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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

von gutem Herzen, hatte aber eine höhere Lehranstalt nie besucht, sondern früher nur als Bedienter in einem angesehenen Hause fungirt. Unter ihm hatte die Schule in einem Zeitraume von fünfzig Jahren niemals auch nur zu einigem Gedeihen kommen können. Ich suchte ihr mit aller Kraft aufzuhelfen. Da fast kein derselben angehöriges Kind richtig lesen konnte, bemühte ich mich, vor Allem Lesefertigkeit und überhaupt Lernlust in dieselbe einzuführen, und wählte dazu unter Anderem als anmuthiges, die Schüler anziehendes Lehrmittel die bekannten Erzählungen von Robinson; ich that es mit sichtlichem Erfolg. Die Schüler erzählten dies zu Hause, und Unverständige sahen die von mir auf eigne Hand bewirkte Abschaffung der bisherigen Gewohnheit, „die sieben Buß-Psalmen“, „den Sirach“, „den Himmelsweg“, „die Haustafel“ etc. durch die Kinder täglich ableiern zu lassen, als eine Ketzerei an. Klatschsüchtige Weiber, welche in dem angedeuteten Pfarrhause um einer Tasse Kaffee und eines Stücks Kuchen willen liebedienerten, hatten dies dort angebracht, hatten von Büchern mit blauen Tafeln gesprochen, die ich statt der Religionsbücher in meiner Schule eingeführt hätte, und somit willkommenen Anlaß dargeboten, mich als einen Irrlehrer und Verführer der Jugend durch Anleitung zur Romanleserei in Klage zu nehmen. Der geistliche Herr, von seiner Gattin gereizt, brachte auch dem mir zunächst vorgesetzten Pfarrer, einem gutmüthigen, aber schwachen Manne, die Meinung bei, daß ich den mir anvertrauten Schülern nicht das Rechte lehre, und die Sache gelangte als Beschwerde über mich an das Oberconsistorium.

Ich wurde vorgefordert. Schweren Herzens ging ich den Weg nach der Hauptstadt, zitternd und zagend stieg ich die zum Sessionszimmer führende Treppe hinauf und hörte mit Beben von dem Diener des Collegiums, „man habe mir heute eine tüchtige Wäsche zugedacht; die Herren drinnen hätten die Seife dazu parat gelegt“. Noch höher stieg meine Angst, als ich hörte, ich sei von der mich zunächst beaufsichtigenden Geistlichkeit der Pflichtverletzung in der Schule angeklagt worden, und den Termin werden heute nicht der eben unpäßliche Präsident von Herder, sondern ein Oberconsistorialrath halten, von dem ich wußte, daß er zu der mich befeindenden Predigerfamilie in sehr freundschaftlichem Verhältnisse stand. Ohne mich lange zu besinnen, lief ich, um dem mir drohenden Ungewitter zu entgehen, pfeilschnell die Treppe hinunter, eilte zu einem meiner vormaligen verehrungswürdigen und mir wohlwollenden Lehrer und wurde von demselben theilnahmsvoll zu Herder gewiesen. Ich ging zu ihm. Freundlich empfing er mich, indem er mich noch mit dem frühern „Du“ anredete, und als ich ihm meine Angelegenheit kurz vorgetragen hatte, schrieb er ein Billet und gab mir dasselbe mit dem Auftrage, es beim Oberconsistorium abzugeben. Er fügte hinzu, daß er selbst bald in der Sitzung erscheinen und den Termin halten werde. Das Papier, als einen undurchdringlichen Schild fest in meiner Hand haltend, kehrte ich in das Local des Oberconsistoriums zurück, wo ich auch die beiden Geistlichen traf, die gegen mich als Kläger aufgetreten waren. Bald darauf wurde ich zum Vortritte aufgefordert. Getrosten Muthes trat ich ein, und auch die unheildrohende Miene des vicarirenden Präses vermochte mich nicht zu erschüttern – hatte ich doch meinen Talisman in der Hand. Das mir vom Vorsitzenden gemachte Compliment, „daß ich ein noch grüner Bursch sei“, nahm ich ruhig hin, und ebenso ruhig hörte ich die Anklagepunkte an, welche der Secretär vorlesen mußte. Ohne ein Wort zu erwidern, überreichte ich das Herder’sche Billet. Es wurde gelesen, und Todtenstille trat ein. In diesem Augenblicke erschien auch mein hoher Gönner und Beschützer. Freundlich redete er mich mit den Worten an: „Es sollte mir leid thun, wenn ich mich in Krauße geirrt hätte, und wenn die gegen ihn angebrachten Beschuldigungen begründet wären.“

Ich vertheidigte mich mit bescheidener Offenheit gegen die Anklagepunkte und bemerkte am Ende meiner Rechtfertigung mit besonderem Nachdrucke, daß die beiden gegen mich klagenden geistlichen Herren, so lange ich Landschullehrer sei, meine Schule noch nicht ein einziges Mal besucht hätten, folglich gar nicht über meine Lehrart urtheilen könnten, sondern das, was sie angebracht hätten, nur durch Zuträgerei zu ihrer Kenntniß gelangt sein müsse. Herder rieb sich die Stirn; die übrigen Anwesenden machten bedenkliche Gesichter; ich wurde angewiesen abzutreten, und die beiden Prediger wurden zum Eintritt aufgefordert. Ich hörte Herder drinnen mit lauter Stimme vom Nichtbesuch der Schule, von Pflichtvergessenheit, von Anhören des Gewäsches alter Weiber u. dergl. reden. Mit rothen Gesichtern, auf denen die Scham nicht zu verkennen war, kamen die statt meiner Gewaschen wieder heraus, und ich wurde abermals vorgerufen. In wahrem Vatertone sprach nun der ehrwürdige Herder:

„Es beruht die ganze Sache auf einem Mißverständnisse. Krauße ist nicht auf dem gewöhnlichen Wege gegangen, das soll und kann ihm aber nicht zum Vorwurf gemacht werden. Wenn er, indem er nach Schöndorf[1] kommen will, statt des steinigen, holperigen Fahrweges einen angenehmen, ebenen, sich zwischen Blumen oder unter Bäumen hinziehenden Fußsteig wählt, so thut er recht daran; mag er ferner in dieser Weise fortfahren; das Oberconsistorium bleibt ihm in Gnaden gewogen.“

Welch eine Wonne waren diese Worte für mein Herz, welch ein Triumph war mir dadurch bereitet! So zeigte sich mir auch hier der unvergeßliche große Mann in jener ehrwürdigen und liebenswürdigen Weise, in welcher er nur während meiner Schulzeit erschienen war. Damals wurden von ihm, dem Feinde des geisttödtenden Mechanismus auf dem Gebiete wissenschaftlichen Strebens, beim öffentlichen Examen nicht diejenigen Schüler gelobt, die sich sclavisch an die Worte des Lehrers hielten und sich nur in dem alten Geleise bewegten; es wurden vielmehr von ihm diejenigen Schüler, die, dem ekelhaften Schlendrian abhold, fessellos aus sich selbst heraus etwas producirten, im geraden Gegensätze zu der damaligen Art mancher Lehrer für die vorzüglicheren erklärt; ihnen lächelte er seinen gewichtigen Beifall zu. Er war es ferner, der die zu jener Zeit dort gewöhnliche Katechisirmethode, nach welcher die von ihm herausgegebene Erklärung des Katechismus jämmerlich gemißbraucht und zu einem Uebungsmittel im Verwandeln der darin enthaltenen Fragen in Antworten und der gegebenen Antworten in Fragen herabgewürdigt wurde, einst in einer Schulrede, zu größter Beschämung des Betroffenen, mit den Worten persiflirte: „Wie steht der Mund? In die Quere. Was steht in die Quere? Der Mund. Wie steht die Nase? In die Länge. Was steht in die Länge? Die Nase.“

In ebenso freidenkender und gerechter Weise wurde mir vor dem Oberconsistorium durch ihn mein Recht. Gerechtfertigt vor meinen Widersachern, ging ich in mein Dorf zurück und suchte auch ferner in meiner Weise und nach meinen Kräften Gutes im Kreise meiner Zöglinge zu wirken, immer dem Grundsatze Herder’s getreu, daß der Mensch nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen müsse.

  1. Ein Dorf bei Weimar, auf der Höhe des Ettersberges.

Die Verfälschung der Lebens- und Genußmittel.
Von Dr. Gustav Dannehl.

Eine sociale Krankheit allerschlimmster Art, weil wir bei der gegenwärtigen schlaffen Handhabung des gesetzlichen Schutzes gegen dieselbe ihren gefährlichen Einflüssen fast wehrlos ausgesetzt sind, breitet sich immer mehr unter uns aus, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß sie bei uns bereits einen epidemischen Charakter anzunehmen beginnt. Es ist dies die Verfälschung gerade der unentbehrlichsten Nahrungs- und Genußmittel und namentlich der Getränke. Eine Vergleichung der einschlägigen strafgesetzlichen Bestimmungen aller Nachbarländer mit denen Deutschlands ergiebt bis zur Evidenz, daß die Gesetzgebung in diesem Punkte anderswo strenger ist und, was wichtiger sein dürfte, bedeutend energischer gehandhabt wird, als bei uns. Aufmerksamen Beobachtern, welche nach irgend einer Richtung hin über die Grenzen unseres deutschen Vaterlandes hinausgekommen sind, kann es ebenso wenig wie dem Schreiber dieser Zeilen entgangen sein, daß es anderswo um die beregte Sache weniger

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_317.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)