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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Commissar Donner in der späten Dämmerung die Thür des „Fuchseisens“ öffnete. Zwei dieser Arbeiter waren alte Mitglieder des Clubs.

Unter dem Schleier der Nacht wurde es in den Arbeiterquartieren auf dem „Windbuckel“ und am Flusse drunten lebendig. Zornige Reden, Lärm und Gelächter schollen. Kleinere und größere Trupps von Männern jedes Alters, meist in der blauen Arbeiterblouse, bewegten sich, einander begegnend und sich vereinigend, zum Mittelpunkte der Stadt hin. Hier und da wurde dumpf an einen Laden geklopft; Hausthüren öffneten sich; ein paar Worte wurden gewechselt und eine oder einige Personen vermehrten den Zug. Es war, als brächen allüberall Quellen aus der Erde und strömten, begierig den Zusammenfluß suchend, ineinander, um Bäche und endlich einen Strom zu bilden. Es kamen weit mehr Leute zusammen, als je zu den Anhängern der städtischen Demagogie gehört hatten; die Männer der Arbeiterquartiere waren ein rauflustiges Geschlecht, dem das Wort locker auf der Zunge und das Messer lose in der Tasche saß.

Eine Stunde vor Mitternacht schimmerten die Fenster des Jenny-Lind-Zimmers sanft vom Scheine einer Lampe, bei welchem der Geheimrath Rehling unruhig im Sopha saß. Von der Canalstraße herauf drang das Geräusch, welches eine durcheinander wirrende Menschenmenge verursacht, ein Gemurmel von Stimmen und das Rascheln und Scharren von Tritten in’s Zimmer.

Der Geheimrath erhob sich und schritt die Wand entlang in eine Zimmerecke; eine Gardine lüftend, blickte er hinab: auf dem Trottoir jenseits des Canals drängten sich viele Menschen.

Es klopfte an der Thür, und er trat rasch zurück und rief: „Herein!“

Der Eintretende war der alte Schoner. „Herr Geheimrath,“ sagte er ruhig, das gilt Ihnen. Sie wollen Karl Hornemann frei haben; es werden wohl gleich ein paar von ihnen herauf kommen.“

„So schließen Sie die Hausthür zu!“

„Was soll das nützen?“ meinte achselzuckend der Wirth. „Sie werden sie aufbrechen und nur desto wüthender werden.“

„An’s Fenster kommen!“ rief eine Stentorstimme in der Straße, und „an’s Fenster!“ donnerten ein paar hundert Stimmen nach.

Der Geheimrath schwankte, ob er dem Rufe folgen sollte. „Es widerstrebt mir, mit dem Gesindel zu pactiren,“ murmelte er halblaut. Der Wirth hatte die Worte verstanden.

„Es ist eine unruhige Zeit jetzt,“ sagte er. „Aber die Leute meinen es ehrlich und verdienen eigentlich nicht, Gesindel zu heißen.“

„An’s Fenster! Hornemann freigeben!“ dröhnte es von Neuem.

Eine Fensterscheibe sprang klirrend entzwei, und ein Stein rollte in’s Zimmer; Hurrahruf und spottendes Gelächter folgte dem Wurfe. Des Geheimraths Gesicht überzog sich mit leichenhafter Blässe. Er ging an den Tisch, löschte die Lampe und drängte den Wirth auf den spärlich beleuchteten Corridor hinaus.

Ein Sturm des Unwillens brauste auf der Straße, und wieder klirrten Fensterscheiben, zwei kurz hintereinander; man, hörte die Steine gegen Möbel poltern und dann auf die Diele rollen.

„Sie ruiniren mein Zimmer,“ meinte der Wirth finster.

„Sie sollen Ersatz haben,“ sagte der Beamte, mit nervöser Hast die Hände reibend. „Ihr Haus hat ja wohl einen Nebenausgang?“

„Den haben sie längst besetzt.“

„Hm! So gehen Sie denn und beruhigen Sie die Leute! Ich will mit ein paar Zeilen die Freilassung des Herrn Hornemann verfügen.“

„Das ist das Einzige, wozu ich Ihnen rathen kann,“ versetzte Schoner und ging.

Der Geheimrath wartete noch eine Weile, bis er an dem Jubelruf der Menge erkannte, daß die Botschaft des Wirthes ausgerichtet war. „Hätte ich früher Militär kommen lassen!“ knirschte er, als er das Zimmer wieder betrat. „Man ist viel zu vertrauensselig gegen die Canaille.“

Er zündete die Lampe wieder an und warf ein paar Zeilen auf das Papier; der alte Schoner kam zurück, um die Verfügung in Empfang zu nehmen.

Eine Viertelstunde später stand der Geheimrath auf der Treppe des Locals der Union und zog die Schelle. Es war dort bereits leer von Gästen, da die Mitglieder aus Furcht vor Insulten das nächtlich-späte Nachhausegehen scheuten, seit die Aufregung einen so aggressiven Charakter angenommen hatte. Ein Diener öffnete. Der Hausflur, in welchen der Geheimrath trat, war noch beleuchtet.

„Wollen Sie mir gefälligst sagen, wie weit der nächste Ort entfernt ist, den die Straße nach X. berührt?’“ fragte der Beamte.

„Zwei Stunden zu gehen, Herr Geheimrath. Es ist die Erlenfuhrt.“

„Lassen Sie sofort einen Wagen anspannen. Es giebt doch ein Wirthshaus in dieser Erlenfuhrt, in dem man sich zwölf Stunden aufhalten kann! wenn es sein muß?“

„Eine Bauernwirthschaft, Herr Geheimrath.“

„Nun gut; so eilen Sie!“

Kurz nachher fuhr der Wagen aus dem Thorweg und rollte der Chaussee zu. Der Geheimrath war schon im Hofe eingestiegen.

Inzwischen hatte sich die johlende, erhitzte Menge dem „Fuchseisen“ zu bewegt. Als das Gros derselben vor dem hohen, dunklen Bau mit den vergitterten Fenstern ankam, stand der Pascha bereits auf der Schwelle der Hausthür; ein paar Mitglieder des „kleinen Rathes“ befanden sich neben ihm. Schnellfüßige Vorläufer hatten den Schließer Marquardt aus dem Schlafe gedonnert, und der alte Mann hatte auf ihr drohendes Gebahren hin und da er die Menge vor dem Hause rasch anschwellen sah, mit wankenden Knieen sich treppauf begeben und die Zelle des Gefangenen geöffnet. Polizei war nirgends zu erblicken.

„Ein Hurrah für Herrn Hornemann!“ Die Straße dröhnte von dem betäubenden Ruf; es klang wie das Rasseln vieler zusammengeschlagener Gewehre. Der Pascha nahm das Käppchen in die Hand und überblickte ernst und mit tiefer Rührung die Scene, welche nur von ein paar Straßenlaternen schwach beleuchtet war.

„Ruhe!“ scholl es. „Er will reden.“

Lautlose Stille lagerte sich über die Menschenmenge, deren Endpunkte sich rechts und links weit in die Straße hinein verloren.

„Ich danke Euch, Bürger, für den Beweis Eures Vertrauens,“ erklang vernehmlich die ein wenig bebende Stimme des Pascha. „Leider kann ich mich eines Zweifels nicht erwehren, ob Ihr mir und Euch einen Gefallen erzeigt habt, indem Ihr meine Befreiung erzwangt. Morgen werden wir die Klingen der Cavallerie und vielleicht auch ein paar Kanonen in der Stadt haben, und man wird Euch und mich für diese Liebesthat büßen lassen.“

„Wir lassen sie nicht herein; wir bauen Barricaden,“ schrie, eine Stimme. Ein unbeschreiblicher Lärm folgte, aus welchem man nur das Wort „Barricaden“ deutlich heraus hören konnte. Die nächste Umgebung des Pascha sprach lebhaft auf denselben ein, während sein Auge noch unentschlossen über die Menge schweifte. Endlich winkte er mit beiden Händen, und der Aufruhr legte sich, bis auch die letzten Stimmen im Gemurmel erstarben.

„So mag es denn sein. Wenn Ihr Muth habt; Eure Leiber den Klingen und Kugeln auszusetzen, um Euch und Eurem Volke die Rechte freier Menschen, die versprochenen und verbrieften, erstreiten zu helfen, wenn Ihr geloben wollt, Euch wie Soldaten zu schlagen, fest auf dem Posten und gehorsam dem Commando, dann werden wir an Eure Spitze treten, so wahr es ist, daß die Besetzung unserer Stadt durch Militär für uns die Ohnmacht, die Unfreiheit, die Verfolgung bedeutet.“

Neuer Lärm und Zuruf. Arme erhoben sich in die Luft, und Mützen wurden geschwenkt. Karl Hornemann stieg die Stufen hinab, und man drängte sich um ihn und drückte ihm die Hände. Ein Enthusiasmus hatte sich der Menge bemächtigt, welcher die Sorge gerechtfertigt erscheinen ließ, ob die Herstellung einer festen Ordnung möglich sein würde. Aber die Organisation, welche man dem Club gegeben hatte, bewährte sich in der Aufgabe, die unklare Mischung zu krystallisiren. Als man auseinander ging, um sich zu bewaffnen, waren die Dispositionen im Allgemeinen zur Genüge getroffen.

Die Nacht war dunkel; feuchte Luft strich mit leisem Wehen durch die Straßen, von welchen der Koth des Thauwetters nicht völlig verschwunden war. Ein paar Männer zwangen dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_371.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2019)