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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


eine Karyatide, die sich am Gemäuer gegen die unentrinnbare Last stemmt, die ihr der Baumeister auf den Nacken geladen. Mit vorgeneigtem Haupte saß er auf dem Lager und starrte zu Boden; dann schauderte er fröstelnd zusammen, denn es war kalt in dem Gemache, und die eiserne Platte, welche als Rückseite des Ofens in die Mauer eingelassen war, hatte ihre Wärme längst ausgeströmt. Auch Wildl war es wie der Eisenplatte ergangen; das Feuer der Verzweiflung, das anfangs in ihm gelodert, war zur Asche herabgebrannt – das Toben war zum stumpfen Brüten und Dulden geworden, in welchem er nur darüber nachsann, wie plötzlich das Verhängniß über ihn gekommen war wie über einen Wanderer, auf welchen eine Schneelahn herabstürzt, die ihn erfaßt, in den Abgrund schleudert und lebendig unter dem Schnee begräbt. Anfangs hatte er gegen Gott und Himmel und gegen den Beamten getobt, der die Untersuchung führte und ihn verhörte; er hatte auf das Bewußtsein seiner Unschuld getrotzt, aber als er immer mehr erkennen mußte, daß er das Gewicht der Verdachtsgründe nicht zu verringern vermochte und durch dieses Benehmen seine Sache nur verschlimmerte, indem er den Verdacht des Richters verstärkte und diesen gegen sich einnahm, verfiel er in's Gegentheil. Er wurde finster, in sich gekehrt und wortkarg und zermarterte sich in Plänen, wie er die Anklage widerlegen könne.

Wenn der Richter ihm seine leidenschaftliche Gemüthsart vorhielt, von der wohl solche That zu erwarten war, so ermüdete er nicht, die kleinsten Dinge aus seinem Leben anzuführen, welche zeigen konnten, daß er wohl leichtsinnig, aber niemals bösartig gewesen; daß sein Auflodern nicht in der Verderbtheit seines Herzens seinen Grund gehabt, sondern in den unerträglichen Reizungen, in den Kränkungen, die ihm gerade an der Stelle widerfahren, welche gleich einer geheimen, schwärenden Wunde am wenigsten die Berührung ertrug. Er erzählte, daß er nur deshalb an den Hof gekommen, um die gefaßten guten Vorsätze auszuführen und sich mit dem Vater zu versöhnen; er meinte, dadurch müsse der Verdacht wegen seiner Anwesenheit am Orte der That vollkommen beseitigt sein. Den Vorhalt des Richters, daß ja der Knopf in der Hand des Ermordeten gefunden worden, daß ein solcher an seiner Joppe fehle und gewaltsam abgerissen worden sei, widerlegte er damit, daß solche Knöpfe zu Hunderten gekauft würden, daß an vielen andern Joppen sich ähnliche befänden, und daß man nur genau an der bezeichneten Stelle, wo er hinuntergestürzt, nachsuchen möge; sein dabei verlorener und abgerissener Knopf müsse gewiß zu finden sein, wenn nur in Laub, Gras und Gesträuch gehörig gesucht würde. Unverdrossen hatte der Richter jedes günstige und ungünstige Anzeichen erfaßt und bis in die kleinsten und fernsten Verzweigungen verfolgt, hatte eine Menge Zeugen abgehört und Nachforschungen aller Art angestellt – es war umsonst, der Verdacht war nicht zu widerlegen, es konnten aber auch keine Gründe zur Ueberweisung aufgebracht werden.

Unter den vorgerufenen Zeugen hatte sich natürlich auch das Mädchen befunden, das als Geliebte des Angeklagten umsomehr betheiligt erschien, als der Argwohn, daß die That nur um ihretwillen geschehen, sich unwillkürlich aufdrängen mußte, und als auch Wildl zu seiner Rechtfertigung sich darauf berief, wie er jeder Zeit sich gegen sie geäußert, wie er über die Feindschaft mit seinem Vater sich ausgesprochen und welche Verabredungen er mit ihr getroffen hatte. Die Ladung war jedoch vergeblich; Engerl war nicht aufzufinden; man wußte nichts von ihr, als daß sie am Tage des Unglücks auf den Himmelmooser-Hof gekommen war, um die Leiche zu sehen, daß sie an derselben bitterlich geweint und die kalte Todtenhand mit Thränen und Küssen bedeckt hatte, dann, daß sie so ergriffen gewesen, daß man sie beinahe besinnungslos hatte hinwegbringen müssen. Von dort war sie zu ihrem Bauern gegangen und hatte ihre Entlassung verlangt; sie könne, sagte sie, nicht mehr im Orte bleiben; sie wolle auswärts sich verdingen, um den Leuten und ihrem Gerede aus dem Wege zu gehen. Der Bauer hatte dies eingesehen und ihrer Entfernung nichts in den Weg gelegt. Wohin sie sich aber gewendet, war nicht zu ermitteln gewesen, und auf die Schreiben, die ihr vom Gerichte nachgesendet wurden, war eine Antwort noch nicht eingetroffen.

Nach damaligem Rechtsgange waren daher die Acten schon lange geschlossen und an das Obergericht eingesendet worden, welchem die Aburtheilung zustand.

Endlich war es draußen voller Tag geworden, aber Wildl wurde dessen kaum gewahr. Er war in einen Zustand wachen Träumens verfallen, in welchem er vor sich hinsah, als säße er nicht im Gefängniß, sondern draußen am grünen Heckenrain, bei der runden Capelle und Engerl neben ihm; als wäre nichts so Erschreckliches vorgefallen, reichte ihm Engerl die Hand und war guter Dinge und brachte ihm Botschaft, daß der Vater ausgesöhnt sei und nur auf sein Erscheinen warte, um sich auch mit ihm zu vertragen und ihrer Beiden Hände in einander zu legen. Wie ein plötzlich Erwachender fuhr er sich an die Stirn und sprang auf, als draußen die Riegel rasselten und bald darauf der Schlüssel im Schlosse gedreht wurde. Die Thür ging auf, und der dicke Gerichtsdiener, der zugleich das Amt des Schließers im Gefängnisse versah, stand mit der ausgelöschten Laterne in der Hand, mit dem Schlüsselbunde am Gürtel und neben sich seinen Fanghund auf der Schwelle, der lauernd und schnüffelnd durch die Spalte sah.

„So kommt Er doch noch zu mir!“ rief Wildl ihm entgegen. „Ich habe schon geglaubt, Er hat mich ganz vergessen, weil sich in dem Ofen nichts rührt, oder Er will mich erfrieren lassen, damit man mich auf die kürzeste Manier los wird.“

„Nicht raisonniren, Bursche!“ unterbrach ihn der Gerichtsdiener. „Ich weiß schon, was ich zu thun habe. Uebrigens wird heute gar nicht mehr eingeheizt in Seinem Ofen.“

„Nicht mehr? Warum denn?“ fragte der Gefangene. „Komm’ ich in eine andre Zelle?“

„Das wird Er schon erfahren, wenn Er jetzt hinunterkommt in's Verhörzimmer. Der Assessor wird Ihm schon sagen, wohin Er kommt. Ich weiß nur so viel: Sein Urtheil ist da.“

Wildl hatte sich bei dem Worte „Urtheil“ rasch erhoben; er fuhr wie erschrocken zusammen und stammelte dasselbe wiederholt mit bebenden Lippen nach: „Mein Urtheil!?“ sagte er. „Was das für ein dummes Wort ist! Ich habe ein gutes Gewissen und weiß, wie das Urtheil lauten muß, und doch bin ich beinahe erschrocken.“

„Das wird schon von dem ‚guten Gewissen‘ kommen,“ entgegnete spöttisch der Diener und stieß mit dem Fuße den Hund zurück, der, als Wildl auf seinen Wink die Schmecke überschritten hatte, sich wedelnd an diesen wendete und nicht übel gelaunt schien, ihm die Hand zu lecken.

„Was hat Ihm denn der Hund gethan, daß Er ihn so stößt?“ rief Wildl. „Vergönnt Er mir wohl nicht einmal, daß mich ein Hund anschaut? Komm her, Tiras,“ fuhr er fort und kraulte dem Thiere den breiten Kopf, den es zutraulich an ihn schmiegte. „Ich laß Dir nichts thun.“

Der Gerichtsdiener mochte sich den beiden Befreundeten gegenüber nicht stark genug fühlen – er blieb zurück und ließ den Arrestanten vor sich hergehen, der den Weg zum Verhörzimmer bereits nur zu wohl kannte.

Der Assessor, der die Untersuchung führte, war ein älterer Mann, dessen grauer Schnurr- und Knebelbart sammt Lodenjoppe vermuthen ließ, daß ihm die Jägerei mehr Vergnügen gewährte, als sein Amt. Er ließ den Inquisiten niedersitzen und schritt ein paar Mal an ihm vorüber, als müsse er sich auf das, was er zu sagen habe, erst besinnen. Er dachte nach, ob nicht eine List zu finden sei, den Angeschuldigten durch eine unvermuthete Frage zu verblüffen und von seinem hartnäckigen Leugnen abzubringen. Er liebte derlei Kunstgriffe und rühmte sich gern ihres Erfolges, indem er sich den Schnurrbart zu streichen und zu sagen pflegte: Ein tüchtiger Untersuchungsrichter müsse auch ein guter Jäger sein; er müsse dem Spitzbuben auf die Fährte kommen und ihn aus seinem Versteck herausbringen, wie einen Fuchs aus dem Bau.

„Euer Urtheil ist vom Appellationsgericht gekommen,“ sagte er dann nach einiger Zeit, indem er Wildl fest in’s Auge blickte, wie ein Schütze, der das Absehen und das Ziel auf seinem Stutzen zusammennimmt. „Wie meint Ihr wohl, daß es lautet?“

„Wie anders, als daß ich unschuldig bin?“ entgegnete Wildl mit hastiger Freude.

„Wenn es aber nicht so wäre?“ fuhr der Beamte fort und zielte mit seinen scharfen Augen noch schärfer auf sein Wild.

„Es muß ja so sein,“ rief Wildl, sich erhebend. „Und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_449.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)