Seite:Die Gartenlaube (1878) 152.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

der Denkwürdigkeiten des Generals von Brandt (Juniheft der „Deutschen Rundschau“ vom vorigen Jahre), „mit mehr Talent und Mäßigung sprechen hören, als Bucher bei dieser Gelegenheit“ – den Berathungen der Commission, welche die sogenannte Habeas-Corpus-Acte, Waldeck’s Lieblingskind, zu begutachten hatte. „Sein blondes Haar, seine leidenschaftslose Haltung erinnerten mich lebhaft an Bilder, die ich von Saint Just gesehen. Bucher war ein rücksichtsloser Nivellirer alles Bestehenden, aller Stände und aller Vermögen, eines der consequentesten Mitglieder der Nationalversammlung und zu jedem Schritte entschlossen, welcher seinem Ziele: Tugend in den Principien und Bruderliebe in den Einrichtungen, entgegenzuführen schien. Ohne Kenntniß der Gesellschaft, sterilen, juridischen Abstractionen hingegeben, war er der vollkommensten Ueberzeugung, daß das Heil der Welt nur aus einer plötzlichen, energischen und kraftvollen Zertrümmerung des Bestehenden hervorgehen könne. Er half den öffentlichen Widerstand organisiren und verbreitete vorzugsweise den Gedanken dafür – es war besonders sein Gedanke – die ehrgeizige und turbulente Fraction in der Nationalversammlung zur Ergreifung einer Dictatur zu stacheln. Die ironische Geringschätzung, mit der er die bestehende Gewalt behandelte, mit der er offen seinen Haß gegen die alte Staatsverfassung darthat, und sein Dogma von der Souveränität des Volkes, durch dessen radicale Chimären er dieses selbst berauschte und zugleich seine Fähigkeiten für die Rolle eines Demagogen entwickelte, würden ihn bei einer längeren Dauer alle seine Anhänger in seinen streng logischen Bestrebungen haben überflügeln lassen.“

Im Abgeordnetenhause war Bucher für das Zustandekommen organisatorischer Gesetze in hervorragender Weise thätig, und unter Anderem war er Referent über den in dieser Zeit in Berlin herrschenden Belagerungszustand, dessen Ungesetzlichkeit nachzuweisen ihm nicht schwer fiel. Die Folge der hierdurch veranlaßten Verhandlung war die Auflösung des Abgeordnetenhauses, der am 4. Februar 1850 der sogenannte Steuerverweigerungsproceß folgte, welcher erst am 21. seinen Abschluß fand. Das Ministerium Brandenburg-Manteuffel hatte gegen einige vierzig Mitglieder der Nationalversammlung, die den am 15. November gefaßten Beschluß, daß die Regierung nicht berechtigt sei, über Staatsgelder zu verfügen und Steuern zu erheben, so lange die Nationalversammlung nicht ungestört ihre Berathungen in Berlin fortsetzen könne, sowie eine Proklamation vom 18. November, welche diesem Beschlusse im Lande Folge zu schaffen bestimmt war, verbreitet hatten, die Anklage wegen versuchten Aufruhrs erheben lassen. Der Proceß war ein Stück Cabinetsjustiz. Daß das Criminalgericht in Berlin nicht competent, war so sonnenklar, daß der Vorsitzende sich nicht anders zu helfen wußte, als damit, daß er den Angeklagten und ihren Verteidigern das Plaidiren über die Competenz verbot. Die besondere Verhaßtheit Bucher’s in den oberen Sphären, die bei diesem Processe zu Tage trat, hatte wohl in seinem obenerwähnten Referate über die Ungesetzlichkeit des über Berlin verhängten Belagerungszustandes ihren Grund. Die Verhandlungen endigten mit der Freisprechung der meisten Angeklagten. Dagegen wurden Bucher, der Bürgermeister Plathe aus Leba, der Müller Kabus aus Schwademühl und der Hausbesitzer Rennstiel aus Peiskretscham für schuldig erklärt und Bucher und Plathe zu fünfzehnmonatlicher Gefängnißhaft und dem üblichen angenehmen Zubehör von Verlust der Nationalcocarde, Amtsentsetzung u. dgl. verurtheilt.

Diese Verurtheilung veranlaßte Bucher, in’s Ausland und zuletzt nach London zu gehen. Er wird sich bewußt gewesen sein, daß man ihn nach Verbüßung der fünfzehn Monate Festung doch durch Polizeischerereien vertrieben hätte. In London lebte er in der ersten Zeit vorwiegend volkswirtschaftlichen und politischen Studien, der Beobachtung englischer Zustände und Eigenthümlichkeiten und der Betrachtung und Zergliederung der parlamentarischen Einrichtungen und Charaktere Englands - eine Beschäftigung, bei der er an vielen Stellen hochgepriesener Dinge und Menschen auf Heuchelei, Täuschung und Fäulniß stieß, welche ihn für alle Zeit mit Zorn, Widerwillen und Verachtung erfüllten. Unter den Bekanntschaften, die er hier machte, war Urquart, mit dem er später aus einander kam. Erst in den letzten Jahren seines Aufenthalts zu London lernte er durch gesellschaftliche englische Verbindungen andere politische Flüchtlinge von Namen wie Mazzini, Ledru Rollin und Herzen kennen. Dieselben trugen weiter zu seiner Abklärung in Sachen der Politik bei, das heißt, er erkannte, wie alle diese Herren vermittelst des Nationalitätsprincips Riemen aus dem Felle des biedern deutschen Bären schneiden wollten oder, um deutlicher zu sein, für ihre Nation auf ein Stück Deutschland, z. B. die Rheingrenze, den Höhenzug der Alpen oder das Polen von 1772 speculirten. Auch liberale deutsche Blätter beschädigten sich aus Ehrfurcht vor dem „Princip“, das heißt einer Vocabel, lebhaft damit, wie ein chemisch reines Deutschland zu construiren wäre. Die „Volkszeitung“ zum Exempel verlangte, daß Posen „herausgegeben“ werde, ohne freilich zu sagen, an welchen Berechtigten. Gegen solchen faselnden Unfug regte sich in Bucher der gesunde Menschenverstand und die patriotische Ader, die bei ihm niemals zu schlagen aufgehört hatte.

Während seines Verweilens in England war Bucher für verschiedene deutsche Zeitungen thätig. Namentlich schrieb er für die Nationalzeitung jahrelang unter dem Zeichen ❒ gehaltreiche Berichte und gedankenvolle politische Betrachtungen, die durch tiefe und ungewöhnliche Auffassung der Dinge allgemeine Aufmercksamkeit erregten. Unter Anderen lieferte er eine treffliche Schilderung der ersten Weltindustrieausstellung, Mittheilungen über englische Hauseinrichtungen und Sitten, über Ventilation, türkische Bäder, die er auf einer Reise nach Constantinopel kennen gelernt, und über andere praktische Dinge. Namentlich aber erwarb er sich ein hohes Verdienst um die Aufklärung der liberalen deutschen Politiker durch seine Briefe über den englischen Parlamentarismus. Sie haben dem Aberglauben, daß man die deutschen Parlamente in allen Stücken nach der Einrichtung des englischen aufzubauen und zu möbliren habe, mit zwingenden Beweisen ein Ende gemacht und überzeugend dargethan, daß die verfassungsmäßigen Einrichtungen und Bräuche nicht überall dieselben sein können, sondern dem Charakter, der geschichtlichen Entwickelung und den Hülfsquellen des jeweiligen Landes und Volkes angepaßt sein müssen. Eine fernere sehr dankenswerthe Folge dieser Parlamentsbriefe ist die seitdem allgemein gewordene Erkenntniß, daß die englische Regierungskunst nach außen hin eine reine Handelspolitik ohne große historische Gesichtspunkte und ohne irgend welche ideale Antriebe und Zwecke sei. Auf Palmerston, Gladstone, den „doctor supranaturalis“, Cobden und die ganze heuchlerisch egoistische Apostelschaft der englischen Freihändler fielen dabei Schlaglichter, die ihre Blößen wie bei elektrischem Feuer erkennen ließen. Es war eine Entlarvung, wie sie bisher kaum irgendwo erlebt worden.

Diese und einige andere Arbeiten der glänzenden Feder Bucher’s stimmten bisweilen mit dem Credo des Blattes, in dem sie erschienen, nicht recht überein, und in Betreff des Evangeliums der Manchesterleute, die dort ihr Wesen trieben, sowie in Bezug auf die Lösung der deutschen Frage war der ❒-Correspondent entschieden ketzerisch gesinnt.

Des Schreibens für Zeitungen vermuthlich müde und überdrüssig geworden, dachte Bucher um das Jahr 1860 an eine gründliche Veränderung. Wie das „Märchen“ andeutet, und wie ich trotz aller Wunderlichkeit des Planes für sicher halte, wollte er im tropischen Amerika unter Palmen und Mangrovebüschen sich eine neue Heimath gründen und - Kaffeepflanzer werden – eine Poesie mit praktischem, vielleicht auch unpraktischem Anflug, die – Gott sei Dank, sagen wir, vermuthlich mit ihm selbst – bald verflogen zu sein scheint. Er gehörte nach Deutschland zurück, und die Amnestie von 1860 öffnete ihm die Grenze zur

Heimkehr. Wieder in Berlin eingetroffen, fand er die Agitation für die preußische Spitze vor. Aber die Herren, die sie betrieben, wollten keinen „Bruderkrieg“. „Moralisch“ sollte gekämpft, gesiegt und erobert werden, wie man sich (vielleicht mit einigen Kopfschütteln, vielleicht mit Schlimmerem) erinnert. Auch Bucher wünschte eine festere Einigung Deutschlands gegenüber den Gelüsten der Fremden, konnte aber trotz des großen Wortes des Herrn von Beust, nach welchem „auch das Lied eine Macht“ war, nicht glauben, daß Oesterreich aus Deutschland hinausgesungen werden würde und daß es möglich sei, die „Mittelreiche“ und Kleinstaaten durch Turner- und Schützenfeste, Tinte, Druckerschwärze und Resolutionen von wohlgesinnten Volksversammlungen unter einen Hut und die besagte preußische Spitze

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_152.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)