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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Regimentsarzt Meyer, ein ebenso angesehener Arzt wie reicher Mann, hatte eine Tochter von gleichem Alter der ersteren, die, wenn auch nicht geistig gleich hochbegabt und wissenschaftlich gebildet, doch nicht weniger schön und liebenswürdig war, als Charlotte. Ihr Name war Luise. Mit dieser trat Charlotte, da nach der Wiederherstellung ihres Vaters beide Familien in nahen freundlichen Umgang miteinander kamen, in das Verhältniß innigsten Vertrauens und lebenslänglicher Freundschaft.

Als die Töchter nach der Genesung des Vaters bei Meyer's in Rinteln zu Besuch waren, stand dort ein hübscher junger Lieutenant, Namens Wiederholt, in Garnison. Er gewann die Luise Meyer lieb und wurde von ihr wieder geliebt. Beide verlobten sich mit einander, da noch Niemand außer Charlotte darum wußte. Das Verhältniß konnte aber doch nicht lange verborgen bleiben. Der Lieutenant Wiederholt, in dem Bewußtsein seines redlichen Sinnes und tüchtigen Strebens, warb bei ihrem Vater um die Hand Luisens. Dieser, voll Liebe für seine Tochter, aber zugleich, und zwar eben deshalb, bei seinem Reichthume und Ruhm als Arzt, ein mit ihr hoch hinaus wollender Mann, erklärt: seine Luise gebe er keinem Lieutenant zur Frau; die wäre eines Generals werth. Der kühne junge Bewerber, nicht verzagt über einen solchen Bescheid, nimmt seinen Abschied aus hessischen Diensten und tritt als Officier mit und unter dem als General berühmten Grafen Wilhelm von Bückeburg in königlich portugiesischen Militärdienst. Er avancirt unter der siegreichen Führung des genannten Feldherrn rasch zum Generalmajor. Als solcher kehrt er zurück in seine hessische Heimath und wird auch zu Kassel mit dem durch seine Tüchtigkeit in Portugal errungenen Range eines Generals wieder in hessischen Militärdienst aufgenommen.

Inzwischen hatten die beiden Liebenden ihre Verbindung, trotz der weiten Entfernung von einander, niemals aufgegeben oder abgebrochen, vielmehr durch regelmäßige Correspondenz beständig treu fortgesetzt und unterhalten. Der Briefwechsel durfte aber, damit der alte Meyer nicht dazwischen träte und ihm ein Ende machte, nicht direct von Person zu Person, nicht unmittelbar von Portugal nach Rinteln, von Rinteln nach Portugal geschehen; er mußte über Lüdenhausen gehen. Charlotte Hildebrand war die Vermittlerin desselben zwischen beiden Liebenden. Die Briefe von beiden Seiten gingen zunächst an sie, und Charlotte besorgte ihre Weiterbeförderung von dem einsamen Dorfe aus. Für solchen heimlichen, und bei der Lage der Sache allerdings nicht tadelfreien, aber andererseits doch auch zu entschuldigenden und naheliegenden Liebesdienst, hat sie im Laufe späterer Erlebnisse schwer büßen müssen; nicht etwa durch ihre Freunde, den General Wiederholt und Luise Meyer, nein, diese haben ihr für ihre Liebe und Freundschaft nur Liebe und Freundschaft wieder erwiesen.

Sobald Ersterer als General in das hessische Militärcorps wieder einrangirt und in Kassel stationirt war, eilte er nach Rinteln, zeigte dem alten Regimentsarzte Meyer sein Diplom als General, erinnerte ihn an seinen frühern Bescheid, warb in alter ungeschwächter Liebe von Neuem bei dem zwar freudig überraschten, aber doch auch in etwas beschämten Vater um seine Tochter Luise und erhielt das Jawort. Das Paar nahm seinen Wohnsitz in Kassel und lebte dort in den glänzendsten Kreisen und Verhältnissen.

Charlotte Hildebrand war und blieb die vertrauteste Freundin der Beiden und nahm, oft und auf längere Zeit in Kassel bei Wiederholt's zum Besuche anwesend, an ihrem häuslichen und Familienglücke lebhaften Antheil. Ihre körperliche Schönheit, ihre hohe Geistesbildung und Begabung erregten bald Aufmerksamkeit in den reichsten und vornehmsten Gesellschaftscirkeln der hessischen Residenzstadt, in welche sie durch ihre hochgestellten Freunde eingeführt wurde. In solchen Kreisen fand auch ein allgemein als sehr reich bekannter junger Mann Zutritt, der cavaliermäßig in Kassel lebte und großen Aufwand machte. Er hatte mit Charlottens ältestem Bruder, Ferdinand Hildebrand, zu Göttingen und mit ihrem Vetter und Jugendfreunde H. Schönfeld, meinem vorhin schon erwähnten nachmaligen Schwiegervater, in Marburg gleichzeitig studirt und war Beiden, sowohl wegen des ungewöhnlichen Luxus, den er schon auf Universitäten trieb, wie durch sein ausschweifendes liederliches Leben und demoralisirtes Wesen bekannt. Ich erzähle über ihn nur, was ich von meinem Oheim und meinem Schwiegervater sowie auch von meiner seligen Mutter zum Oeftern gehört habe. Jener reiche vornehme junge Mann war der Dr. jur. Diede. – Charlotte Hildebrand, den Glanz liebend, in ihrer Jugendfrische davon verblendet, ließ sich in ihrer ländlichen Arglosigkeit von dem bei jeder Gelegenheit ihr eifrig den Hof machenden Dr. Diede so weit bethören, daß sie sich mit ihm verlobte.

Es ist aber völlig irrig, was der Berichterstatter der „Gartenlaube“ in der vorhin bezeichneten Nummer Seite 717 darüber verbreitet hat: daß nämlich Charlotte durch ihre Eltern gedrängt worden sei und diese von ihr „streng verlangten, ihr Jawort zu geben“ zu ihrer Verheirathung mit dem Dr. Diede, der sich inzwischen in Begleitung seines Reitknechts auch in Lüdenhausen persönlich präsentirt hatte. Statt Charlotte zu der Verbindung zu rathen, hatte vielmehr ihr Vater sie gewarnt; er hatte, aufgefordert von seinem ältesten Sohne, auf die allerentschiedenste Weise seiner Tochter von einer Vermählung mit dem Dr. Diede abgerathen und von ihr streng verlangt, ihr Jawort ihm nicht zu geben, er selbst aber als Vater das seinige ebenso streng verweigert, ja sogar, als dies nichts gefruchtet, zugleich mit seinem genannten Sohne, ihr angekündigt, daß Beide, Vater und Bruder, wenn sie den Dr. Diede dennoch zum Manne nehmen würde, fortan alle Gemeinschaft mit ihr abbrechen und aufgeben würden. Und dies ist, als Charlotte das Weib Diede’s geworden, auch wirklich geschehen. Beide haben seitdem niemals Charlotte wiedergesehen und wiedersehen wollen. Der Vater starb schon im Jahre 1800, der Bruder aber erst 1834 als Pastor zu Berlinghausen.

Unter allen ihren Geschwistern ist die Doctorin Diede nachher nur mit meiner Mutter in näherer persönlicher Verbindung und bis kurz vor ihrem Ableben auch in brieflicher Correspondenz geblieben. Meine Mutter war, solange sie unverheirathet, bis 1798, oft auf Wochen und Monate bei der Doctorin Diede in Kassel zum Besuche. Aber der Glanz und das Glück der Letzteren war von kurzer Dauer. Der Mann war durch sein früheres ausschweifendes Leben dermaßen körperlich und geistig herunter gekommen und entnervt, daß er unmöglich eine Frau von so eminenten körperlichen und geistigen Eigenschaften, wie Charlotte, beglücken konnte. Dabei beherrschte ihn tief eingefleischte Eifersucht und Argwohn schlimmster Art gegen seine Frau, und es fehlte in den Kreisen seiner Gesellschaftsgenossen nicht an Solchen, durch welche ohne Arg oder aus Muthwillen jene üblen Eigenschaften in Dr. Diede nur immer mehr Nahrung erhielten. Ich mag nicht sagen, aber mein Schwiegervater und meine Mutter haben mir oft davon erzählt, bis zu was für Rohheiten und Auftritten schmutzigster Art im Aufflammen seiner Leidenschaft der Dr. Diede sich gegen seine Frau vielfach hat hinreißen lassen, sogar bis zu öffentlichen Scandalscenen zur äußersten Kränkung seiner Frau; so berauschte er sich – um Eines doch zu erwähnen – wenn Charlotte auf einem Balle mit einem Herrn tanzte, woran er in seinem eifersüchtigen Argwohne Anstoß nahm, in Spirituosen, taumelte dann in den Tanzsaal hinein und warf sich plötzlich nahe vor seiner dahertanzenden Frau hin, so daß diese über ihn zu Boden stürzen mußte etc.

Unter solchen Umständen ist es wohl zu verstehen, wie sich das Herz der Frau von dem Manne zurückgestoßen fühlen, ja allmählich von ihm abwenden mußte, und es erscheint, wenn auch an und für sich tadelnswerth und nach den Gesetzen der Moral nicht zu rechtfertigen, nur gar zu natürlich und erklärlich, daß die durch ihren Mann so beleidigte und fortwährend gequälte Frau gegen Aufmerksamkeiten, die ihr von andern Herren in befreundeten Kreisen erwiesen wurden, auf die Dauer nicht ganz unempfindlich blieb und sie nicht immer gleichgültig und kalt zurückwies. Auf ein verwundetes Herz wirkt es wie ein wohlthuender heilender Balsam, wenn es Zeichen theilnehmenden Mitgefühls bei Andern findet. Welch eine Aufgabe für ein tief verletztes und gereiztes Gemüth, in solchen Verhältnissen und Beziehungen stets das Richtige zu treffen!

Meine Mutter sprach ihre Schwester, für welche sie sonst stets nur herzliche Schwesterliebe und Theilnahme hatte, in dieser Hinsicht nicht unbedingt frei von tadelnswerther Verirrung, namentlich nicht in ihrem Verhalten zu einem jungen lebensmuthigen Lieutenant von H., welcher der Doctorin Diede den Hof gemacht unter dem Scheine, daß dies nicht ihr, der Frau Diede, sondern der bei derselben zum Besuche anwesenden Schwester gelten sollte. Das wäre aber das Aeußerste gewesen, was jemals der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_265.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)