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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Ja, und wie viele!“

Wir kamen den Tümmlern immer näher.

„Sehen Sie, Lady, die langen Schwänze?“ Und lustig sprangen die mächtigen Fische auf dem dunklen Wasser umher.

Ich sehnte mich nach einem freundlichen Wort von Alwine und meinte, sie habe hier eine gute Gelegenheit, ihr Unrecht wieder gut zu machen. Allein sie rührte sich nicht; die Tümmler glitten vorüber, und wir waren wieder mit unserer Verstimmung allein.

Den andern Tag sahen wir in der Ferne das Meer rosenroth. Die Farbe näherte sich in Gestalt eines ungeheuren, ganz flachen, rothen Eilandes, und wir fuhren pfeilschnell darauf zu und endlich hinein. Es waren rosenrothe Quallen, deren Heerde weithin das Meer bedeckte; schöne glockenförmige Weichthiere mit zarten Fleischfransen, eines am andern. Ich sah sie zum ersten Male. Sie sollen sehr giftig sein, eine Berührung mit der Hand, sagte man, vergifte den Menschen. Ich dachte daran und mit einem aufsteigenden Gefühl von Bitterkeit sagte ich mir: Sie hat dich vergiftet, ohne Berührung, durch ihre herben Worte. Aber dieses Gefühl war kein nachhaltiges. Ich gewöhnte mich an die Kluft zwischen uns, – zuletzt wurde Alwine mir mehr und mehr gleichgültig.

Charlie war schon öfters in der Cabine des Steuermanns gewesen und jedesmal mit Cider, Pastete oder Obstkuchen tractirt, sowie mit Apfelsinen, Trauben und Mandeln beschenkt worden. Charlie war ein anhänglicher Junge; gewöhnlich ging er mit Lust und Munterkeit sofort zu seiner „Lady“, ließ sich von ihr auf den Schooß heben und erzählte ihr, was er eben wieder bekommen habe, während zum Beweise der Wahrheit die kleinen Hosentaschen von Apfelsinen aufgetrieben waren und ihm, während er Mandeln knackte, die Rosinentrauben zur Weste herausguckten. Ebenso hatte sie seine Bilder schon längst gesehen, und es verging kaum ein Tag, daß er nicht auf ihrem Schooße mit Mühe sich festhalten ließ und mit ihr in seiner altklugen Weise plauderte.

Das Wetter war stürmischer geworden; die schöne Nürnbergerin saß in einem schützenden Winkel zwischen einer auf Deck gebauten Cabine und dem Speisesaal. Der viereckige Zwischenraum zwischen beiden war gegen die eine Seite des Schiffes durch eine Wand, gegen oben durch eine Decke geschlossen und nur nach der andern Seite offen. Der Raum sollte den Passagieren als Zuflucht gegen den Regen dienen. In ihm saß Fräulein Bodinus allein, denn das Verdeck war fast menschenleer; nur Charlie war bei ihr. Vorn am Bug lotheten die beiden Seeleute, welche beauftragt waren, mit Hülfe des Senkbleis die Tiefe des Wassers festzustellen. Wir waren, um einer vom Capitain vermutheten im Ocean herumschwimmenden ganzen Schwadron von Eisbergen auszuweichen, in die Nähe der Beaufort- oder Milne-Bank gerathen, welche, näher an Amerika als an Europa, noch ziemlich in der Mitte des atlantischen Oceans liegt. Unsere Reise war überhaupt von außergewöhnlichen Erscheinungen begleitet, Erscheinungen, welche dieselbe zwar sehr interessant machten, die man jedoch gerade in dieser Jahreszeit nicht hatte vermuthen können. In Gedanken versunken, stand ich auf dem Hinterdeck und blickte nach einem Schiff, das fernab mit vollen Segeln und in hellem Sonnenschein auf einem glänzenden Streifen schäumenden Wassers unsern Cours kreuzte. Dann verfolgte mein Blick einen Walfisch, der, nachdem er unser Schiff eine Strecke begleitet hatte, weit zurückgeblieben war und sich ebenfalls im Sonnenscheine auf dem erleuchteten Wasser herumtrieb.

Da plötzlich – ein fürcherlicher Ruck – das Schiff saß fest. Ein heftiges Rufen, wildes Rennen und Laufen! Die Passagiere stürzten auf Deck, bleich und hohläugig; der Bootsmann fluchte; die Mannschaft rannte durcheinander. Der Capitain sprang auf die Brücke. „Was ist geschehen?!“ ächzten die Passagiere. „Wir sitzen fest.“ Und kaum hatte ich die Worte über die Lippen, als hinter mir mit einem lauten Aufschrei Alwine Bodinus in Ohnmacht sank. Ich fing sie in meinen Armen auf.

„Stopp!“ schrie der Capitain von der Commandobrücke.

„Sto–pp!“ erklang die Antwort aus dem Maschinenraume.

„Rückwärts!“

„Rü–ckwä–rts!“

Das Schiff erzitterte; die Räder drehten sich, und das Fahrzeug ging, schäumendes Wasser nach vorn sendend, langsam rückwärts.

„Kriegt ihr es los?“ schrie der Capitain hinunter, zu denen, die vorn am Bord beschäftigt waren.

„Es ist zerrissen,“ war die Antwort.

„So laßt es sich loswickeln, und vermöge seiner eigenen Schwere versinken. – Ist etwas an der Maschine beschädigt?!“ rief er in den Maschinenraum hinab.

„Nein.“

„Also! Geht sie leicht?“

„Ja.“

Well, dann – vorrwärrts!“

„Vo–rrwä–rrts,“ tönte es dumpf aus dem Maschinenraume.

Die Räder standen einen Augenblick, während das Schiff noch rückwärts glitt, dann bewegten sie sich wieder; das Schiff bebte und zitterte; das Wasser schäumte und rauschte wieder nach hinten, und unbehelligt ging das Schiff weiter, unserem fernen Ziele zu.

In demselben Augenblick kam aus dem Knäuel der Schiffsmannschaft vom Radkasten her der Steuermann Jay Robinson, ein Waschbecken mit Wasser in der Hand, auf uns zu.

„Es ist Nichts, – keine Gefahr, kleine Episode; die verdammten Bursche lotheten vor dem Rad, und so hatte sich das Senkblei in das Rad verwickelt.“ -

Und er kniete nieder und sprengte Alwine Wasser in’s Gesicht. Als sie die Augen aufschlug, tauchte er ein frisches weißes Taschentuch in’s Wasser, legte es ihr auf Stirn und Schläfen, grüßte mit der Mütze, nahm das Waschbecken in die linke Hand und verschwand. – Nach kurzer Zeit konnte man Alwine in die Kajüte führen. –

Den folgenden Tag saß sie, noch immer bleich, auf dem Verdeck, in ihrer geschützten Einsiedelei. An ihre Kniee schmiegte sich Charlie. Sie streichelte ihm das Haar, und er plauderte:

„Der Cider ist nun alle, er hat keinen mehr, aber er sagt, er werde neuen kriegen vom Koch. Und hier hat er mir diese zwei Apfelsinen gegeben, und es sind die schönsten, die er hat. Er läßt auch schön grüßen und sagte, Du sollst die große essen. Du wirst viel Freude daran haben; sie schmecken süß.“

Alwine zauderte – nicht. Sie ergriff die Apfelsine und aß sie. Sie verstand es auf eine sehr zierliche Weise, sie zu schälen. Indem sie oben den Blüthenknopf heraushob, schnitt sie von demselben aus meridianförmige Linien nach dem Südpol der Apfelsine, jedoch nicht so weit, daß die Schnitte sich in dem unteren Punkte vereinigt hätten. Dann bog sie die lanzettlichen Kreisschnitte der Orangenschale wie einen Blüthenkelch von der Frucht nach außen, faßte mit ihren feinen Daumen von oben zwischen die zart behauteten Sechszehntel hinein, brach sie vorsichtig auseinander und präsentirte Charlie die Frucht. Jauchzend pflückte er sich ein Stückchen heraus und aß es. Miteinander verzehrten sie allmählich das Ganze. Dann nahm Alwine, auf Charlie’s schmeichelnde Bitten hin, die nämliche Procedur an der kleinen Apfelsine vor.

Als beide verzehrt waren, hielt sie die übrig gebliebenen sternförmigen Schalen in den Händen, besah eine nach der andern, gab sie Charlie zurück und sagte ihm, er solle die größere von beiden Herrn Robinson bringen und ihm sagen, dies sei der Beweis, daß sie die Apfelsine gegessen habe. Charlie richtete sofort den Befehl aus. Die kleinere Schale brachte er seinen Eltern, zeigte sie stolz Pa und Ma, ließ sie in der Gesellschaft herumgehen und bat Ma, sie aufzuheben.

Als der wettergebräunte Jay Robinson die arme Apfelsinenschale in der Hand hatte, preßte er sie dreimal heftig an den Mund; sein ganzes Gesicht zuckte; er stürzte nieder und verbarg knieend Kopf und Hände in der Bettdecke. – –

Am andern Morgen sahen wir ihn oben im Fockmast, rüstig, kräftig und munter, die Matrosen befehligend, die beim Aufspannen der Segel beschäftigt waren. Es hatte sich ein günstiger Wind erhoben, und der Capitain befahl, ihn zu benutzen und die Dampfkraft unseres mächtigen Schiffes durch die aufgespannten Segel wirksam zu unterstützen. Das Wetter war schlecht; es regnete. Keine Dame war auf Deck, auch die Einsiedelei war leer. Wind und Regen trieben gerade von der offenen Seite

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_364.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)