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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Raven’schen Hauses, die peinliche Pünktlichkeit und die strengen Formen, welche überall vorherrschten, die unbedingte Ehrfurcht der Dienerschaft, für die jeder Wink des Herrn ein Befehl war, das alles imponirte der jungen Dame ebenso sehr, wie es sie befremdete. Es stand im schärfsten Gegensatze zu dem elterlichen Haushalte in der Residenz, wo neben dem größten Glanze auch die größte Unordnung herrschte, wo die Diener sich Unzuverlässigkeiten und Respectwidrigkeiten aller Art erlaubten und das Familienleben in der Jagd nach Zerstreuungen unterging. Dazu kamen später, als die Schuldenlast sich häufte und die Verlegenheiten dringender wurden, die heftigsten und unzartesten Scenen zwischen dem Baron und seiner Gemahlin, wo jeder dem Andern Verschwendung vorwarf, ohne daß dieser jemals gesteuert werde. Die halberwachsene Tochter war nur zu oft Zeuge solcher Scenen gewesen; gleichzeitig verzogen und vernachlässigt von den Eltern, die gern mit dem hübschen Kinde Staat machten, sich aber sonst so gut wie gar nicht um dasselbe kümmerten, fehlte ihr jede ernstere Lebensrichtung. Selbst die Ereignisse des letzten Jahres, der Tod des Vaters und die bald darauf hereinbrechende Vermögenskatastrophe, waren fast spurlos an dem jungen Mädchen vorübergegangen, das in seinem sorglosen Leichtsinn gar keine Empfänglichkeit für den Schmerz hatte. Aber so viel Urtheilskraft besaß Gabriele doch, zu sehen, daß es in dem Hause des „Emporkömmlings“ sehr viel vornehmer und aristokratischer zuging, als in dem ihrer Eltern, und sie ärgerte die Mutter oft genug mit Bemerkungen über diesen Punkt. –

Die Baronin saß auf dem kleinen Sopha ihres Wohnzimmers und blätterte in den Modejournalen. In den nächsten Tagen sollte eine größere Festlichkeit bei dem Gouverneur stattfinden; die höchst wichtige Toilettenfrage harrte also der Entscheidung, und Mutter und Tochter gaben sich mit dem größten Eifer dem für sie so interessanten Studium hin.

„Mama,“ sagte Gabriele, die neben der Mutter saß und gleichfalls einige der Modeblätter in der Hand hielt, „Onkel Arno erklärte gestern diese großen Gesellschaften für eine lästige Pflicht, die seine Stellung ihm auferlege. Er findet nicht das mindeste Vergnügen daran.“

Die Baronin zuckte die Achseln. „Er findet an nichts Vergnügen, als an der Arbeit. Ich habe nie einen Mann gesehen, der sich so wenig Ruhe und Erholung gönnt, wie mein Schwager.“

„Ruhe?“ wiederholte Gabriele. „Als ob er die Ruhe überhaupt kennte oder auch nur ertrüge! In den frühesten Morgenstunden sitzt er schon an seinem Schreibtisch, und Abends sehe ich oft noch um Mitternacht Licht in seinem Arbeitszimmer. Bald ist er in der Kanzlei, bald in den Bureaus; dann wieder fährt er aus, nimmt Besichtigungen vor und inspicirt Gott weiß was für Dinge; dazwischen empfängt er alle möglichen Leute, hört Vorträge an, giebt Befehle – ich glaube, er allein leistet so viel, wie all seine übrigen Beamten zusammengenommen.“

„Ja, er war stets eine rastlose Natur,“ bestätigte die Baronin. „Meine Schwester erklärte oft, es mache sie schon nervös, an diese unausgesetzte, ruhelose Thätigkeit ihres Mannes auch nur zu denken.“

Gabriele stützte den Kopf in die Hand und sah nachdenkend vor sich hin. „Mama,“ begann sie plötzlich wieder, „die Ehe Deiner Schwester muß recht langweilig gewesen sein.“

„Langweilig? Wie kommst Du darauf?“

„Nun, ich meine nur: nach allem, was man hier im Schlosse davon hört. Die Tante bewohnte den rechten Flügel und der Onkel den linken; er kam oft wochenlang nicht in ihre Zimmer und sie niemals in die seinigen; ich glaube, sie speisten nicht einmal zusammen. Jedes hatte seine eigene Equipage und Dienerschaft. Jedes ging und fuhr auf eigene Hand aus, ohne nach dem Andern auch nur zu fragen – es muß ein ganz seltsames Leben gewesen sein.“

„Du bist im Irrthum,“ entgegnete die Mutter, für welche diese Art zu leben offenbar gar nichts Abschreckendes hatte. „Es war eine durchaus glückliche Ehe. Meine Schwester hatte sich nie über ihren Gemahl zu beklagen, der jeden ihrer Wünsche erfüllte. Die Glückliche hat niemals die Bitterkeiten und Scenen kennen gelernt, die ich in den letzten Jahren nur allzu oft ertragen mußte.“

„Ja, Du hast Dich freilich sehr oft mit dem Papa gezankt,“ sagte Gabriele naiv. „Onkel Arno hat das sicher nie gethan, aber er hat sich auch nie um seine Frau gekümmert. Und er kümmert sich doch sonst um alles Mögliche, sogar um meine frühere Erziehung. Es war sehr unartig von ihm, neulich in Deiner Gegenwart zu sagen, er finde meine Bildung sehr lückenhaft und vernachlässigt, und man sähe es auf den ersten Blick, daß ich stets nur den Nonnen und Gouvernanten überlassen worden sei.“

„Ich bin leider an solche Rücksichtslosigkeiten von seiner Seite gewöhnt,“ erklärte die Baronin mit einem Seufzer, der sie aber durchaus nicht hinderte, das Modell einer Robe sehr genau zu betrachten. „Daß ich sie ertrage, ist ein Opfer, das ich einzig und allein Deiner Zukunft bringe, mein Kind.“

Die Tochter schien nicht besonders gerührt von dieser mütterlichen Fürsorge. „Wie ein kleines Schulmädchen bin ich examinirt worden,“ schmollte sie weiter. „Er hat mich mit seinen Kreuz- und Querfragen so in die Enge getrieben, daß ich nicht mehr aus noch ein wußte, und dann zuckte er die Achseln und decretirte mir noch alle möglichen Unterrichtsstunden. Mit siebenzehn Jahren noch Unterricht nehmen! Er will mir Lehrer aus der Stadt kommen lassen, aber ich werde ihm gerade heraus erklären, daß das ganz und gar nicht nothwendig ist.“

Die Mutter sah erschrocken von ihren Modejournalen auf. „Um des Himmels willen, laß das bleiben! Du stehst ja schon in fortwährender Opposition gegen Deinen Vormund, und ich schwebe oft genug in Todesangst, daß Dein Eigensinn und Uebermuth ihn endlich einmal reizen wird. Bis jetzt hat er Dein Benehmen freilich mit einer mir unbegreiflichen Geduld hingenommen, er, der sonst nie einen Widerspruch duldet.“

„Ich sähe es weit lieber, wenn er einmal zornig würde,“ rief Gabriele in gereiztem Tone. „Ich ertrage es nicht, wenn er so von seiner Höhe auf mich herablächelt, als wäre ich ein viel zu unbedeutendes Kind, um ihn reizen oder ärgern zu können, und er lächelt immer, wenn ich das versuche. Und wenn er mir vollends die Gnade erweist, mich auf die Stirn zu küssen, möchte ich am liebsten davonlaufen.“

„Gabriele, ich bitte Dich –“

„Ja, Mama, ich kann mir nicht helfen. So oft ich in Onkel Arno’s Nähe komme, ist es mir, als müsse ich mich wehren, mit allen Kräften wehren, gegen irgend etwas, das von ihm ausgeht. Ich weiß nicht, was es ist, aber es peinigt und quält mich. Ich kann mit ihm nicht verkehren wie mit anderen Menschen, und – ich will es auch nicht.“

Es klang ein ganz entschiedener Trotz aus den letzten Worten der jungen Dame; sie nahm Hut und Sonnenschirm vom Tische und machte sich zum Gehen fertig.

„Wo willst Du denn hin?“ fragte die Mutter.

„Nur auf eine halbe Stunde in den Garten; es ist zu heiß in den Zimmern.“

Die Baronin protestirte und wollte vor allen Dingen die Toilettenfrage entschieden wissen, aber Gabriele schien heute alles Interesse daran verloren zu haben und war überhaupt viel zu sehr gewohnt, ihren Launen zu folgen, um den Einwand zu beachten. In der nächsten Minute eilte sie davon. –

Der Garten lag an der Rückseite des Schlosses, dessen Mauern ihn auf der einen Seite begrenzten, während er sich auf der anderen bis an den Rand des hier steil abfallenden Schloßberges erstreckte. Die hohe Befestigungsmauer, welche ihn einst auch nach dieser Richtung hin abschloß, war niedergelegt worden, und über diese niedrige Brüstung, die ein dichtes Epheugeflecht umzogen hielt, schweifte der Blick ungehindert in’s Freie. Das Thal that sich dort in seiner ganzen Weite auf und entfaltete, von hier aus gesehen, seine eigenthümlich malerischen Reize; der Schloßberg war weithin berühmt wegen dieser Aussicht. Der Garten selbst verrieth noch überall den ehemaligen Burggarten. Etwas eng, etwas düster und sehr beschränkt im Raume, hatte er weder viel Sonnenschein, noch viel Blumenpracht, besaß aber dafür einen anderen selteneren Reiz: herrliche, uralte Linden beschatteten ihn und wehrten jeden Einblick, selbst vom Schlosse aus. Sie sahen ernst nieder auf die jüngere Generation, die, aus den ehemaligen Wällen und Befestigungen aufgewachsen, mit ihren schlanken Stämmen und ihrem frischen Grün den Schloßberg schmückte. Jene alten Baumriesen freilich wurzelten schon länger als ein Jahrhundert in diesem Boden; die riesigen Stämme

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_193.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2016)