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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Was meintet Ihr denn mit dem Bücherlesen, Großmutter?“ „Das ist,“ erwiderte die Alte halblaut, „was mir nicht gefällt; es hebt sie über ihren Stand hinaus, und das hat noch niemals gut gethan. Man soll reden und denken wie Seinesgleichen, wenn man mit ihnen zu leben hat; sonst giebt’s ein Mißverhältniß. Es ist kein angenehm Gefühl für einen Mann, wenn er denken muß, daß das, was er mühsam zusammenliest und schwer in seinem Kopfe ordnet, so leicht von seinem Weibe verstanden wird, ja, daß sie vielleicht Alles richtiger und klarer sieht, als er selber. Ich bin eine alte Frau, Herr Professor – nehmt es nicht für ungut, aber ich kann nur sagen, wie es bei mir gewesen ist. Ich konnte nicht lesen noch schreiben; ob mein Mann damit besser fertig werden konnte, weiß ich nicht, denn er ließ mich nichts davon merken. Ich habe mich immer nach seinem Willen gerichtet; da hatte ich selber nichts zu verantworten; ich dachte auch nicht darüber nach, ob’s gut oder nicht vortheilhaft war, was er wollte, denn bei unserer Trauung droben in der Kirche hatte der Herr Pastor gesagt: ‚Der Mann soll des Weibes Haupt sein‘. – Ich habe so glücklich mit meinem Gottlieb selig gelebt,“ fuhr sie trübe fort, „bis das böse Wetter kam, das dreiunddreißig Bergleuten das Leben kostete. Was ich damals ausgestanden! – Gott bewahre andere fromme Seelen vor dem! Mein Knabe war drei Jahre alt, Herr; dort draußen auf der Schwelle spielte er, als die Nachricht kam von dem Unglücke. Ich hörte nur den Namen ‚Dorothea‘ – dort arbeitete mein Mann – und stürzte davon, athemlos. Ich wollte mich ja überzeugen, daß er gesund und wohl oben sei – die Leute sahen mich entsetzt an, als ich fragen wollte, und da wußte ich mein Schicksal. Vierundzwanzig Stunden habe ich neben dem Schachte auf den Knieen gelegen – er war der Letzte, den sie brachten.“ Ihre zitternde Stimme brach ab; die Nadeln klapperten einen Augenblick schneller; endlich fand der Professor, den die Erzählung der schlichten Bergmannsfrau sonderbar ergriffen hatte, den Muth zu der Frage:

„Und dennoch, Großmutter, obwohl Euch die Grube den jungen Gatten raubte, ließet Ihr den Sohn den gleichen gefährlichen Beruf wählen?“

Sie faltete die Hände. „Den hat Gott geschützt! Wir sind es so gewöhnt nach altem Herkommen; er hat all seine Einfahrten in die ‚Dorothea‘ gemacht, wo sein Vater den Tod fand, und er hat sein Alter für einen Bergmann hoch gebracht; er zählt siebenundfünfzig Jahre – gewöhnlich sterben die Männer jung bei uns; das thut die Arbeit unter der Erde.“

„Und Eure Enkelin war früh mutterlos?“

„Die Jane,“ sagte sie, nicht direct seine Frage beantwortend, „ja, von der redeten wir eigentlich, und vom Schulmeister wollte ich erzählen. Sie war ein heller Sinn von klein auf, Herr Professor, so ein Begreifalles, wie man wohl sagt. Wir mußten sie in die Schule schicken – das war so mit der Zeit zum Gesetz geworden, und der Lehrer, Herr Anton, hatte seine Freude an ihr. Wie der nun krank wurde und endlich vom Amte ging, ließ er sie zu sich in’s Haus kommen und unterrichtete sie in Dingen, die sie droben in der Volksschule nicht lernte. Es war sein Vergnügen, und der Gottlieb und ich blieben still dazu – nur Eins habe ich nicht gewollt, daß sie das Sprechen in anderen, fremden Mundarten lernte – seht, Herr, ich mußte doch verstehen können, wenn auch nicht mit dem Kopfe, was sie sagte und las.“

Der Professor blickte still in den leise herabrieselnden Regen; jetzt war ihm plötzlich Jane’s wunderliches Wesen begreiflich: sie stand im Denken und Wissen so weit über ihren Hausgenossen, und sie mühte sich, dieselben das nicht fühlen zu lassen – so war ein Zwiespalt in ihrem Innern geworden, der für ein streng beobachtendes Auge nicht ganz verborgen bleiben konnte.

„Mit der Zeit,“ fuhr die Großmutter fort, „ist mir’s aber nicht mehr recht gewesen. So lange sie ein Kind war, spürte man minder, daß sie mehr gelernt hatte, als es ihrem Stande zukam – jetzt habe ich oft meine Sorge. Das Mädchen blickt zuweilen so seltsam – wie, das kann ich Euch nicht sagen, aber ich habe dann ein Gefühl, als sei sie unzufrieden mit ihrem Schicksal.“

„Nein,“ entgegnete Ehrenfried, „Großmutter, damit thut Ihr der Jane doch wohl Unrecht.“

„Wäre auch Unrecht von ihr, denn Gott hat sie wunderlich beschützt,“ sagte die Frau in einem fast harten Tone. „Nun, wie’s auch ist, ich wollte sie seit der Confirmation nicht mehr hinablassen nach Zellerfeld zum Herrn Anton, aber der Gottlieb redete drein mit seinem guten Herzen und meinte, man müsse dem kranken Menschen die Freude nicht rauben. So schwieg ich denn still. Jetzt denke ich an den Conrad, und hat der erst vom Herzen herunter, was ihn drückt, so wird schon Alles in das Richtige kommen, die alte Großmutter ist ja auch noch da.“

„Und wird noch lange wachen und sorgen,“ setzte Ehrenfried Winter hinzu, um ihr eine Freundlichkeit zu sagen.

„Das warte ich in Geduld ab – ‚wachen und sorgen ist die Aufgabe der Frauen,‘ sagte meine Großmutter vor langen Jahren – ach, Herr Professor, das ist Etwas, womit man nicht zu Ende kommt. Es ist auch hier angebracht. Die vielen Akademiker, lustige Burschen und reiche, aus fremden Ländern, selbst aus Amerika, thun nicht allein den vornehmen Mädchen schön, sie sehen viel öfter nach den hübschen, und Janchen ist stattlich.“

„Ja, gewiß,“ bestätigte der Professor, dem es sehr heiß wurde in der engen Stube; „aber ich glaube, Großmutter, der Regen hat nachgelassen; ich könnte noch einen kleinen Gang in’s Freie wagen, ehe die Dunkelheit hereinbricht.“

Er nickte ihr Lebewohl zu und ging hinaus. Die Alte schaute ihm nach.

„Mir ist’s, als regnete es noch gerade so, aber das ist jung; das stürmt durch Alles – ich bin froh, wenn ich hier ruhig im Trocknen sitzen kann.“

Mit großen Schritten, den ausdrucksvollen Kopf gesenkt unter dem großen aufgespannten Schirme, ging der Professor sinnend durch das häßliche Wetter, der Richtung kaum achtend.

Es war eine wunderliche alte Frau dort in dem kleinen Hause, mit so verschollenen Lebensansichten und Regeln, und doch lag für ihn ein wahrer Genuß darin, ihr zuzuhören. Das Fertige, Abgerundete ihrer Gedankenwelt, welche so treu das Colorit der umgebenden Verhältnisse trug, machte einen eigenthümlich überzeugenden Eindruck und hatte überdies, in Verbindung mit dem klaren und geordneten Wesen der Redenden, etwas so Fesselndes und Beruhigendes zugleich, daß für den Lauscher das bunte, schillernde Leben draußen in der Welt verschwand und mit ihm die schöne, herzlose Frau, welche ihm solchen Abscheu gegen Welt und Menschen eingeflößt hatte, daß er in die Einsamkeit geflohen war. Dazu boten ihm die Alte mit ihrem Sohne, dem Bergmanne, noch ein anderes Interesse; sie wurden für ihn zu Typen, aus denen er die Charaktereigenthümlichkeiten des Volksstammes aus dem rauhen Harzgebirge studiren konnte. Und Janchen? „Gratiana,“ sagte er, wenn er jetzt zu sich selber von ihr sprach – war sie nicht die interessanteste von Allen? Nur daß sie nicht in den engen Rahmen ihrer Umgebung passen wollte. Freilich, nach dem eben geführten Gespräch wußte er warum; aber doch wollte es ihn bedünken, als sei es nicht die etwas bessere Bildung allein, welche sie aus dem Rahmen des ganzen Bildes heraushob, als liege in ihrer ganzen Persönlichkeit etwas ihrer Umgebung Fremdes. Und dennoch sie – das herbe, eigenartige schöne Mädchen dereinst eine Bergmannsfrau wie die Großmutter? mußte er sich fragen. Mühsam arbeitend in Haus und Garten oder immer und immer strickend – jetzt bunte Schuhchen, dann Kinderstrümpfe – und später, wenn viele, viele Jahre mit bösen Wettern und zusammenstürzenden Schachten vergangen waren, in dem noch wackeliger gewordenen Lehnstuhl der Großmutter die endlos langen wollenen Jagdstrümpfe – er stieß mit dem Fuße nach einem Steinchen und schleuderte es weit hinweg. Es war ein unerträglicher Gedanke!

„Ja, sie ist schön,“ sagte er plötzlich laut vor sich hin, „so schön, daß ich am Ende … Ja, wie gesagt, wenn ich noch ein junger Fant wäre – –“

„Sonderbar,“ meinte er nach einer Weile, sich umschauend, „da bin ich, ohne etwas zu wollen, auf den Weg nach Zellerfeld geraten – was Einem doch nicht Alles passiren kann! Ich könnte über Dich lachen, Ehrenfried, alter Knabe, sieht das nicht beinahe aus, als ob …“

Sein Selbstgespräch hatte ein Ende; er befand sich bereits zwischen den noch niedrigen Häusern des Schwesterstädtchens von Clausthal, Zellerfeld, das von jenem nur durch den kleinen Zellbach getrennt wird. So nah einander und fast eins, halten doch die Bewohner beider Orte streng auf ihre verschiedenen Sitten und Privilegien, und die Clausthaler dünken sich als Berghauptstädter noch ein gut Theil mehr.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_602.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2017)