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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


ein angeborenes Talent oder große Uebung voraussetzt, und die beim Geiger z. B. allein schon eine Kunst ausmacht. Ueberdies hat das Clavier auch die angenehme Eigenheit, durch leicht zu bewirkenden harmonischen Wohlklang über das eigentliche Können des Spielers zu täuschen, natürlich zum Vortheile des Letzteren.

Bei solchen Vorzügen des Instrumentes fallen die ersten Fortschritte in der Behandlung desselben nicht schwer. Mit ein wenig Verstand, der dazu gehört, um die Kenntniß der Notenschrift zu ermöglichen, und einiger Geschicklichkeit der Hand lernt der Schüler bald sein „Stückchen“ spielen. Aus den Stückchen werden mit der Zeit „Stücke“ von vielklingendem Namen und nicht ohne eine gewisse elementare Klangwirkung – und damit ist erreicht, was die Mode beansprucht, ein angenehmer Zeitvertreib, der zugleich den kleinen Vortheil bietet, sich in gesellschaftlichen Kreisen Eingang und ein besonderes Ansehen zu verschaffen. Der größere Theil aller Clavierspieler kommt über diese niedere Region der „Salonmusik“ nicht hinaus. Wie viele lernen ein Mendelssohn’sches Lied ohne Worte gut spielen? Wie viele erreichen Beethoven? Von Schumann, Chopin, Liszt etc. gar nicht zu reden. Aber das ist nicht das Beklagenswertheste an der gegenwärtigen musikalischen Erziehung der Jugend, daß speciell in der Kunst des Clavierspiels, der doch so viel Zeit gewidmet wird, so wenig erreicht wird. Sofern jene Leute nicht öffentlich spielen (Spielen bei offenen Fenstern ist ein gelinder Grad von Oeffentlichkeit), ist ihr Können oder Nichtkönnen ihre Sache. Aber das wird man mit Recht beklagen dürfen, daß sie nicht musikalischer dabei geworden sind. Denn eben dieselben Leute gehen in’s Concerthaus und in die Oper und fühlen sich berufen, über eine Kunst zu urtheilen, von deren innerstem Wesen sie kaum eine Ahnung haben. Und die Halbgebildeten werden auch hier die schlimmsten Richter sein.

Ich habe nichts gegen das Clavierspiel überhaupt einzuwenden. Soll dasselbe aber Grundlage einer allgemeinen musikalischen Bildung werden, so ist zu wünschen, daß der Clavierunterricht weniger einseitig mechanische Zwecke verfolge, als es im Allgemeinen noch der Fall ist. Wollte man sich erst daran gewöhnen, den Clavierunterricht mehr als Mittel zum Zweck (einer auf das ganze Gebiet der Tonkunst gerichteten musikalischen Beurtheilungs- und Auffassungskraft), denn als Selbstzweck zu betrachten, man würde gar bald erkennen, wie wenig der zu lösenden Aufgabe mit einer wenn auch noch so vollkommenen Ausbildung der Hand gedient ist, wenn etwas viel Wichtigeres darüber vergessen wird, das Ohr. Ich weiß nicht, ob man die Pflege des Gehörs für überflüssig hält, oder ob man glaubt, sie dem Zufalle überlassen zu können, Thatsache ist, daß für die Pflege des Gehörs beim Clavierunterrichte wenig oder gar nichts geschieht. An diesem Uebelstande werden einige neuerdings erschienene Unterrichtswerke, die der Pflege des Gehörs wenigstens die ihr gebührende Beachtung schenken, vor der Hand nichts ändern. Denn es ist bekannt, wie schwer sich ein neues Lehrverfahren Bahn bricht, wenn es nur den Vorzug hat, gründlicher zu sein, nicht aber leichter. Vielleicht daß es der „Gartenlaube“ gelingt, die Nachfrage nach einem eine mehr allgemein musikalische Ausbildung bezweckenden Clavierunterricht zu steigern.

Bekanntlich hat der musikalische Ton dreierlei Eigenschaften: er ist von bestimmter Höhe, Dauer und Stärke. Die Fähigkeit, einen Ton nach diesen drei Beziehungen hin richtig auffassen resp. wiedergeben zu können, ist die erste Bedingung für jeden auf das Allgemeine gerichteten musikalischen Bildungsversuch. Manchem Menschen ist dieselbe wie angeboren, anderen fehlt sie entweder ganz oder doch theilweise. Nicht immer findet sich nämlich der Sinn für alle drei Eigenschaften des Tones in gleichem Maße ausgeprägt. Am allgemeinsten empfunden wird wohl der Unterschied von stark und schwach, denn dazu gehört nicht mehr als ein überhaupt gesundes Gehör. Feinere dynamische Schattirungen werden dem ungeübten Ohre freilich auch unzugänglich bleiben. Schwieriger schon ist es, der den Tönen in Folge ihrer verschiedenen Dauer eigenthümlichen rhythmischen Bewegung zu folgen. Mehr als die äußeren Umrisse derselben, den Tact, das ist die regelmäßig wiederkehrende Betonung, wird der Uneingeweihte in dieser Beziehung kaum empfinden. Dieses sogenannte Tactgefühl, welches sich bei dem Musikhörenden durch entsprechendes Wiegen mit dem Kopfe oder Treten mit dem Fuße (nebenbei gesagt: eine üble Angewohnheit) bemerklich macht, findet auch außerhalb der musikalischen Kunst Uebung und Anwendung, z. B. beim Tanzen und bei verschiedenen mechanischen Beschäftigungen, als dem Schmieden, Dreschen etc., und ist weit mehr Sache des Gefühls, als des Gehörs.

Eine speciell musikalische Gabe aber ist das Unterscheidungsvermögen für die dritte Eigenschaft des Tones, für Höhe und Tiefe oder für das melodische Element der Musik. Sie wird lediglich durch das Gehör bewirkt und auch in der Regel schlechthin als „musikalisches Gehör“ bezeichnet. Was uns das „musikalische Gehör“ von einem Tonstücke vermittelt, das ist das Wichtigste, das Tonmaterial. Dem gegenüber sind die durch den Rhythmus und die dynamischen Schattirungen bewirkten Modificationen so untergeordneter Natur, daß sie von Vielen kaum als etwas Besonderes, sondern mit jenem zugleich empfunden werden. Kein Wunder, daß man „musikalisches Gehör haben“ und „Anlagen zur Musik besitzen“ so ziemlich für eins hält.

Es bedarf wohl kaum eines Beweises, daß der Mensch auch in Rücksicht auf seine musikalischen Anlagen bildungsfähig ist. Zwar wird das „musikalische Gehör“ (im engeren Sinne) fast allgemein für angeboren gehalten. Indeß dürfte der Beweis des Angeborenseins schwer zu führen sein. Der eben ankommende Weltbürger hat in der Regel Wichtigeres zu thun, als sich musikalischen Untersuchungen zu unterwerfen. Später angestellte Versuche aber sind unzuverlässig, denn inzwischen können Mutter und Geschwister längst angefangen haben, den Kleinen mittelst ihrer Wiegenlieder musikalisch zu bearbeiten. Oder glaubt man etwa, daß das nicht möglich sei? Es wäre doch wunderbar, wenn das Kind, das für alle anderen Einflüsse um sich her empfänglich ist, gerade für die musikalischen unzugänglich wäre. So wenig ich daher auch dem Schriftwort von den „mancherlei Gaben und Kräften“, die uns angeboren sein sollen, zu nahe treten möchte, so glaube ich doch, daß sich der bei Beginn des Unterrichtes zuweilen schon vorhandene musikalische Fonds der Kinder in den meisten Fällen auf eine frühzeitige musikalische Beeinflussung derselben zurückführen läßt.

Fragen wir nun, inwiefern der Clavierunterricht geeignet ist, die musikalischen Anlagen des Schülers zu bilden, so ist zu sagen, daß dieselben nach Seite des als relativ nebensächlich erkannten dynamischen und rhythmischen Gefühls jedenfalls in hervorragender Weise gepflegt werden, daß aber gerade das Wichtigste, das „musikalische Gehör“, sich selbst überlassen bleibt. Denn indem das Clavier die Bildung des Tones in Bezug auf Tonhöhe selbst übernimmt, entzieht es dem Spieler nach dieser Seite hin alle Uebung. Der Clavierspieler muß wissen, wie eine Terz oder Quarte gegriffen wird, aber er braucht nicht zu wissen, wie sie klingt – wenn er nicht will, denn das Klingen besorgt ja das Instrument.

Gerade der Unfähige wird aber am wenigsten wollen, denn wofür man keine innere Neigung besitzt, dafür pflegt man sich auch nicht zu interessiren, am allerwenigsten aber zu bemühen. Die Folge davon kann nur die sein, daß der von Hause aus unbegabte Schüler in Bezug auf das melodische Element der Töne ohne alle Auffassungskraft bleibt. Dieser Mangel wird sich beim Clavierunterrichte dadurch fühlbar machen, daß der Schüler die gröbsten Fehlgriffe nicht hört und nicht das Geringste behalten, folglich auch nie etwas auswendig spielen kann, eine Fähigkeit, die bis zu einem gewissen Grade zu jeder guten musikalischen Leistung gehört. Daß aber ein Clavierspieler ohne „musikalisches Gehör“ mit seiner ganzen Musikmacherei vollständig isolirt und jeder anderen musikalischen Bethätigung gegenüber gerade so gut ein Fremder bleibt wie der Laie, das ist die schlimmste Erfahrung, die er an sich selbst machen muß. Denn dadurch entgeht ihm auch zugleich jeder Anspruch auf musikalische Bildung. Wenn ein solcher Mensch ehrlich sein will, so wird er gestehen müssen, daß er nicht zu unterscheiden vermag, ob Jemand in dur oder in moll spielt, folglich auch nicht, ob er rein oder nicht rein gespielt hat. Wie kann aber Jemand, der das Wesen der Harmonie noch gar nicht erkannt hat, reden wollen von einem besonderen Genusse, der ihm aus der künstlerischen Anwendung derselben erwächst?

Darum aber sollte jeder Clavierlehrer als seine erste und nächste Sorge die betrachten, das Gehör seines Schülers zu bilden. Daß auch der wenigst begabte Mensch in dieser Beziehung bildungsfähig ist, das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_678.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)