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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Ein stolzer Zug flog um ihren Mund, und eine herbe Verachtung lag in dem Tone, in welchem sie erwiderte:

„Es ist mir Alles unwillkommen was von draußen aus der Welt kommt in die Abgeschlossenheit unserer Berge und unseres stillen Lebens.“

Das war eine wunderliche Sprache aus dem Munde eines Bergmannskindes, ein scharfer Contrast zu der Einfachheit, die sie umgab, und zu der frommen Einfalt der Leute, welche sie ihre Angehörigen nannte.

„Das sind strenge Ansichten – vielleicht auch ungerechte.“

Sie schüttelte halb verneinend das Haupt und schien gehen zu wollen, aber wie einige Stunden früher, so stand ihr der Fremde auch jetzt im Wege.

„Wir werden Hausgenossen, und es ist nicht mehr als schicklich, daß Sie und die Ihrigen wissen, wen man unter dem gastlichen Dache aufgenommen – ich bin ein simpler Professor, komme aus B. und nenne mich Ehrenfried Winter.“

Wie gleichgültig die Miene war, mit der sie ihm zuhörte! Das Mädchen schien nur auf den Augenblick zu warten, in welchem er ihr den Weg freigab.

In seinem Wesen lag etwas Kampfbereites, das er der stolzen Gleichgültigkeit dieses Kindes der Berge entgegensetzte.

„Sie schulden mir nun die Nennung Ihres Namens! Wie ruft man Sie?“

Mit einer schnellen Bewegung warf sie den dunklen Kopf zurück: „Gratiana!“ Dann war sie an ihm vorüber eilends die Steinstufen hinabgeschlüpft und im Hause verschwunden.

Der Professor faßte nach seiner Stirn und rieb sie, als müsse ihm dadurch Klarheit in seine Gedanken kommen. „Gratiana,“ wiederholte er, blieb noch eine Weile sinnend stehen und blickte auf die duftenden Resedablüthen nieder. Endlich stieg er langsam die Steinstufen hinunter.




Länger als eine Woche beherbergte das letzte Haus des Bergstädtchens den Professor aus B. in seinen bescheidenen Räumen. Er schien sich in dem stillen Winkel so wohl zu befinden, als habe er nie ein anderes Leben gekannt. Seit seiner Ankunft hatte er die Straßen der kleinen Stadt noch nicht wieder durchschritten; er machte lange Spaziergänge hinaus in’s Freie, brachte die übrige Zeit bei seinen Büchern und die Abende häufig neben dem Lehnstuhl der alten Großmutter zu. Beim schwachen Scheine des Oellämpchens lauschte er ihrem Geplauder, oft so eifrig, als docire sie ihm wunderbar Neues und Gelehrsames; der Bergmann rauchte dazu behaglich seine Pfeife und streute dann und wann etwas mit ein, einen uralten Vers, Weisheits- und Lebensregeln, oder er erzählte von bösen Wettern und Bergmannsabenteuern. Selten ergänzte das schöne, kalte Mädchen die kleine Tafelrunde – dann hatte sie ein Strickzeug in den flinken Händen, das schnell in denselben wuchs; sie fertigte unzählige buntfarbige Kinderschuhe, wie andere Harzfrauen und Mädchen Strümpfe und Röckchen. Diese Strickindustrie, deren Erlös nicht viel bedeutet, ist über den ganzen Oberharz verbreitet, selbst Frauen, die Berg auf und ab die schwersten Lasten auf dem Rücken schleppen, sieht man nie ohne Strickzeug, das sie während des Gehens fleißig fördern.

Nur einmal hatte der Professor nach der Hausgenossin, die er von den Andern „Janchen“ nennen hörte, gefragt und zur Antwort erhalten, daß sie Abends den alten kranken Lehrer und dessen Schwester besuche. Blieb sie daheim, so saß sie still, theilnahmlos seitwärts auf der Holzbank über ihre Arbeit geneigt. Schlug’s neun Uhr, die Stunde, wo die Großmutter schlafen ging, dann erhob sie sich geräuschlos, zündete dem neuen Hausbewohner das Talglicht auf dem Messingleuchter, dem Prachtstück des Hauses, an und reichte ihm dasselbe mit einem leisen „Gute Nacht“.

Tagsüber huschte sie stets wie ein scheues Reh an ihm vorüber oder entfloh schon von Weitem, sobald sie ihn kommen sah; der Professor hatte seit jenem Gespräch im Garten auch keine Annäherung wieder versucht, er wollte es sich selber nicht gestehen, daß ein ärgerliches Gefühl ihn beschlichen, als er am ersten Abend auf seinem Zimmer den Resedastrauß vergeblich gesucht hatte. Er nannte in seinen Selbstgesprächen – und die hielt er in der Stille seines Zimmers oft – das Bergmannskind ein scheues, unheimliches Geschöpf, was ihn aber doch nicht hinderte, demselben, so oft er es sah, nachzublicken.

Das Wenige, was er an Bedienung beanspruchte, besorgte Vater Gottlieb, der oft vor Verwunderung über die Genügsamkeit des gelehrten Herrn staunte – denn als solchen taxirte er ihn besonders, nachdem er die gewaltigen Bücherkisten gesehen, welche für den Professor Winter angekommen waren.

„Wie wollt Ihr die nur wieder zusammenbringen,“ sagte er beinahe ängstlich, „wenn Ihr plötzlich einmal geht?“

„Daran denke ich ja nicht,“ lachte Ehrenfried, „es gefällt mir bei Euch.“

„Aber der Winter kommt, da schneien wir ein und sitzen gefangen monatelang – wie wird Euch das behagen?“

„Ich werde mich doch nicht vor dem Besuch meines Namensvetters fürchten, Vater Gottlieb – seid unbesorgt!“

Und er ordnete seinen Bücherschatz mit einem wahren Wohlbehagen, pfeifend und singend, mit sich selbst redend und Regen, Nebel und Wind, die um das kleine Haus ihr Wesen trieben, völlig dabei vergessend.

Jetzt stand er vor der letzten Kiste, deren Deckel der alte Bergmann gesprengt hatte, und bückte sich nach ihrem sorgsam verpackten Inhalt. Das erste, was seine Hände griffen, war ein vielumhüllter flacher Gegenstand, der ihm selber einen Augenblick wie unbekannt erschien zwischen all den Büchern großen und kleinen Formats, den schweinsledernen Folianten und broschirten Werken. Er riß hastig die Hülle ab und hielt ein Bild in goldglänzendem Rahmen in der Hand, auf das er erbleichend niederschaute. Es war ein blonder Frauenkopf mit großen, brennend-schwarzen Augen, der den Beschauer mit lieblichem Lächeln begrüßte. Ehrenfried Winter’s Stirn zog sich jedoch in immer düsterere Falten, je länger er auf das in halber Lebensgröße wiedergegebene schöne Antlitz sah.

„Das hatte ich nicht gewollt,“ murmelte er, „nun verfolgt sie mich auch hier in meiner glücklichen Einsamkeit, hier, wo ich sie zu vergessen dachte.“

Er legte das Bild mit einer beinahe heftigen Bewegung nieder und trat an das kleine Fenster. Wind und Regen draußen; der Wald in der Ferne sah aus wie ein dicker schwarzer Strich, der am nebelgrauen Horizont entlang gezogen war.

„Vergessen –“ wiederholte er, „das ist nicht das rechte Wort; warum sollte ich sie vergessen? – ich will mich ihrer erinnern, nur sie zu verachten. Und darum –“ er drehte sich schnell um – „soll sie hier in meinem stillen Stübchen einen Platz haben mit ihrem lächelnden, falschen Gesicht, damit ich ihr Abends und Morgens meine Verachtung in dasselbe schleudern kann. Und wenn es Ahnungen giebt, wie meine weise, alte Großmutter dort unten bei ihrer Seligkeit wettet, so –“

Er ging auf den Gypsboden des Vorflurs hinaus, lehnte sich über das Treppengeländer und rief hinab:

„Vater Gottlieb, wollt Ihr mir nochmals Euren Hammer leihen?“

Eine Frauenstimme gab ihm Antwort, daß sein Rufen gehört worden sei, dann trat er in’s niedrige Zimmer zurück und durchschritt dasselbe einige Male, als wolle er damit seine Aufregung niederkämpfen. Am Tische fesselte das Bild wieder seine Aufmerksamkeit, sodaß er stehen blieb und es nochmals prüfend anblickte. Er stieß dabei mit dem rechten Arm einen Haufen Bücher, die scharf an der Kante gelegen, hinab; selbst das Poltern schreckte ihn nicht auf, und das Klopfen an der Thür mußte zum dritten Male wiederholt werden, ehe seinen Lippen das „Herein!“ entglitt. Leise öffnete sich die kleine Thür, und Janchen trat auf die Schwelle.

„Die Großmutter schickt mich, weil der Vater soeben zu seinem sterbenden Vetter gerufen worden ist,“ sagte sie mit ihrer vollen Altstimme und schritt näher, um ihm das Gewünschte zu überreichen.

„Gut!“ entgegnete er flüchtig, ohne sie anzusehen, ging zum Tische, nahm das Bild, stieg auf das kleine, dünnbeinige Sopha, das man für den Miethsmann erst auf einer Auction erstanden hatte, und prüfte die Stelle an der Wand, in welche er den Nagel schlagen wollte.

Janchen war zu den auf dem Boden liegenden Büchern geeilt, um sie aufzuheben; mitten in ihrer Beschäftigung innehaltend blickte sie dann plötzlich in das eine und las, des Professors Gegenwart vergessend, einige Zeilen darin.

Ueber der Beschäftigung mit dem Bilde beachtete Ehrenfried

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_588.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2016)