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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Der Ausdruck seines Gesichtes zeigte deutlich, daß er nichts Geringeres, als eine letztmalige Verfügung erwartete. Statt dessen erwiderte der Patient mit der größten Seelenruhe:

„Gewiß, ich habe ein sehr dringendes Verlangen etwas zu essen.“

„Zu essen?“ fragte der Doctor, auf’s Höchste betroffen. „Nun, wenn Sie es wünschen, können wir ein wenig Bouillon versuchen.“

„Ein wenig genügt nicht,“ erklärte Max. „Es muß sehr viel sein. Ueberhaupt bedarf ich etwas Consistenteres, als bloße Bouillon. Ein Beafsteak – ich würde deren auch zwei essen.“

„Um Gotteswillen!“ rief Doctor Berndt entsetzt und griff wieder nach dem Puls, da er der Meinung war, der Kranke phantasire, dieser aber zog ärgerlich die Hand zurück.

„So machen Sie doch nicht so viel Aufhebens von dem Loch in meinem Kopfe! Das heilt in acht Tagen. Ich kenne meine Natur.“

Der kleine Arzt blickte mit kummervollem Ausdruck auf den Ahnungslosen. „Sie täuschen sich vollständig über Ihren Zustand, Herr College. Sie sind schwer krank, trotz dieses Aufflackerns Ihrer Lebenskraft. Sie lagen zwei Tage lang im heftigsten Wundfieber.“

„Das ist kein Grund, daß ich mich nicht am dritten Tage, wenn das Fieber vorbei ist, ganz wohl befinden sollte. – Aufflackern der Lebenskraft? Bilden Sie sich etwa ein, daß ich in Lebensgefahr schwebe?“

„Das bilde ich mir nicht blos ein – das ist Thatsache,“ sagte Doctor Berndt etwas pikirt. „Ich fürchte im vollen Ernste –“

„Fürchten Sie gar nichts!“ unterbrach ihn Max. „Ich habe noch nicht die mindeste Lust, nach dem Jenseits abzureisen. Jetzt aber haben Sie die Güte, mir zu sagen, wie ich eigentlich behandelt worden bin!“

Die so unzweideutig kund gegebene Lebenslust seines Patienten, dem er das Leben mit solcher Entschiedenheit abgesprochen hatte, schien den Doctor völlig aus der Fassung gebracht zu haben. Er schwieg und sah ganz verdutzt aus; erst als die Frage mit hörbarer Ungeduld wiederholt wurde, ließ er sich zu der gewünschten Auseinandersetzung herbei und zählte mit großem Selbstgefühl sämmtliche Maßregeln auf, die er ergriffen hatte, um den Kranken dem Tode zu entreißen.

Max hörte mit geringschätziger Miene zu. „Verehrtester Herr College, da hätten Sie etwas Besseres thun können,“ sagte er in seiner rücksichtslosen Weise. „Ich bin gar nicht für solche Gewaltmittel; ich pflege sie niemals bei leichten Fällen anzuwenden und lasse dort hauptsächlich die Natur walten, um sie dann nach Kräften zu unterstützen.“

„Es war aber kein leichter Fall,“ rief der kleine Arzt, der trotz seiner Sanftmuth jetzt gereizt zu werden begann. „Ich sage Ihnen, Ihr Zustand war äußerst gefährlich; er ist es noch, und Sie werden das bald genug erfahren, wenn die augenblickliche Erregung vorüber ist.“

„Und ich sage Ihnen, daß ich mich ganz wohl befinde,“ rief Max noch lauter, „und daß von Lebensgefahr überhaupt gar nicht die Rede ist. Ich bin ein entschiedener Gegner dieser Behandlungsart; ich halte sie für nutzlos, ja für schädlich. Sie können Gott danken, daß meine kräftige Natur diese Experimente ausgehalten hat, sonst hätten Sie den Tod eines Collegen auf dem Gewissen.“

Doctor Berndt wurde purpurroth vor Entrüstung. „Es ist die Behandlungsart des Herrn Medicinalraths, die ich anwende. Der Herr Medicinalrath ist eine Autorität allerersten Ranges; er nimmt die bedeutendste Stellung an der hiesigen Universität ein und hat die großartigsten Erfolge.“ Dabei erhob der kleine Arzt seine sanfte Stimme so laut und schrill, wie er nur konnte, aber es war vergebens, denn Max mit seiner kräftigen Lunge überschrie ihn.

„Der Herr Medicinalrath geht mich gar nichts an. Wir haben an unserer Universität in Z. noch viel bedeutendere Autoritäten und viel großartigere Erfolge. Aber wir stecken nicht mehr in der Tradition, wie die Herren hier in dem patriarchalischen R. –“

Die beiden Mediciner geriethen in einen Berufsstreit, der so heftig wurde, daß Frau Christine erschrocken aus dem Nebenzimmer herbeistürzte, aber sie blieb starr vor Verwunderung auf der Schwelle stehen bei dem Anblicke, der sich ihr darbot. Doctor Brunnow, der von Rechtswegen auf dem Sterbebette liegen sollte, saß aufrecht im Bette und überschüttete in höchst energischer Ausdrucksweise seinen Collegen mit einer wahren Fluth von medicinischen Behauptungen, Gründen und Beweisführungen. Der Herr College aber, der vor kaum zehn Minuten förmlich in das Zimmer geschwebt war, um den Todtkranken nicht zu stören, stand in höchster Aufgeregtheit vor demselben und focht mit beiden Armen in der Luft herum, während er vergebens versuchte, zu Worte zu kommen. Als ihm dies durchaus nicht gelingen wollte, ergriff er endlich seinen Hut und rief wüthend:

„Wenn Sie denn doch Alles besser wissen, Herr College, so behandeln Sie sich gefälligst selbst! Ich soll dem Gouverneur Nachricht von Ihrem Befinden bringen; ich werde Seiner Excellenz aber sagen, daß mir solch ein Patient noch nicht vorgekommen ist, der gestern noch für todt daliegt und heute mir und der ganzen hiesigen Facultät die größten Grobheiten an den Kopf wirft. Sie haben ganz Recht, eine Natur wie die Ihrige existirt nicht zum zweiten Male. Sie machen ja jede Diagnose zu Schanden – ich empfehle mich Ihnen!“

Damit verließ er das Zimmer. Frau Christine, die nicht ein Wort von der ganzen Sache begriff, sah ihm verwundert nach und näherte sich dann dem Kranken.

„Aber was ist denn vorgefallen? Der Herr Doctor läuft in voller Wuth fort und Sie –?“

„Lassen Sie ihn nur laufen!“ sagte Max, sich ruhig zurücklehnend. „Dieser Mensch und College will durchaus einen Todescandidaten aus mir machen und hätte mich beinahe umgebracht mit seinen unsinnigen Anordnungen. Jetzt werde ich meine Behandlung in die Hand nehmen und gleich damit den Anfang machen. – Beste Frau Christine, ich bitte Sie dringend und freundschaftlichst, bringen Sie mir irgend etwas zu essen!“ –

Es mochte eine Stunde später sein, als Agnes Moser nach einer kurzen und nur allzu nothwendigen Ruhe sich anschickte, ihren Platz am Krankenbette, von dem sie während der letzten Tage kaum gewichen war, wieder einzunehmen. Doctor Brunnow war inzwischen seiner ersten eigenen Verordnung mit einer Pünktlichkeit nachgekommen, die nichts zu wünschen übrig ließ, zur großen Freude der Frau Christine, welche fand, daß der Doctor sich ganz ausgezeichnet behandle. Sie redete ihm indeß vergebens zu, jetzt wieder zu schlafen; Max behauptete, daß dies gar nicht nöthig sei, und unterhielt sich ausschließlich damit, die Thür anzusehen, durch welche Agnes eintreten mußte. Er gab dabei sehr unzweideutige Zeichen von Ungeduld, und als er sich beikommen ließ, in einer Viertelstunde drei Mal zu fragen, wo denn seine Pflegerin eigentlich bleibe, wurde auch Christine ungeduldig. Sie faßte den Patienten scharf in’s Auge und fragte ohne alle Umschweife:

„Herr Doctor, was ist das eigentlich mit Ihnen und Fräulein Agnes? Die Sache ist nicht richtig – das habe ich längst gemerkt.“

Max zog es vor, gar keine Antwort zu geben, aber das half ihm wenig; die Sprechende fuhr in ihrer derben Weise fort:

„Geben Sie sich nur keine Mühe, mir etwas weiß zu machen! Ich bin nicht umsonst hier im Krankenzimmer ab- und zugegangen und habe es mit angesehen, wie das arme Kind sich fast zu Tode ängstigte, und wie Sie sich benahmen, sobald Agnes nur in Ihre Nähe kam. Ich weiß Bescheid, ganz genau Bescheid – das versichere ich Ihnen.“

„Frau Christine, Sie sind eine äußerst kluge Frau,“ sagte der junge Arzt. „Sie erzählen mir da Dinge, von denen ich selbst bis vor drei Tagen noch nicht das Geringste wußte und Fräulein Agnes ebenso wenig. Aber Sie haben leider Recht; die Nemesis hat mich ereilt – ich bin hoffnungslos verliebt.“

Christine nickte. „Das habe ich längst gewußt. Aber was denn nun? Ich habe bisher noch nicht viel über die Sache nachgedacht, da Doctor Berndt Ihnen so entschieden das Leben abgesprochen hatte. Dann wäre ja doch Alles zu Ende gewesen. Da aber, wie es jetzt scheint, vom Sterben vorläufig noch keine Rede ist –“

„Gar keine Rede!“ schaltete der Patient ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_389.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2017)