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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

müsse, wenn man nicht die Spuren der vermutheten Abstammung am lebenden Wesen und in dessen Entwicklung selbst nachweisen könne, und damals bereits stellte er sein entwicklungsgeschichtliches Grundgesetz auf, welches lautet: Die Keimesgeschichte ist der Auszug der Stammesgeschichte, d. h. mit anderen Worten: die Zustände, die ein Thier in seiner Entwicklung durchläuft, sind mehr oder weniger veränderte Nachbilder seiner Ahnen, eine leibhaftige Ahnengallerie. Durch dieses Gesetz hat die Abstammungslehre erst Fleisch und Blut, Hand und Fuß gewonnen; sie ist nun kein haltloser Schatten mehr, sondern wir können mit Secirmesser und Mikroskop ihre Aufstellungen begründen oder zurückweisen. Das ist es, was ich mit den Worten sagen wollte: Haeckel habe die Darwin’sche Theorie in die Praxis eingeführt. Nun wieder zu unserem speciellen Thema!

Außer den schon mitgetheilten Gründen giebt es noch zwei andere, welche der Gasträa-Theorie sehr günstig zu sein scheinen und ihr eine gewisse Wahrscheinlichkeit sichern. Erstens nämlich begegnen die oben beschriebenen, bei niedern Thieren vollkommen mündig im Wasser umherflanirenden Herren F, K u. s. w. auf Schritt und Tritt Doppelgängern, die schon auf der Höhe ihrer Laufbahn stehen und doch diesen kleinen Anfängern auf’s Flimmerhaar gleichen, ihnen ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, und dazu kommt zweitens die Erwägung, daß es aus physiologischen und mechanischen Gründen gar nicht gut ohne die Gasträa abgegangen sein kann, wenn die Darwin’sche Theorie auch nur einen Schatten von Wahrheit einschließt. Die Sache wird beinahe so wahrscheinlich, wie die, daß wir Alle einmal Wickelkinder gewesen sind.

Was den ersten Punkt betrifft, so bestehen die niedersten lebenden Wesen, welche wir durch Haeckel’s Forschungen (seit 1864) kennen, die Moneren, gerade wie die niederste Stufe (Fig. A) aller jetzt lebenden Thiere aus einem Tröpfchen lebendigen Schleims, dem also in beiden Fällen alle Lebensfähigkeiten einwohnen. Da wir uns noch einfachere Wesen nicht einmal zu denken im Stande sind, so müssen die dieser Einfachheit wegen sogenannten Moneren jedenfalls die erste Sprosse der thierischen Stufenleiter gebildet haben, und diesen Urbildern zu Liebe nennt Haeckel die betreffende, ihnen gleichende Entwicklungsstufe Monerula. Aus der Monerula wird durch Abscheidung des Kernes eine sogenannte Zelle und von gleichwerthigen einzelligen Wesen, die durch Umbildung ihrer Haut mancherlei Gestalten annehmen, wimmeln alle stehenden Gewässer. Die durch wiederholte Furchung der Zelle entstehenden Zellenklümpchen begegnen ebenfalls im Meere wie im süßen Wasser mannigfachen Ebenbildern, die nach Alter und vollkommener Aehnlichkeit ihre Urahnen sein könnten. So könnte man denn auch die als Larvenform Blastula oder Planula genannte Blase (Fig. F) mit mancherlei voll ausgebildeten Thierchen verwechseln, die genau ebenso aussehen. Unter Andern entdeckte Haeckel 1869 an der norwegischen Küste ein Kugelthier (Magosphaera planula), welches auf das Vollkommenste dem Begriffe einer „Planäade“ entspricht, gerade so aussieht und entsteht wie unsere Entwicklungsform, nur daß sie zufrieden ist, es „so herrlich weit gebracht zu haben“ und niemals, so weit beobachtet, den Versuch macht, durch Einstülpung weiter zu kommen, vielmehr das oben abgebildete Einmaleins immer wieder von vorne anfängt.

Wenn wir nun zu der nächsten Hauptstufe übergehen, um die es sich hier hauptsächlich handelt, so müssen wir zunächst gestehen, daß man freischwimmende Gasträaden unter den „vollendeten“ Schwimmern noch nicht kennen gelernt hat, wiewohl es dieser erst nach längerer Beobachtung zu „entlarvenden“ Bäuchlinge genug geben mag. Beobachten wir aber die wirkliche Larve, hinter der sich ein Schwammthier, eine Koralle oder ein sonstiger Ableger vom Polypenstamm verbergen mag, einen Augenblick weiter, so sehen wir sie demnächst vor Anker gehen, indem sie mit dem der runden Oeffnung entgegengesetzten Ende ihres Körpers auf Felsen oder Tanglaub festwächst und in diesem festgewachsenen Zustande ihre weitere Entwicklung vollendet, Notabene, wenn sie eine solche haben. Denn unter den Kalkschwämmen sowohl, wie unter den naheverwandten Fläschchenthieren (Physemarien) hat Haeckel eine Anzahl verschiedener Thiere nachgewiesen, die nur in ganz unwesentlichen Dingen über die Bildungsstufe der Gasträaden hinaus kommen, als solche leben und sterben. Unsere Figuren L und M stellen eine solche festgewurzelte „Gasträade“ vor, die ihre Hauptschicht mit Sandkörnchen und Nadeln von Kalkschwämmen inkrustirt hat. Es ist das Meerfläschchen (Haliphysema primordiale) aus dem Mittelmeer, welches man meist auf Meerpflanzen festgewachsen findet. Andere durch die Auswahl ihrer Panzernadeln unter dem Mikroskope noch viel zierlicher erscheinende Fläschchenthiere hat Professor Haeckel in einer im vorigen Jahre erschienenen Abhandlung über die „Gasträaden der Gegenwart“ abgebildet.

Wir sehen daran, daß der Name Gasträade oder Bäuchling nicht blos formell, sondern auch physiologisch richtig ist, denn wie der Apostel Paulus einst, mit dem griechischen Worte Gaster spielend, von den Kretern behauptete, so könnte man vielleicht mit noch mehr Recht von diesen Meerfläschchen sagen, es seien „faule Bäuche“. Das ganze Thier ist ein „Bauch sans phrase“, der nichts thut als verdauen, was sich in ihn verirrt. In früheren Zeiten, als man noch gar nicht ahnte, daß manche Pflanzen mit ausgezeichneten Bäuchen versehen sind – der geneigte Leser wolle sich nur der im Jahrgange 1875 der „Gartenlaube“ abgebildeten Kannenpflanzen[WS 1] erinnern –, haben einige Naturforscher geglaubt, der Besitz eines Magens sei der durchgreifendste Charakter, der das Thier von der Pflanze unterscheidet, und so viel ist wahr daran, daß die Gasträaden die ersten Thiere sind, bei denen sich der Hauptunterschied des Thieres von der Pflanze, Centralisirung aller Thätigkeiten, zeigte. Bei den höheren Thieren sind Kopf oder Herz diese Centra, die den Pflanzen fehlen; auf der ersten Stufe konnte nur der Magen diesen vornehmen Platz einnehmen. Mit gutem Fug stellt Haeckel anderseits alle thierartigen Wesen, die sich noch nicht bis zur Bildung eines solchen Urmagens erhoben haben, mit den niedersten pflanzenartigen Gebilden in das neutrale Reich der Protisten oder Urwesen.

Das Meerfläschchen L von außen, M im Durchschnitte.
Der Bauch- oder Urdarm d öffnet sich oben in den Urmund m, durch welchen die jungen Keimzellen e austreten, um sich in der oben geschilderten Weise zu neuen Gasträaden zu entwickeln. Während die Zellen des Hauptblattes h unter einander und mit den fremden Körpern verschmolzen sind, bleiben die mit Flimmerhärchen bedeckten des Magenblattes g deutlicher unterschieden.

Wir kommen damit zur philosophischen Bedeutung der Gasträa-Theorie, in welcher möglicher Weise ihre Stärke ruht. Fragen wir uns, wodurch ein Wesen sich über das andere erhebt, so lautet die Antwort: durch die in seinem Bau weiter getriebene Arbeitstheilung. Bei den niedrigsten Lebewesen, die noch nicht einmal den Werth einer Zelle erreicht haben, bei den Moneren, ist der zähe Schleim, aus dem sie bestehen, zugleich Hand und Fuß, Haut und Magen, Kopf und Herz. In der Zelle ist ein kleiner Fortschritt insofern vorhanden, als da doch bereits ein Ministerium für äußere und eins für innere Angelegenheiten erscheint; es giebt eine Oberhaut mit provisorischen Bewegungsorganen


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_529.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)