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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Etwa um diese Zeit machte ich durch einen Zufall die Bekanntschaft des spanischen Gesandten, welcher mir viele Sympathie zeigte und mich und, da Henry und ich unzertrennlich waren, auch ihn in seinen engeren Kreis zog. Er war seit drei Jahren in Brüssel und vordem lange Jahre Gesandter in Schweden gewesen. Bei ihm lernten wir einen Cubaner kennen, einen Mann von großem Wissen und feiner Weltbildung. Sein Alter zu errathen war kaum möglich, da sein braunes Gesicht von Blatternarben ganz zerrissen war und die vielleicht ursprünglich schönen Züge eine entsetzliche Zusammenziehung erlitten hatten. Dieser Mann war mir nicht angenehm, Henry hingegen fühlte sich zu ihm hingezogen. Er lobte sein reiches Wissen, seinen glänzenden Witz und die Courtoisie seines Benehmens. Ich mußte dies Alles zugeben, allein ich konnte mich von dem Gefühle eines Unbehagens ihm gegenüber nicht frei machen. Was war es denn, das mich von diesem Manne abstieß? Vielleicht der durchdringende, zu sehr beharrende Blick seines tiefliegenden Auges, das dunkel und klar wie ein Kaffeetropfen war? Vielleicht die etwas stolze Art, mit welcher er sich im Gespräche gleichsam in die Mitte stellte, wie die Geisterbeschwörer thun, damit sich kein Atom ihrer Kraft über den gezogenen Kreis hinaus verliere?

Ich beschäftigte mich in meiner Jugend mit der Baukunst. Vialez, der Cubaner, bewohnte ein kleines Haus, in welchem er einige Veränderungen vorzunehmen wünschte; er hatte sich entschlossen, Brüssel für mehrere Jahre, wenn nicht für immer, zu bewohnen. Ich konnte seine Bitte, das Haus anzusehen und ihm meine Ansicht über seinen Plan zu sagen, nicht ausschlagen. Es ist unnöthig, daß ich von diesem Plane spreche. Nachdem er mich in die auf der Rückseite des Hauses liegenden Zimmer geführt, sagte er, ein Fenster öffnend: „Diese Zimmer sind die angenehmsten; sie haben die Aussicht auf ein sehr altes, interessantes Haus und,“ fügte er lächelnd hinzu, „auf eine allerliebste kleine Blondine, welche Spitzen klöppelt und hinter dem Rücken ihrer Mutter Grimassen schneidet.“

Ich blickte hinüber: es war das Haus, welches Madame Venloo bewohnte. Diese Entdeckung war mir unangenehm. Warum? Wer erklärt die Kräfte, welche in der menschlichen Seele liegen? Wer erklärt, was es ist, wenn plötzlich, wie ein Blitz, das Gefühl einer Gefahr in uns ersteht, ohne Anhaltspunkt, ohne Grübelei, ohne Vorbedacht, aber sicher und unabweisbar und nie umsonst?

„Kannten Sie dieses Haus schon?“ frug Vialez und zeigte hinüber.

„Ja wohl! Welcher Architekt in Brüssel sollte es nicht kennen? Es ist eine Studie, eine köstliche Studie!“

„Ich habe einen jungen Menschen bei mir, der weniger als mein Freund und mehr als mein Diener ist; ihm habe ich diese Zimmer überlassen. Er ist entschlossen, die Blondine zu erobern und hat schon eine Zeichen-Correspondenz mit ihr angefangen,“ sagte Vialez lachend.

Da ich von Caspar Raick’s Ehrenhaftigkeit überzeugt war, theilte ich ihm noch denselben Tag mit, was Vialez mir gesagt. Er hörte mich ruhig an und sagte dann, mir die Hand drückend: „Ich bin ein unglücklicher Mann und könnte doch so glücklich sein. Wenn Sie wüßten, welche Sorgen Marion mir macht! Sagen Sie Madame Venloo nichts! Sie macht sich schon genug Sorgen um das Mädchen. Denise ist so schwach. Marion kann keinen Respect vor ihr haben, und für mich hat sie wenig Zuneigung; sie kennt mich ja erst seit einem Jahre. Ich frage mich oft, ob ich recht that, als ich nach Spanien ging, ein ein kleines Vermögen für sie zu sammeln. Sie hat auch keine Zuneigung für Madame Venloo, und dies ist mein größter Kummer.“




Madame Venloo hatte den Wunsch geäußert, einmal einige Stunden der Nacht im Freien mit einem guten Fernglase zuzubringen.

So fuhren wir eines Abends mit ihr und Caspar durch das Wäldchen von Boustré gegen Salaert hinaus. Die Nacht kam herab; im Westen zog sich über der schwarzen Linie des Wäldchens ein dunkel verglühender Purpurstreifen hin, den eine orangenfarbige Wolkenschicht von dem grünblauen Himmel trennte, in welchem schon einzelne Sterne flimmerten. Es hatte gegen Abend ein wenig geregnet; die Erde hauchte noch den köstlichen Duft des durchfeuchteten Staubes aus; im Grase glomm da und dort das phosphorische Licht des Johanniswürmchens. Die Vögel schliefen; die Stille war so wunderbar, daß das Geräusch unserer Wagenräder wie ein häßlicher, abscheulicher Mißton in unser Ohr drang. Wir fuhren etwa eine halbe Stunde über das Dorf Salaert hinaus und stellten die kleinen Feldstühle, welche wir mitgenommen, sowie den Fuß des Fernglases am Rande einer Wiese auf. Wir hatten einen weiten Himmel über uns, und er hatte jetzt seine strahlenden Räthsel alle aufgedeckt. Madame Venloo interessirte sich nicht für den Mond. „Ich habe ihn als Kind so sehr gefürchtet, daß mir eine Art Abneigung gegen ihn geblieben ist; zeigen Sie mir Saturn und Jupiter und die fernen Sonnen!“ sagte sie zu Henry. Ich bemerkte in ihren Zügen etwas, das ich nicht durch Worte bezeichnen kann; es war etwas, das zu sagen schien: Warum kämpfe ich gegen mein Herz? Ich will nicht mehr kämpfen; die Sterne, die Unendlichkeit rufen mir zu: liebe!

Henry war wie entzündet. Er richtete das Fernglas, führte Madame Venloo hinzu und nahm, wenn sie den Stern nicht fand, ihr Haupt in beide Hände und rückte es sanft, bis ihr Auge auf den Stern traf und sie ein mehrfaches „Oh!“ der Bewunderung ausrief. Dann erklärte er ihr, was man damals von jenen Sternen wußte, und seine Stimme zitterte vor Glück. Seine Rede ward eine Flamme – er hielt immer den feinen Kopf in seinen Händen, und Charlotte Venloo schien diese Gefangenschaft nicht hart zu finden. Ich glaube heute noch, daß sie weit öfter die Augen schloß und sich dem magnetischen Einflüsse von Henry’s Händen hingab, als die Sterne betrachtete.

Wie sie vom Fernglase wegging, beide Hände auf die Brust gedrückt, und ich sagte „Sie sind bewegt?“ da ward sie roth, als stünde sie unter Arkturus’ Flammen, und sagte stammelnd:

„Wie könnte der, welcher eine Seele hat, bei einem solchen Anblicke unbewegt bleiben! Blicken Sie durch das Fernglas und sehen Sie da, wo Sie mit freiem Auge einen Stern sahen, Hunderte, Tausende von Sternen, und zittern Sie nicht, wenn Sie’s vermögen!“

Später sagte sie zu Henry: „Wie stark sind Sie, daß Sie im Umgange mit den Sternen noch die Erbärmlichkeiten unserer Existenz, unserer Gewohnheiten ertragen! Daß Sie noch essen können, ohne sich ein Gräuel zu sein, daß Sie noch Frack und Handschuhe anziehen und bei Hofe Ihre Aufwartung machen können und – und die Soldaten exerciren sehen, ohne vor Lachen umzusinken!“

„Hat die Erde nicht auch ihre Poesie? Hat sie nicht die Musik und – die Liebe?“ fragte Henry.

Charlotte Venloo fand für gut, auf diese Frage nicht zu antworten. Sie setzte sich auf ein Feldstühlchen und ihre Augen schienen nach innen zu blicken.

Caspar Raick, welcher inzwischen auch durch das Fernglas geschaut hatte, faltete seine Hände und sagte mit trauriger Demuth:

„O Gott, wie viel größer bist Du, als ich in meiner Einfältigkeit glaubte!“

Henry hatte seine Geige mitgenommen; er holte sie aus dem Wagen, und nun ertönten ihre Klänge durch die Stille der Nacht wie eine Hymne an die Sterne und – an die Liebe. O Musik, welche Sprache könnte dir verglichen werden, du allerreinster, allersüßester, allermächtigster Ruf der eingekerkerten Seele!

Wir lauschten der Geige in stiller Ekstase; die Geige gab uns Thränen und gab uns Flügel. Henry stand vor uns wie ein höheres Wesen, und die Sterne über uns flimmerten und zuckten mit himmlischem Feuer.

Plötzlich weckten uns Schritte. Henry’s Bogen glitt mit einem schrillen Laute über die Saiten herab; ich blickte um mich: zwei Männer schritten zur Wiese her, und der Eine von ihnen sagte mit einer Stimme, die mir bekannt schien:

„Lassen Sie sich nicht stören! Bitte, erlauben Sie, daß wir zuhören!“

Charlotte Venloo, welche neben mir saß, stand auf, that zwei schwankende Schritte gegen Henry, streckte die Hände aus – und sank zur Erde.

Wir hoben sie auf. Sie war ohne Bewegung, ohne Bewußtsein.

„Mein Gott! Es war zu viel Erregung für sie,“ stammelte Henry.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_532.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)