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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

vorangegangener Ideenbewegungen schon als einen untilgbaren Besitz des bürgerlichen Bewußtseins, und es zeigte sich um das Bild eines merkwürdigen, für unsere Betrachtung in hohem Grade ergreifenden Unterschiedes der Zeiten. Während die herrschenden Dunkelmänner auf ein intriguantes Manövriren mit ihren Macht- und Gewaltmitteln angewiesen, aber ohne Einfluß auf die Gemüther blieben, sehen wir in diesem Jahrzehnt des einschüchternden Denkens und der politischen Ermüdung unabhängige Apostel der Freiheit und der allgemeinen Bildung, volksthümliche Vertreter der Wissenschaft und des fortschreitenden Denkens auf den Schauplatz steigen und in der massenhaft ihnen sich zuwendenden Empfänglichkeit der Nation den Boden zu unerhörten Erfolgen und unermeßlichen Einwirkungen gewinnen. Es bleibt das Verdienst Keil’s, daß er in einem der trübsten Momente unserer deutschen Geschichte dieses Streben zur Thatkraft erweckt, begeisterungsvoll organisirt und unter seiner kühn und bewußt, mit starkem Arm und scharfem Verständniß geschwungenen Fahne zu gemeinsamer Arbeit vereinigt hat.

Von solchen Gesichtspunkten aus muß und soll die Geschichte der „Gartenlaube“ noch einmal kritisch geschrieben werden, eine vielseitige Aufgabe, für welche ein Journalartikel nicht den erforderlichen Raum bietet, selbst wenn es angemessen erschiene, sie an dieser Stelle erledigen zu wollen. Einiges, was im Laufe der letzten Monate mit guter Absicht von Zeitungsfeuilletons darüber veröffentlicht wurde, berührte leider den Kern der Sache nicht und verrieth auch durch unrichtige Angaben über Aeußerliches und Untergeordnetes den gänzlichen Mangel an eigener Kenntniß der thatsächlichen Verhältnisse. Der Lebenslauf der „Gartenlaube“ weist in Betreff der allmählichen Erweiterung ihres Programms und der Ausprägung bestimmter Geistesrichtungen, in Betreff auch des Tons, der Haltung und Stilweise verschiedene, die jeweiligen Zeitbewegungen widerspiegelnde Phasen auf, mit seinen Erfolgen wuchsen auch die Zwecke des Blattes über die ursprünglichen Begrenzungen hinaus. Gemeinsam aber ist diesen mehrfachen Stadien Folgendes geblieben: Nach außen hin die anhängliche Treue der unablässig und in ungewöhnlichen Dimensionen sich vermehrenden Leserschaaren, von innen her die entschieden deutsche, freisinnig-humane Richtung des Grundcharacters bei consequent festgehaltener Rücksicht auf die edleren Bedürfnisse des deutschen Familienlebens aller Stände. Durchblättert man mit einer nur flüchtigen Aufmerksamkeit die unter der Leitung Keil’s erschienenen fünfundzwanzig Jahrgänge und vergegenwärtigt man sich die ungeheure Verbreitung derselben, so wird man nur bei großer Blindheit oder Voreingenommenheit dem Eindrucke sich verschließen können, daß das Blatt in der That mit einer Culturmission durch das politische und gesellschaftliche Leben unserer Nation gegangen und daß es diese Mission immer nachdrücklicher erfüllte, je mehr zwischen seiner Redaction, seinen Mitarbeitern und seinem Publicum eine gegenseitige belebende Wechselwirkung herzlichster Art sich herausgebildet hatte. Die Fülle und Mannigfaltigkeit des Dargebotenen erscheint hier jedoch dem Rückblicke so vielseitig und umfassend, daß es ein vergebliches Bemühen sein würde, auch nur die Grundtendenzen und unzweifelhaftesten Wirkungen dieser unablässigen Pflege idealen Gemüths- und Geisteslebens und dieses unermüdlichen, auf alle Gebiete des Lebens sich erstreckenden Kampfes gegen Aberglauben und Vorurtheil, gegen Inhumanität und Rohheit, gegen Knechtschaft und Knechtssinn, Schwindel und Ausbeutung in wenigen Zügen charakterisiren zu wollen. Nur zwei der wesentlichsten Hauptergebnisse können und sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Unzweifelhaft ist es, daß die „Gartenlaube“ allen auf Ausgleichung der schroffen Bildungsunterschiede im deutschen Lesepublicum gerichteten Bestrebungen die erfolgreichste Hülfe geleistet und daß sie in erster Reihe das nationale Gemeingefühl geweckt und gestärkt, den deutschen Einheitsgedanken schon in den Gemüthern befestigt hat, ehe er von der politischen That verwirklicht worden ist. Solche große Wirkungen aber erzielte das Blatt nicht allein durch den Geist seiner Arbeit, sondern auch durch seine beispiellose Verbreitung. Denn gewiß ist es ein Unterschied, ob Ideenrichtungen in raisonnirender Darlegung für einen beschränkten Kreis sich äußern, oder ob sie mit allem anziehenden und gemeinverständlichen Reiz thatsächlicher Schilderung aus einem Organe sprechen, dem Hunderttausende mit Empfänglichkeit und gespannter Erwartung lauschen. Darin lag das Neue und geschichtlich Bedeutsame in der Leistung Keil’s, in ihrem Charakter wie in ihrer Stellung, seitdem sie bei den Deutschen aller Stämme, aller heimischen und fernen Länder die trauliche Botschaft, in den Palästen wie in der Hütte der überall ersehnte und freudig empfangene Sonntagsgruß geworden war aus den Werkstätten der deutschen Geistesarbeit.

Ferne liegt hier die Absicht, ein Menschenwerk als fehler- und irrthumslos hinzustellen. Es wäre ja wunderbar, wenn gerade die „Gartenlaube“ nur immer die Vorzüge und nicht auch die Schranken und Schwächen der in ihr wirksam gewordenen Individualitäten hätte ausprägen sollen. Um solche Kritik aber handelt es sich in dieser Darlegung nicht, die aus einer ganzen Reihe sprechender Thatsachen nur einige derjenigen Punkte hervorheben wollte, welche das unbefangene Urtheil des zukünftigen Geschichtsschreibers wird bestehen lassen müssen. Was Keil betrifft, so wissen alle seine Bekannten, daß er selber niemals mit einer seiner Nummern zufrieden war und daß dies häufig der einzige Grund zu verborgen in ihm wühlenden Seelenverstimmungen gewesen ist. Je riesiger er die Zahl der Leser werden sah, die allwöchentlich mit Begierde der Gabe harrte, welche er ihnen sandte, um so mehr sah man ihn erfüllt und bewegt von dem Bewußtsein einer schweren Verantwortlichkeit, von dem Gefühl der Pflicht, einem solchen Vertrauen auch gerecht zu werden. Seit dem Eintritt dieser Wendung war es um die Ruhe seines Lebens, um den Frieden seines Herzens geschehen. Obwohl ein vortrefflicher Schriftsteller, hatte er doch seit dieser Zeit sogar der Befriedigung des eigenen Schaffens entsagt, und nur hin und wieder leuchtete bei besonderen Anlässen sein immer seelenvolles und doch scharf geschliffenes Wort aus den Spalten der „Gartenlaube“ hervor, wie dies unter Anderem in jenem herrlichen „Brief an eine Gläubige“ geschah, der weithin Aufsehen erregte und sich den Dank Unzähliger erwarb durch die ebenso gemüthswarme als kernige und treffende Züchtigung werth- und gehaltloser Modefrömmelei. Sonst aber war alle Anstrengung, alles Thun und Denken seiner Tage nur der speciellen Leitung und redactionellen Herstellung des Blattes, der Berathung mit den Redactionsgenossen, der Correspondenz und dem endlosen Strom von Arbeiten und Bedrängnissen, von unbeschreiblichen Sorgen und Schwierigkeiten gewidmet, welche besonders diese Redaction und namentlich die Herbeischaffung ihres Stoffes in steigender Weise mit sich führte, sodaß meistens die Stunden des Tages oder der Woche für die Erledigung nicht ausreichten.

Erstaunlich groß war die Menge der Briefe und Manuscripte, welche täglich aus allen Ländern und Weltgegenden an ihn persönlich einliefen, und seit Jahren ist wohl auch keine hervorragende Persönlichkeit der Literatur durch Leipzig gereist, ohne Keil in seinem Bureau aufzusuchen wie es wohl keinen deutschen Schriftsteller liberaler Gesinnung gab, der nicht einmal mündlich oder schriftlich mit ihm verkehrt, oder in näherer oder entfernterer Beziehung zu ihm gestanden hat. Wo producirende Talente nicht selber die Anknüpfung suchten, da war er es, der auch die Spröden, auch die Schüchternen und Unbekannten unter ihnen zu finden und mit der eigenthümlichen Unwiderstehlichkeit seines Rufes zu ermuntern und heranzuziehen wußte. Durch diese bereits erwähnte Wachsamkeit, diese niemals schlummernde Kraft der Anregung und Initiative hat er sich jenen überaus zahlreichen Stamm treuer und liebevoll mit ihm verbundener Mitarbeiter gewonnen, deren freudigem Schaffen und Leisten die „Gartenlaube“ einen wesentlichen Theil ihres Glanzes und Werthes verdankt. Viele dieser schriftstellerischen Männer und Frauen haben in ihm ihren treuesten Genossen, ihren wärmsten und zuverlässigsten Freund verloren, und nicht minder wird ihm auch ein dankbares Andenken in Unzähligen aus der bunten Menge jener Bitt- und Antragsteller aller Art gesichert sein, die ohne Unterlaß zu dem Pulte sich drängten, an dem er, mit Ausnahme einer kurzen Mittagsrast, von der Morgenfrühe bis zum späten Abend bei weit geöffneten Zimmerthüren stand und immer aufrecht und unverdrossen, wenn auch oft tief ermüdet, dem stürmisch auf ihn eindringenden Heer von großen und kleine Arbeiten und Pflichten, von behelligenden Zumuthungen, Unannehmlichkeiten und Aergernissen genügte, welche sein dreifacher Beruf als Führer und Verleger eines Weltblattes und Chef eines umfangreichen Verlagsgeschäfts ihm auferlegte.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_576.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)