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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Eile, in Europa zu bleiben, als wir, nach Amerika zu kommen. Das heitere Braun der herbstlichen Vegetation schien sich des liebenswürdigen Sonnenscheins zu freuen, der über Allem ausgebreitet lag. Ein stattliches Schiff, das vor Anker lag und sich mit seinen stolzen Masten und seinem eleganten Tauwerk in den Wellen spiegelte, schwand dicht an uns vorbei, und die große englische Flagge wehte uns von der Hauptraa des Hintermastes noch freundliche Scheidegrüße nach. Am Lande lag eine chinesische Dschonke, mit ihrem aufgeschachtelten Hinterdeck, ihrem plumpen Bug und den jalousieförmigen Holzsegeln auf ihren drei niedrigen Masten – von drüben glitt uns ein Schlepper entgegen und schoß, ein großes Kauffahrteischiff mit schlaffen halb aufgebundenen Segeln am Seile hinter sich ziehend, qualmend an uns vorüber.

Bereits hatte man auf dem Deck meine schöne Begleiterin, den hübschen Jungen und mich bemerkt, und man hielt uns offenbar für zusammengehörig, für eine moderne heilige Familie – Vater, Mutter und Kind –, „aber die Mutter ist noch merkwürdig jung,“ lispelte ein schmächtiger Jüngling aus Albion, indem er mich mit vorwurfsvollen Blicken betrachtete.

Innerhalb des Häuschens, das auf dem Decke zum Schutze gegen den Regen aufgebaut war, führte eine Treppe in die Tiefe; von dorther ertönte plötzlich ein schwerfälliges Keuchen und darauf entwand sich dem Treppenhäuschen die Gestalt eines dicken alten Herrn, dem man auf hundert Schritt angemerkt haben würde, daß er aus London war, und auf den der kleine Bursche, plötzlich lebendig geworden und vom Schooße meiner Nachbarin herabgleitend, mit dem lebhaften Ausruf zustürzte: „Pa, wo ist Ma?“ sodaß die gesammten Passagiere auf dem Deck uns Beide plötzlich für kinderlos hielten.

Wir waren unterdessen auf dem offenen Meere angelangt und glitten bei ruhigem Wetter an der Küste von Wales hin, die mit ihren Bergen von ferne zu uns herüberschaute. Die Glocke hatte zu Mittag geläutet, und ich saß mit dem schönen, lieben Mädchen bei Tische, beinahe Arm in Arm. Wir hatten die gepfefferte erquickende Suppe und die erfrischenden gesalzenen Gerichte soeben an uns vorübergehen lassen, plauderten und knackten Mandeln oder vertieften unsere Finger in Traubenrosinen, als ein gegenüber sitzender Herr, der sich mit uns in ein Gespräch eingelassen hatte, meine schöne Tischnachbarin plötzlich fragte:

„Aber weshalb nennen Sie einander immer ‚Sie‘? Ich kenne zwar Deutschland, dieses schöne und große Land, diese Heimath der Genien und der Heroen, dieses Land des Rheins und Baden-Badens, nur vom Hörensagen, aber ich muß falsch unterrichtet sein, wenn es nicht Thatsache ist, was man mir sagte, daß nämlich in Ihrer unvergleichlichen Heimath die Kinder die Eltern und die Gatten einander ‚Du‘ nennen, ein Ehrentitel, den man bei uns in England nur noch dem Schöpfer aller Welten beilegt.“

Meine unschuldige Freundin blickte erschreckt auf. Sie begegnete meinem Auge und schlug hastig das ihrige nieder, sie blickte auf den Tisch und bat um Pfeffer – „Sehr gern, Mylady, aber essen Sie die Mandeln mit Pfeffer?“ – und sie stand plötzlich erröthend auf, verbarg den Mund und die feine Nase in ihrem schneeweißen Taschentuch und ging schnell weg.

Mir blieb die Aufgabe, den Mann über ein Verhältniß aufzuklären, welches offenbar in dem Bereiche seiner Erfahrungen beispielslos war. Alwine mochte erst jetzt auf den Gedanken kommen, daß unser stillschweigend geschlossenes freundschaftliches Reisebündniß falsch gedeutet werden könne; weder auf der Eisenbahnfahrt durch England, noch in dem Hôtel in Liverpool, wo wir in ganz verschiedenen Stockwerken und Flügeln des Gebäudes logirten und uns nur beim Mittagstisch mit höflichem Freimuth unterhielten, noch in den Nebeln der Stadt, wo ich mir manchmal erlaubte, sie bei ihren Ausgängen zu begleiten, – nirgends bisher war ihr der Einfall gekommen, „was die Menschen darüber sagen möchten“. Sie hatte sich gefragt, ob ich ihres Zutrauens würdig sei; sie hatte mich geprüft, und ich hatte die Probe bestanden. So verkehrte sie denn gern und völlig unbefangen mit mir, ohne mich jedoch zum Mitwisser eines ihrer intimeren Geheimnisse zu machen.

Die Art, wie sie mich auf die Probe gestellt hatte, war charakteristisch. Wir befanden uns noch auf der Nordsee; es war am zweiten Tage unserer Fahrt, und schon näherten wir uns dem Hafen von Hull. Damals bat sie mich um die Nachmittagszeit, ihr eine Kiste aufzumachen, die sie in ihrer Cabine stehen hatte, und ich beeilte mich, ihr und mir diesen Dienst zu erweisen. Sie bat mich etwas verlegen, einzutreten, und ich leistete der Aufforderung schüchtern Folge. Die Mordinstrumente, welche ich in der Hand hielt, erinnerten mich, daß ich gekommen war, um eine Kiste zu öffnen, und nachdem ich die Cabine mit den niedlichen Häubchen und ein paar kleinen Hausschuhen neben dem Waschtisch verstohlenen Blickes überflogen hatte, fragte ich meine Auftraggeberin, ob ich mich gleich an das Oeffnen der Kiste machen solle? Sie bat mich darum, und nun schwang ich den Hammer, brach mit dem Stemmeisen den Deckel los, und – empfahl mich mit achtungsvoller Verbeugung. Sie dankte und ich – empfahl mich nochmals, ging weg und gab meinen Hammer und das Stemmeisen an den Kellner zurück. Seit dieser Stunde hatte sie mich zu ihrem Beschützer erwählt; sie kam mir fortan so heiter, so ungezwungen und fröhlich, ja glücklich entgegen, daß ich mir mein Versprechen erneuerte, das liebe schutzlose Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren und sie wohlbehalten an die reiche Familie in New-York oder genauer gesagt: in Staten-Island abzuliefern.

Mr. Bateman, mein englischer Begleiter, setzte sich zur Abendtafel wieder mir gegenüber und schlürfte seinen berauschenden englischen Thee, ohne das frische Weißbrod zu berühren oder sich mit den Rostschnitten zu versehen, die herumgeboten wurden, und als es hieß: unsere Freundin sei unwohl und werde nicht kommen, seufzte er: „Ein Engel weniger beim Abendessen!“ Ich gestand mir, daß er Recht hatte; sie war außerordentlich schön. Ihr volles, weiches Gesicht, ihr stolzer, lieblicher Mund, ihre sammetartigen, dunkelbraunen Augen, ihr weißer Teint und ihre eigenthümlich schönen gold-rothen Augenbrauen, überschattet durch volles Haar von der gleichen eigenthümlich schönen Farbe, vollendeten das Bild eines entzückenden Kopfes. Am andern Morgen fand ich den Engländer im Gespräch mit Jay Robinson, dem zweiten Steuermann, einen jungen und schlanken, in seinem Wesen fast eleganten amerikanischen Seemann, dessen entschlossener, feueriger Blick aus hellen stahlblauen Augen sein Gesicht anziehend und beinahe schön machte. Mr. Bateman war jetzt überzeugt, daß er in mir den ersten Gentleman der Welt gefunden habe und daß in seinem Anstandsbüchelchen ein gewisser Fall nachgetragen werden müsse. Er theilte soeben diese Entdeckung Jay Robinson mit, der sie mit lebhaftem Interesse anhörte und bei dessen Anblick ich Etwas wie Eifersucht empfand. Dann rief der jugendliche Seemann den blonden Jungen herbei, der gestern auf dem Schooße meiner Begleiterin gesessen hatte, und sagte zu ihm:

„Charlie, willst Du mit mir in meine Cabine kommen?“

„Und wozu?“

„Ich habe Etwas für Dich.“

„Und was ist das?“

„Schöne Marmorkugeln; die sollst Du haben.“

„Ich brauche keine Marmorkugeln.“

„Dann habe ich Seepferdchen, Sterne und Krabben.“

„Sind sie lebendig?“

No, sie sind getrocknet.“

Well, was soll ich dann mit den Seepferden? Ich liebe es nicht, mit todten Thieren zu spielen.“

„Ich habe auch schöne Bilder von Schiffen und Apfelsinen, und ein Stück Torte, Charlie. Willst Du nicht ein Stück Torte essen?“

„Ei ja, ich liebe Torte, und zeigen Sie mir auch die Bilder!“ – und dann ergriff er Herrn Jay Robinson’s Hand, und ging mit ihm in seine Cabine, die nebst den Cabinen der übrigen Schiffsofficiere auf dem Deck erbaut war.

Sie blieben lange Zeit drinn und schienen sich gut zu amüsiren. Wenigstens sah ich durch’s Fenster, wie sie Torte aßen und Cider tranken. Nach etwa einer Stunde kam Charlie mit zwei Bilderbogen, auf denen große Schiffe abgebildet waren, heraus.

Ich wartete bange und ungeduldig auf meine schöne Begleiterin, deren Zurückgezogenheit mich lebhaft beunruhigte. Im Augenblicke betrat sie das Verdeck. „Da ist sie,“ murmelte ich und ging lebhaft auf sie zu. Sie wich mir aus. Sich stellend, als hätte sie mich nicht gesehen, drehte sie sich rasch um und ging mit schnellen Schritten nach dem Bord, auf den sie ihren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_349.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)