenso bedächtig wie in dem Kiemensacke, in welchem es wohnt.


 Fig. 1.   Fig. 2.   Fig. 3.   Fig. 4.     

Notopterophorus papilio0 (Rückenflügelträger).

Fig. 1. Ausgewachsenes Weibchen, 4 Millimeter lang, 18 Mal vergrößert, mit reifen Eiern im Leibe und flügelförmigen Anhängen. – Fig. 2. Ganz junges Weibchen, zweihundertfach vergrößert, ohne Spur von Flügelanhängen. – Fig. 3. Etwas älteres Weibchen, 1 Millimeter lang und siebenzigfach vergrößert, mit dem auf dem Rücken angehakten Männchen. Die flügelförmigen Anhänge beginnen hervorzuwachsen. – Fig. 4. Aus dem Ei geschlüpftes Junge (Nauplius) von der Bauchseite, vierhundertfach vergrößert. Man sieht die drei Paare von Gliedern, das große Auge, die kleeblattförmige Oberlippe und die Dotterkugeln in Innern des Leibes.


Man findet ganze Familien zusammen in dem Schlamme wimmelnd. Die jungen Weibchen (Fig. 2) habe noch keine Spur von den Rückenflügeln; ihre Gestalt ist wie ein Fiedelbogen gekrümmt, der Kopf noch nicht untergebogen, das Auge sehr groß, der Leib deutlich aus vier Ringeln zusammensetzt, der Schwanz aus dreien und seine Anhänge weit länger. In dieser Gestalt haben sie etwa eine halben Millimeter Länge und bis auf die Zahl der Ringel, welche bei dem Männchen bedeutender ist, gleicht ihnen dieses in Gestalt und Größe vollkommen. Beide Geschlechter besitzen also in dem Jugendzustande eine gemeinsame Grundgestalt, und während diese bei dem Männchen erhalten bleibt, artet sie gewissermaßen bei dem Weibchen mit dem zunehmenden Alter aus. Die Ringel heben sich in dem Nacken ab, stehen bald zipfelförmig hervor, und sobald diese Ausbildung begonnen und das Weibchen einen Millimeter Länge erreicht hat, schlüpft das Männchen mit seinem Kopfe unter den dritten Zipfel, hakt sich fest und läßt sich nun von dem Weibchen ruhig herumschleppen (Fig. 3). Bis zu diesem Zeitpunkte habe ich in dem freilich ziemlich undurchsichtigen Leibe des Weibchens keine Spur von Eierschnüren entdecken können; sie sind gewiß in der Anlage vorhanden, aber zu zart, um leicht sichtbar zu sein. Bald findet man die Geschlechter wieder getrennt, das Männchen unverändert, das Weibchen dagegen krümmt sich; das Auge wird kleiner; die Zipfel wachsen zu Flügeln aus, und die Eierschnüre füllen den Leib an, bis endlich in ganz erwachsenem Zustande, wo das Weibchen vier Millimeter lang geworden ist, die Eier gelegt werden.

Aus diesen aber schlüpft ein nicht minder seltsames Wesen (Fig. 4) aus – ein elliptischer Körper mit schwach angedeuteten Querringeln, einem ungeheuren, rothen, aus zwei Hälften zusammengesetzten Stirnauge; dahinter, auf der Bauchseite, eine gewaltige, dreilappige Oberlippe; der Leib erfüllt mit dunkelgrünen Dotterkugeln, die den geraden Darm verhüllen. An diesem Leibe sind drei Paar Schwimmfüße seitlich und vorn befestigt; das erste Paar einfach mit langer Endborste, die beide hinteren Paare mit doppelten Endgliedern und langen Schwimmborsten daran. Dieses Wesen entspricht der Grundform der Krebsthiere, welche der berühmte dänische Zoologe Otto Friedrich Müller „Nauplius“ genannt hat. Unser Nauplius schwimmt behende umher, während alle anderen beobachteten Formen nur langsam kriechen. Ohne Zweifel verläßt er die Seescheide mit dem von ihr ausgepreßten Wasserstrahle, tummelt sich eine Zeitlang in dem Wasser umher und schlüpft, wenn die Zeit seiner Verwandlung naht, in eine andere Seescheide ein, um dort alle jenen Phasen der Ausbildung zu durchlaufen, die man bei den Einsassen der Seescheide findet. Nur ein glücklicher Zufall wird die Zwischenformen zwischen diesen Nauplius und den jüngsten von mir beobachteten Männchen und Weibchen entdecken lassen – bis jetzt habe ich mich vergebens abgemüht, sie zu finden. Wahrscheinlich spielen sie sich theilweise im Freien ab. Wie aber in dem unendlichen Meere ein Wesen suchen, das mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist und durch kein noch so feines Netz in dem Aquarium zurückbehalten werden kann? Bei einer andern Gattung, welche dieselbe Seescheide bewohnt, habe ich Andeutungen der am Nauplius sprossenden Füße gesehen, aber nicht mehr.

Diese Gäste der Seescheiden sind schon lange bekannt. Thorell, ein schwedischer Naturforscher, hat eine vortreffliche Abhandlung darüber veröffentlicht; Hesse in Brest hat eine große Menge neuer Gattungen und Arten, nur in der Umgegend von Brest gesammelt, hinzugefügt, von welcher viele freilich nicht stichhaltig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_812.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)