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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


das Stammhaus des Reichskanzlers nach seinem Innern zurückläßt, so gehört eine starke Phantasie dazu, um es überhaupt mit romantischen Velleitäten in Verbindung bringen zu können. Ein gewöhnliches gesundes Auge begegnet hier keinem einzigen Zuge, der an eine alte Burg oder an ein prunkvolles Schloß erinnerte. Die dicken Mauern, die tiefeingeschnittenen Fenstergewände geben ihm den Charakter stämmiger Ehrenhaftigkeit. Die niedrigen Zimmer mit den Stuckdecken lassen an bescheidenen Wohlstand denken. Die Möblirung und die sonstige Ausstattung der Gemächer unterscheiden sich in nichts von dem Bilde, welches in den ersten beiden Decennien unseres Jahrhunderts das Haus eines mäßig begüterten Bürgers darbot. Das Ganze ist noch heute wie vor fünfzig Jahren, wo sein Geräth, seine Tapeten, seine Bilder neu und nach der Mode waren, das schlichte, einfache, anspruchslose Haus eines märkischen Landedelmannes. Es könnte auch behaglich sein. Aber die Wärme der Bewohntheit fehlt. Man sollte es nicht des Morgens besuchen, wo das kalte Sonnenlicht seine Verödung noch kälter macht. Man sollte sich die stillen Säle und Stuben vom Lichte des Nachmittags wärmen und vergolden lassen und sich einen Abendwind dazu bestellen, daß er leise durch die Lindenwipfel vor den Fenstern ginge und Sonnenblicke mit Schatten auf die Wände und Fußböden würfe. Das gäbe dann Leben in das todte Haus, und in der dadurch erzeugten Stimmung sähe man wohl auch mehr, als das gaukelnde Licht- und Schattenspiel der Natur, sähe man wohl auch in der Bibliothek und im Arbeitszimmer bedeutungsvolle Momente im Leben dessen, der einst hier wohnte, aus der Vergangenheit zurückkehren und sich zu Bildern der Erinnerung gestalten.

Vielleicht versuche ich das in meinem zweiten Abschnitte, nachdem wir den Garten durchwandert haben. Dann wollen wir zwei anderen Gittern und Häusern des Fürsten einen kurzen Besuch abstatten und schließlich längere Zeit in Varzin zu verweilen.




Zur Wohnungsreform in Wien.
(Mit Abbildung S. 235.)

Der Wiener lebt sehr viel außer dem Hause. Man kann wohl die Behauptung wagen, daß in der inneren Stadt auf jedes dritte Haus ein Gast- oder Kaffeehaus kommt, und wenn es auch erst jedes vierte Haus wäre, so sagt auch das schon genug. Diese Locale werden nicht cultivirt, weil sie zufällig existiren, sondern sie existiren, weil ein Bedürfniß nach ihnen vorherrscht, und dieses Bedürfniß läßt sich vorzüglich auf die höchst unbefriedigenden Wohnungsverhältnisse in Wien zurückführen. Unsere Zinsburgen gewähren dem Miether nur in seltenen Fällen ein trauliches, behagliches Heim, und darum wird nur zu gern ein Ersatz dafür in den meist sehr behaglich reich ausgestatteten öffentlichen Localen gesucht. Was aber die Zinsburgen nicht verschulden, das verschuldet die altererbte, hoch in Ehren gehaltene, aber recht unpraktische Sitte, das beste und größte Zimmer stets wiederum der Geselligkeit, das heißt als sogenannten Salon, zu opfern und sich dafür mit Kind und Kegel auf die kleineren, oft finsteren Zimmer zu beschränken.

Auch darüber sind die Acten geschlossen, daß Wien, was die Wohnungsmiethe betrifft, zu den theuersten Städten gehört, und vielleicht ist unsere Metropole sogar in dieser Beziehung die allertheuerste. Außerdem weist die Statistik nach, daß in keiner europäischen Stadt so viele Einwohner auf ein Haus kommen, wie in Wien. Ich spreche nicht davon, daß wir eine ganz beträchtliche Anzahl von Häusern haben, deren Einwohner nach Tausenden zu zählen sind; die können immerhin als Ausnahmen betrachtet werden, als Ausnahmen freilich, wie sie in anderen Städten sehr selten anzutreffen sein dürften, allein die offen zu Tage liegende Tendenz von Bauherren und Baumeistern, möglichst viele Menschen in ein Haus hineinzupferchen, darf wohl constatirt werden.

Aus allen diesen Mißständen entwickelten sich schließlich Verhältnisse, die sich als Mißverhältnisse bald sehr fühlbar machten, besonders zur Zeit des volkswirthschaftlichen Aufschwunges, der so viele Goldsucher nach dem Goldlager in der Reichshaupt- und Residenzstadt gelockt hatte. Man sann auf Reformen, und die Zeit war darnach angethan, jeder nur halbwegs plausiblen Unternehmung eine scheinbar sichere Prosperität zu gewährleisten. Eine Reihe intelligenter, von den besten Absichten beseelter Männer begann Propaganda zu machen für das Cottagesystem, für das Familienwohnhaus, wie es sich namentlich in England und an vielen Orten Deutschlands und Frankreichs glänzend bewährt hatte. „My house is my castle (mein Haus ist meine Burg)!“ Das war die Parole im Feldzuge gegen die ungeheuren Miethcasernen, die der einzelnen Familie für theures Geld weder genügend Licht und Luft, noch auch die nöthige Freiheit der Bewegung gewähren. Es wurde sowohl in volkswirtschaftlicher, wie in moralischer Beziehung der Beweis für die Vortrefflichkeit des Cottagesystems erbracht. Wer hätte auch etwas Stichhaltiges vorbringen können gegen die beigeschafften Argumente! Ein Haus für eine, höchstens für zwei Familien, für jedes Haus ein Garten, im Hause selbst große, lichte und luftige Räume, Alles auf das Zweckmäßigste in wirthschaftlicher, wie in sanitärer Hinsicht eingerichtet, dazu die Aussicht für einen Familienvater, für sich oder seine Kinder ohne besonderen Kostenaufwand ein Haus als Eigenthum zu erwerben, durch jährliche Ratenzahlungen, durch welche zu gleicher Zeit die Miethe und der Kaufpreis des Hauses berichtigt werden sollte und die doch sich nicht wesentlich höher stellen sollten, als der in Wien übliche Miethzins an sich – was in aller Welt hätte daran schlecht sein sollen?!

Der Wiener Cottageverein begann also zu Anfang des Jahres 1872 unter sehr günstigen Auspicien seine Wirksamkeit. Eine große Zahl von Mitgliedern trat demselben bei, und unter diesen eine verhältnißmäßig sehr stattliche Reihe von Capacitäten aller Kategorien. Der Verein war bald nach seiner Gründung schon in der Lage, ausgedehnte Kleefelder und Gartengrundstücke in der Umgebung Wiens zu erwerben und mit dem Baue von Familienhäusern zu beginnen, die, wie eine Denkschrift des Vereines besagt, „den Mittelstand und die sogenannten kleinen Leute, namentlich auch solche, welche auf jährlich gleichbleibende fixe Bezüge angewiesen sind, Beamte, Lehrer, Pensionisten u. dergl. m. vor den Calamitäten schützen sollten, welche aus der Wohnungsnoth erwachsen und welchen sie fast wehr- und schutzlos gegenüberstehen.“ Alles ging prächtig von Statten, bis der „schwarze Freitag“ für Oesterreich, der 9. Mai, mit seinen verheerenden wirthschaftlichen Katastrophen hereinbrach. Der Cottageverein hat sich allerdings, dank den ehrenhaften Männern, welche seine Leitung in Händen hatten, und die zumeist auch heute noch an der Spitze des Vereines stehen, mit Ehren aus der Affaire gezogen, allein es konnte doch nicht gehindert werden, daß auch ihm durch den Krach Wunden geschlagen wurden, so schwer, daß er sich vielleicht nie mehr ganz von denselben erholen wird. Mit heroischer Ausdauer trug der Verein die Verluste, die ihn trafen, er wankte nicht, als Zweig um Zweig abfiel, als viele Mitglieder ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkamen und ihm all die angefangenen und vollendeten Bauten auf dem Halse ließen; er kämpfte sich wacker durch, aber sein ursprüngliches Programm einzuhalten war er nicht mehr in der Lage, weil es ihm an einem Publicum fehlte, das ihm hätte entgegenkommen können.

Die fröhliche Gartenstadt, die der Leser in diesen Blättern abgebildet findet, liegt in Währing, einem Vororte von Wien, an der sogenannten Türkenschanze. Der Eindruck, welchen die ganze Anlage macht, ist ein sehr behaglicher, und überall bei der Anlage des Ganzen, sowie bei den einzelnen Hausplänen, ist ein praktischer, auf möglichsten Comfort gerichteter und doch nie die Rücksicht auf Sparsamkeit aus dem Auge lassender Sinn wahrnehmbar. Das Grundstück, auf welchem sich die Häuser und Gärten erheben, ist etwas über zwölf österreichische Joch (über sechs und einen halben Hectaren) groß, und wird durch drei Längen- und vier Querstraßen, die sich auf der Anlage kreuzen, durchzogen, sodaß sechs große Rechtecke gebildet werden, welche Raum für siebenzig Häuser sammt Gärten bieten. Die Häuser, zumeist an die Formen deutscher Renaissance mahnend und von anderen Baustilen durchbrochen, bieten in ihrem Anblicke angenehme

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_233.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)