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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Frau von der Wehr gewann ihre Fassung wieder. „Das Haus ist Ihnen bekannt?“ fragte sie den Architekten.

„Gewiß,“ antwortete derselbe, „es müßte denn ein zweites ihm völlig ähnliches geben. Mein Onkel wohnt seit vielen Jahren darin.“

„Ihr Onkel?“

„Der Maler Max Werner.“

„Er ist –?“

„Mein Onkel. Aber was ist daran so verwundernswerth oder erschreckend? Ich bemerke, daß die Damen …“

Irmgard wendete sich rasch ab, als wollte sie sich nicht in’s Gesicht sehen lassen. Sie legte die Hand auf’s Herz und schien schwer und beklommen zu athmen. Ihre Mutter saß eine Weile vorgebeugt und die Augen auf den jungen Mann geheftet, der sich nun erst als der Neffe des Malers zu erkennen gab, den er immer nur mit seinem Vornamen genannt hatte. Es war eine sehr peinliche Minute. „Sie scheinen meinen Onkel zu kennen,“ sagte Harder, um sie abzukürzen, „und die Bewegung, in der ich Sie sehe, verräth mir, daß Sie einigen Antheil an seiner Person nehmen.“

„Er war einmal mein Lehrer,“ antwortete Frau von der Wehr, sich zur Ruhe zwingend, „und wir begegneten ihm letzten Sommer in der Schweiz. Die Zeichnung, die Irmgard aufbewahrt hat, erinnert uns an einen Besuch, den wir – seinem einsamen Hause machten.“

„Sie waren also die beiden Damen,“ rief Harder, „von denen die alte Ursel so geheimnißvoll sprach? Ihre Andeutungen blieben mir unverständlich; so viel nur ging für mich daraus hervor, daß das Zusammentreffen mit denselben ihren sonderbaren Herrn in ganz ungewöhnliche Aufregung versetzt hätte und gewisse Veränderungen in der häuslichen Einrichtung auf sie zurückzuführen seien.“

Frau von der Wehr ließ die Augenlider tief hinabsinken, um nicht zu verrathen, was in ihr vorging. „Sie sahen also Ihren Onkel – nach uns?“ sagte sie. „O, bitte – theilen Sie mir etwas von ihm mit. Wie fanden Sie ihn?“

„Ich besuchte ihn im Spätherbst,“ erzählte der Architekt, „als ich von Paris zurückkam, um ihm für die großen Wohltaten zu danken, die er mir von Kindheit an erwiesen, und ihm zu sagen, daß ich seiner Unterstützung nun nicht weiter bedürfen würde. Er war damals in seinem einsamen Hause auf der Höhe schon tief eingeschneit und nur mit einiger Beschwerde zu erreichen. Seine Existenz schien mir sehr kümmerlich, wenn schon die alte Frau in ihrer Art mütterlich für ihn sorgte. Er bewies aber auch gegen alles, was seine Leiblichkeit anging, die allergrößte Gleichgültigkeit. Ich hatte ihn mehrere Jahre nicht gesehen und fand ihn sehr verändert. Damals war er schwermüthig und mied den Umgang mit Menschen, aber in seinem Urtheile über sie zeigte er sich milde, und die Kunst war ihm eine erheiternde Genossin; nun hatte sein Wesen etwas Finsteres und Verschlossenes, und seine Bemerkungen klangen oft sarkastisch. So meinte er, als ich mich darüber verwunderte, daß in einem seiner Zimmer ein gedeckter Tisch stand, dem nur die Speisen fehlten –“

Frau von der Wehr zuckte mit den Augenwimpern und den Spitzen der Finger. Er bemerkte es und pausirte. „Fahren Sie nur fort!“ bat sie.

„Er meinte lachend, es sei gut, sich immer die gedeckte Tafel vor Augen zu halten, an die man sich nicht setzen dürfe. Und dann sprach er das bekannte: ‚Zwischen Lipp’ und Kelchesrand –‘ mit schwermütigstem Ausdruck wie etwas Selbsterlebtes. Er hat viel Trauriges im Leben erfahren – davon bin ich fest überzeugt. Gesprochen freilich hat er zu mir nie davon. Ich denke mir, daß eine unglückliche Jugendliebe sein Dasein früh verstört haben muß. Was hätte er der Kunst leisten können, wenn seinem Leben wärmerer Sonnenschein zu Theil geworden wäre! Er hat von früh auf gegen widrige Verhältnisse ankämpfen müssen. Auf dem Platze, den ihm die Natur anwies, wäre er ein Bauer geworden; seine Eltern bestimmten ihn zum Stubenmaler. Er arbeitete sich durch zur freien Kunst, und was er in besserer Zeit geleistet hat, ist mehr als achtenswerth. Aber ihm fehlte die Liebe, und so ist er verkümmert.“

„Er malt doch noch?“ fragte sie bestürzt.

„Wenig. In seinem Atelier fand ich am ersten Fenster vor einem kleinen Sopha, das früher dort fehlte, eine verhangene Staffelei. Unbefangen hob ich die Decke und sah darunter ein reizendes Bild, das ein Touristenabenteuer im Gebirge darstellte. Sobald er meine Voreiligkeit bemerkte, trat er hinzu und riß mir das Tuch aus der Hand. Das werde Niemand mehr mit den zwei Augen sehen, sagte er, die zuletzt darauf geblickt hätten; es sollte verhüllt bleiben, bis man es einmal zu Häupten seines Sarges aufstelle. Er litt auch wunderlicher Weise nicht, daß sich Jemand auf das Sopha setzte. Er selbst malte jetzt am zweiten Fenster – die lächerlichsten Caricaturen.“

„O mein Gott!“ rief Frau von der Wehr mit einem schmerzlichen Seufzer aus gepreßter Brust, und Irmgard’s Hand zitterte auf der Stuhllehne.

„Ich blieb eine Woche lang bei ihm,“ fuhr der Architekt fort, „fürchtete aber ihn länger lästig zu fallen. Ich hörte von der Alten, daß er den größten Theil des Tages – öfters auch halbe Nächte – auf dem See zubringe. Er hätte ein Boot gekauft, sagte sie, einen Fährmann brauchte er nicht. Sturm und Regen hielten ihn nicht am Lande zurück; es sei zu verwundern, meinten die Leute unten, daß er nicht längst seine Waghalsigkeit mit dem Leben gebüßt habe. Ich machte ihm freundliche Vorstellungen, aber er meinte lachend, es lohne den finsteren Gewalten gar nicht, ein so schwaches Gefäß, wie ihn, zu verderben. Und übrigens fahre immer der gute Geist einer glücklichen Stunde seines Lebens mit ihm und lasse nicht zu, daß ihm ein Leid geschehe. Was könne ihm auch der Tod –“

Die unglückliche Frau vermochte sich nicht länger zu beherrschen. Sie schluchzte laut auf, hielt das Tuch vor die Augen und entfernte sich mit schwankenden Schritten aus dem Zelte. Harder, bestürzt über den Eindruck seiner Erzählung, erhob sich rasch, um sie nach dem Hause zu führen, aber sie winkte ihm mit der Hand zu bleiben.

„Mein Himmel!“ rief er, „was habe ich gethan? Irmgard – was ist’s mit Ihrer Mutter? Was hat das zu bedeuten?“

Das arme Mädchen war ganz verwirrt und todtenbleich.

„Sie können ja nichts dafür,“ stammelte sie, „nicht daß Sie sein Neffe sind, nicht daß meine Mutter … o, daß diese unselige Zeichnung … daß Sie von ihm sprechen mußten –!“

„Aber wie konnte ich ahnen? Und noch jetzt weiß ich nicht – – Irmgard, was ist geschehen? Vertrauen Sie mir Alles!“

„Nein, nein, nein!“ wehrte sie heftig ab. „Ihnen am wenigsten – Sie würden mich hassen.“

„Irmgard –!“

„Nein, es ist unsagbar – ich kann’s nicht sagen.“

Er drang noch weiter in sie, aber sie schüttelte nur immer den Kopf und wiederholte: „es ist unsagbar.“

Sie schieden diesmal ganz anders als sonst. – –

Und auch am nächsten und am dritten Tage wollte die Spannung nicht nachlassen; sie verstärkte sich eher noch, je mehr vergebliche Versuche Harder machte, die Damen heiterer zu stimmen. Frau von der Wehr war von einer Unruhe gepeinigt, die sich nothwendig auch ihrer Umgebung mitteilen mußte. Irmgard beobachtete sie ängstlich, ging ihr auf Schritt und Tritt nach und wandte ihr alle Sorge einer zärtlichen Krankenpflegerin zu. Dagegen wich sie Harder aus, vermied es, auch nur auf Minuten mit ihm allein zu sein. Es war, als ob sie ihn jetzt fürchtete. Er suchte sie hinauszulocken, indem er an den Zauberwald erinnerte, den sie zusammen noch immer nicht entdeckt hätten, aber sie achtete kaum darauf. Er schlug Abends eine Kahnfahrt auf dem Mühlenteiche vor, aber sie lehnte ihre Begleitung in fast schroffer Weise ab. Harder war von Natur nicht der Geduldigste; wäre seine Neigung nicht schon so stark gewesen, er hätte sehr bald seine Pläne eingepackt und die Rückreise angetreten.

Nun konnte er sich doch nicht entschließen, Abschied zu nehmen. Er war sich bewußt, von seiner Seite bei diesem auffallenden Bruche der Freundschaft nichts verschuldet zu haben. Daß eine nahe Beziehung zwischen Frau von der Wehr und seinem Onkel bestand oder bestanden hatte, daß vor einem Jahre eine Annäherung stattfand, die Hoffnungen erweckte, und daß dann eine empfindliche Störung irgend welcher Art dazwischengetreten war, reimte er sich aus den Andeutungen dort und hier wohl zusammen, aber warum behandelte man ihn nun plötzlich wie einen Fremden, da er ihnen doch als ein Verwandter Max Werner’s näher getreten sein sollte? Denn daß Frau von der Wehr nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_093.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)