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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

er langsam und wie wankend dem Wagen nach bis über die Häuser des Dorfes hinaus. Dort warf er Trunkenheit und Schläfrigkeit wie ein überflüssiges Gewand ab und rannte mit der Schnelligkeit eines Läufers die Straße dahin. Der Fahrende dagegen ließ den Gaul immer langsamer traben, sodaß Beide wie verabredet in Mitten eines finstern zu beiden Seiten der Straße stehenden Waldschopfes zusammentrafen.

„Steigt nur ein,“ sagte der Reisende, „und fahrt mit mir bis nach Fischbach hinüber! Unterwegs machen wir Alles aus.“

„Kann nicht,“ sagte Gori hastig. „Heut kann ich nicht. Ich hab’ noch was vor. Sie können’s mir jetzt auch sagen. Ich hab’ schon den ganzen Nachmittag auf Sie gewartet.“

„Es war nicht möglich, ohne Verdacht eher abzukommen,“ entgegnete der Andere. „Nach dem letzten Unglück kann man nicht vorsichtig genug sein. Ich denke, Ihr habt’s auch erfahren.“

„Freilich,“ lachte Gori, „und möcht’ es nicht zum zweiten Mal durchmachen.“

„Darum thut, was ich sage!“ erwiderte der Reisende. „Der letzte Schaden ist groß genug, aber er ist immerhin zu verschmerzen, wenn wir jetzt durchkommen. Eine große Partie Seidenwaaren liegt wieder versteckt. Kommt nur mit!“

„Ich hab’ es Euch schon gesagt, daß ich nicht kann,“ entgegnete Gori trotzig, „daß ich heut’ noch etwas Dringendes zu thun hab’. Wenn das geschehen ist, wird’s ohnehin nicht rathsam sein für mich, länger in der Gegend zu bleiben. Wenn Ihr wollt, so könnt Ihr ja in Fischbach übernachten. Ich komm’ in aller Früh’ nach, in den Steinbruch, wo jetzt doch nicht gearbeitet wird.“

Der Fremde schien sich einen Augenblick zu besinnen.

„Wenn’s denn nicht anders ist,“ sagte er, „so muß man sich fügen. Ich erwarte Euch also morgen ganz bestimmt. Es soll Euer Schaden nicht sein.“

Der Wagen rollte weg. Gori drückte sich seitwärts in den Straßengraben, wo er eine Weile unter dem Gebüsch niederkauerte und sich erst wieder erhob, als er sich überzeugt hatte, daß von keiner Seite Späher ober Lauscher zu fürchten seien. Dann durchschnitt er das Gehölz und zog sich an den Hecken und Rainen entlang durch die Flur gegen die Häuser und Hütten von Falkenstein.

Alle Fenster waren längst dunkel. Niemand wachte noch, um Gori zu bemerken. Er trat so behutsam und vorsichtig auf, daß ein Hund, der in einem der Gehöfte leise anschlug, bald, als habe er geträumt, sich wieder niederlegte und verstummte. Nur in Gertl’s Wohnung war die Ruhe noch nicht eingekehrt, und durch die runden Scheiben der kleinen Fenster schimmerte noch ein schwacher Lichtschein. Mit Katzentritten schlich der Bursche näher, sah hinein und gewahrte Gertl, die mit ihrer Mutter noch in Gespräch am Tische saß. Er kroch auf die Bank und legte sich darauf; durch das noch nicht geschlossene Fenster war ihm jedes Wort verständlich.

Noch immer hatte sich Gertl von der Aufregung des Abends nicht erholt. Die bedeutungsvolle Begegnung mit dem Krüppel in dem Petersberger Kirchlein zitterte in ihr nach wie eine Art Fieber, und hatte noch keinen Schlaf in ihre Augen kommen lassen.

„So sei doch nur einmal gescheidt und nimm vernünftiges Zureden an!“ hörte Gori die Mutter sagen. „Du bist doch sonst ein resolutes Leut und bist nun wegen so was so zertrellt, als wenn Dir weiß Gott was geschehen wär’. Du sagst ja selbst, daß Du nicht daran glaubst, daß Einem etwas aufg’setzt sein kann; Du hältst es für eine Sünd’ und für einen Aberglauben, so was zu denken – warum thust nachher doch, als wenn was dran sein könnt’? Geh,“ wiederholte sie schmeichelnd, „sei g’scheidt, gieb nach und leg Dich nieder! Nimm ein Weihwasser und bet ein andächtiges ‚Vater Unser‘, dann schlafst Du schon ein und bis morgen ist Alles vergessen. Du mußt ja schon morgen um zwei Uhr beim Heuen sein. Du weißt es ja – aber wenn’s Dir im Bett recht gut thut, so bleib nur liegen und schlaf aus! Dann geh’ ich statt Deiner hinauf.“

Sie war Gertl näher gerückt, so daß diese, übermannt von dem Ton der Liebe, der aus Wort und Geberde der Mutter sprach, und der bei Laubleuten um so wirksamer ist, je seltener er zum Ausdruck kommt, sich an Arm und Brust der Mutter schmiegte. – Hatte sie ja doch niemals im Leben so klar gesehen und empfunden, daß sie allein stand und daß sie Niemanden hatte, von dem sie sich geliebt wußte. Niemanden als die Mutter, deren Herz dem ihrigen jetzt so nahe, so warm und so voll entgegenschlug.

„Nein, Mutter,“ sagte sie nach einer Weile des Ausweinens, „Du darfst nicht gehen; ich geh’ schon selber. Ich will gar nicht warten, bis es Tag wird, in der Stube ist es so ängstlich warm, da könnt’ ich doch nicht schlafen – ich will lieber gleich gehen. Die Nacht draußen ist hell und kühl; da wird mir leichter werden. Ich weiß, wie man den Riegel im Heustabel aufmacht – da schlüpf’ ich hinein; da kann ich vielleicht eher schlafen. Dann bin ich auch gleich bei der Hand, wenn’s zur Arbeit geht.“

Sie erhob sich, strich das Haar von der glühenden Stirn, griff nach Hut und Jacke und wollte sich auf den Weg machen, wurde aber von der Mutter zurückgehalten.

„Das ist auch nichts Rechts,“ sagte die besorgte Frau. „Es ist Nacht; die Nacht ist keines Menschen Freund. Wie leicht könnte Dir ein Leids geschehen!“

„Auf dem kurzen Weg bis zum Bauernhaus?“ fragte Gertl lachend entgegen. „Was könnt’ mir da geschehn? Es ist kein sterblicher Mensch weit und breit und – wer sollte mir denn was zu Leib’ thun?“

„Wer? Hast Du nicht selbst erzählt, was Dir erst gestern passirt ist mit dem Gori? Wenn er Dir wieder auflauern thät’?“

„Ich glaub’, das laßt er bleiben,“ sagte Gertl ernst. „Der hat, glaub’ ich, einen ordentlichen Denkzettel bekommen, und wenn er noch was wagen thät’, den fürcht’ ich nicht mehr. Das erste Mal war der Schrecken in mir; da hab’ ich mich nicht recht verwußt; jetzt, wenn er wiederkäme, wüßt’ ich was, daß er mich gleich loslassen wird.“

„Und was wär’ denn das?“

„Wie ich die Genoveva gespielt hab’,“ lachte das Mädchen, sich vollends zurecht machend, „weißt Du – wie er mir im Spiel so zugesetzt hat mit seiner schlechten Lieb’, da hab’ ich ihm ganz nah’ in die funkelnden Augen hineingesehen, und da ist es mir gewesen, als wenn das Feuer daraus hervorgeschlagen hätt’, und auf einmal ist es mir aufgeschossen wie der Blitz: Die Kathel ist nit selber in den Inn gefallen – er hat sie hineingeworfen …“

„Heilige Mutter!“ rief die Frau und brückte erschreckend ihre Hand auf des Mädchens Mund. „So was sollst nicht denken, geschweige sagen! Das könnt’ eine schöne Geschicht’ abgeben.“

Sie wollte noch mehr hinzusetzen, aber Geräusch vom Fenster her unterbrach sie.

„Was hat sich denn da draußen gerührt?“ sagte sie näher tretend. Auch Gertl folgte ihr und hatte in die dunkle Nacht hinausgesehen.

„Ich glaub’, der Kater ist’s gewesen,“ sagte Gertl. „Ich hab’ was Schwarzes unter die Hollerstauden hineinspringen sehn. Aber jetzt mach Feierabend Mutter! Leg’ Dich nieder und lösch das Licht aus! Ich mach’ die Fenster schon zu, leg die Läden an und geh.“

„Also willst wirklich?“ fragte die Mutter abermals und wollte sie zurückhalten. Gertl aber machte sich los und erwiderte:

„Ja Mutter, ich geh’, mußt mich nicht aufhalten. Es geschieht mir nichts.“

Sie nahm Weihwasser aus dem Kesselchen an dem Thürpfosten und verließ das Haus, um welches sie die Runde machte, indem sie die Läden anlegte.

Aufathmend trat Gertl in die erfrischende Nachtkühle, die ihr sanftfächelnd um die pochenden Schläfe strich. Sie sah in den Himmel hinauf, von welchem unzählige Gestirne schimmerten, als bewegten sie sich, um ihr einen Strahl ihres Lichtes und ihrer Ruhe zuzusenden. Sie fühlte, wie ihr die Brust sich leichter hob, und legte rasch den kurzen Weg bis zur Scheune zurück. Dort schob sie den Holzriegel an der Thür zurück und trat in den dunklen Raum, in welchen nur hier und da durch die Fugen und Ritzen der Bretter der Mondschein drang und kleine Lichter auf den in der Tenne aufgethürmten Heuvorrath fallen ließ. Bald war ein zur Lagerstatt passender Platz gefunden, und rasch behaupteten Ermüdung und Schlafbedürfniß ihr Recht. Die Düfte der welkenden Pflanzen umhauchten sie mit sanfter Betäubung; sie bekreuzte sich noch und die letzte Silbe des Gebetes erlosch auf ihren verstummenden Lippen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_538.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)