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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Ehrenfried ging langsamer und wie am Tage seiner Ankunft in der Schwesterstadt auch hier jedes Haus genau betrachtend; es schien fast, als wollte er die Wohnung des Schulmeisters zu entdecken suchen. Und obwohl er sich selber dieser Absicht nicht klar bewußt war, flog doch, als er aus dem kleinsten Hause Rosmarin und Nelken freundlich durch die Scheiben blinken sah, ein Lächeln um seinen Mund. Den Schirm tiefer über’s Haupt haltend, wie um nicht erkannt zu werden, schritt er näher; die Blumen erinnerten ihn an Gratiana’s Fenster, vielleicht daß hier – und richtig, er hatte sich nicht getäuscht. Dort hinter dem kleinen Lebensbaume saß sie; er sah deutlich ihre schweren schwarzen Flechten: sie hatte den Rücken nach dem Fenster gedreht, damit das letzte Tageslicht um so besser auf das Buch fallen konnte, welches sie in der Hand hielt.

„Sie liest ihm vor, dem kranken Lehrer – sie hat eine weiche Altstimme, die angenehm beim Vorlesen klingen muß,“ setzte der schnell an dem Fenster Vorüberhuschende sein Selbstgespräch fort. „Aber sie wird gleich den Heimweg antreten, der alten Frau wegen.“

Er ging vielleicht hundert Schritt von dem Häuschen entfernt, in welchem er das Mädchen wußte, auf und nieder, die Blicke beobachtend auf die kleine Thür gerichtet. Nur wenige Minuten verstrichen, und Gratiana trat aus dem Hause, von einer andern weiblichen Gestalt begleitet, welche erst an der nächsten Straßenecke Abschied von ihr nahm. Es rieselte noch immer ein feiner Regen hernieder; das Mädchen war ohne Schirm, und ganz in der Ferne ihr folgend, überlegte der Professor, ob er schneller gehen und ihr den seinigen zum Schutz bieten solle. Schon war er beinahe bei dem „Ja“, das er mit allerlei menschenfreundlichen Gründen sich selber abzuringen gewillt war, angelangt, als er plötzlich eine männliche Gestalt quer über den Weg und auf das Mädchen zueilen sah. Noch konnte er deutlich trotz der Dämmerung unterscheiden, daß dieselbe schlank und jugendlich war und die ebenso kleidsame wie malerische Tracht der Akademiker trug, den faltigen schwarzen Wollkittel, mit Münzen auf der Brust verziert.

Er blieb stehen, seine Augen fest aus das Paar gerichtet, das mit einander redete; nur dumpfe Laute drangen zu ihm. Das Blut stieg ihm heiß hinaus zum Herzen, daß es schneller schlug – die Worte der Großmutter fielen ihm ein – ihr Sorgen und Wachen war doch erfolglos gewesen.

Er wollte nicht horchen, aber unwillkürlich machte er einige Schritte auf das Paar zu.

„Nein, nein!“ hörte er des Mädchens tiefe Stimme sagen.

„Fräulein Jeanne, ich beschwöre Sie –“ das Andere, was der fremde junge Mann schnell und aufgeregt sprach, ging ihm verloren.

„Nein,“ wiederholte sie, „die Großmutter wartet; halten Sie mich nicht auf – gute Nacht!“

Der Fremde schien ihr nur zögernd den Weg frei geben zu wollen und unschlüssig zu sein, ob er ihr folgen sollte oder nicht; da hörte er Ehrenfried’s festen Tritt und bog schnell in eine Seitenstraße.

Immer in geringer Entfernung sah der Professor die schlanke Mädchengestalt vor sich; immer in derselben Entfernung folgte er ihr, aber er dachte nicht mehr daran, trotz des Regens, ihr seinen Schirm anzubieten; er hatte eine unangenehme Empfindung gehabt und konnte seine fröhliche Laune nicht wieder gewinnen.

Erst nachdem Janchen einige Minuten schon die Schwelle ihres Elternhauses überschritten hatte, trat auch der Professor ein. Der alte Gottlieb bot ihm einen freundlichen Gruß, auf den er kürzer als sonst antwortete; er sprach seine Wünsche für den Abend in wenig Worten aus und stieg sofort die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, das er heute nicht wieder verließ.

„Den hat’s gefröstelt draußen,“ sagte die Alte, „ich habe mir’s gleich gedacht.“




Der Professor hatte eine schlaflose Nacht gehabt. Er glaubte, es sei die Folge einer Erkältung, welche er sich bei dem feuchten Wetter zugezogen. Es regnete nur schwach noch, und als er, früh sich erhebend, im Morgengrauen aus seinem Fenster sah, prophezeite er einen guten Tag. Noch standen die Sterne am Himmel; die Bergleute mit ihren flimmernden Lichtern am Gürtel wanderten nach den Gruben; „Glück auf!“ riefen sie ihm zu, „Glück auf!“ gab er zurück, und jedes Mal lag bei ihm ein aufrichtiger Wunsch in diesen beiden kleinen Wörtern.

Die frische Luft machte ihn schaudern; er nannte sich einen „leichtsinnigen Burschen“ und schloß das Fenster. Unter und neben ihm schien noch Alles zu schlafen; es war ihm zuweilen, als höre er Gottlieb’s feste Athemzüge durch die Bretterwand, welche sein Gemach von demjenigen des Bergmanns schied.

Auch Gratiana schlief sicher noch; ebenso die Großmutter; was das Mädchen wohl träumte? Von ihm, welchen sie am gestrigen Abend ohne Wissen der Großmutter gesprochen, oder von dem frischen Bergmanne, der sich schon so lange schüchtern mit seinem Herzenswunsche trug? Was kümmerte es ihn – ihn, der vielleicht morgen schon den Ort verließ und nie mehr an das kleine Haus und seine schlichten Bewohner dachte! Nie mehr? Gewiß nicht – nur – das Eine hätte er doch wissen mögen, ob Jane’s Schicksal wohl so ausfiel, als er sich’s gestern vorgestellt. Er hatte heute nicht einmal zu dem Bilde Constanzens aufgesehen – so sehr beschäftigten ihn seine Gedanken über den vergangenen Tag. Als der Morgen klar heraufgestiegen war, ging er, seinen Winterrock überziehend, hinunter, oder eigentlich hinauf in den Garten.

Gratiana saß indessen unten im Stübchen, wo ein trübes Licht brannte, die Feder in der Hand, vor einem Aufgabenheft; sie brütete bereits eine Weile über einen geschichtlichen Aufsatz, hatte aber noch nicht einmal den Anfang gefunden. Sie lauschte auf die Schritte dort oben über ihr und wunderte sich, warum der Professor schon so früh unruhig hin und her gehe. Gestern hatte sie einen frischen Epheuzweig um das Frauenbild geschlungen und mußte nun immer daran denken, wie erstaunt und erfreut er wohl darüber gewesen sei; denn daß ihm jenes schöne Bild theuer, darüber war kein Zweifel.

„Es wird seine Braut sein,“ hatte die Großmutter gesagt, als sie ihr davon erzählt, und sie selber mußte dazu nicken.

Dann dachte sie Beide nebeneinander – die glanzvolle Frau und ihn! O, er war stattlich, männlich, und wenn er mit der Großmutter sprach, so verschönte sich sein ausdrucksvolles Gesicht wunderbar. Mit ihr hatte er kaum freundlich geredet, und sie hatte das selbst verschuldet, zuerst damals im Garten – und dann kürzlich, als er denken mußte, sie hätte ihn behorcht. Noch stieg ihr die Gluth in die Wangen, wenn sie daran dachte. Aber sie hatte das Alles wieder gut machen wollen, indem sie das Bild der Frau schmückte, die er liebte.

Es war jetzt draußen heller, als drinnen bei der kleinen Lampe; sie löschte dieselbe aus, aber der Anfang für ihren geschichtlichen Aufsatz wollte sich noch immer nicht finden.

Der Professor sah über den kleinen Gartenzaun hinaus in der Richtung des Brockens, von dem eben eine Wolkenschicht nach der andern herabfiel, als er plötzlich ein Husten neben sich vernahm, als wolle Jemand seine Aufmerksamkeit erregen.

Er blickte um sich und gewahrte einen Knaben, einen „Puchjungen“, wie das Volk in der Harzsprache die im Pochwerk beschäftigten Knaben nennt – eine ihrer Wildheit und boshaften Späße wegen ziemlich berüchtigte angebliche Corporation.

„Wo ist die Jane?“ fragte er grinsend, ohne jeden Gruß. „Ich laufe seit einer Stunde um das Haus und kann nicht dafür, wenn ich’s nicht heimlich abmache.“

„Was?“ fragte Ehrenfried erstaunt.

„Nun – den Brief von dem fremden Bergschüler, den sie Baron nennen. Ich bekomme mein Trinkgeld erst, wenn ich ihn abgeliefert habe.“

„Wo ist der Brief?“

Der Junge machte eine Grimasse.

„Erst versprechen Sie mir, daß Sie nichts sagen gegen den Baron! Die Alten drin sollen auch nichts wissen. Sonst geht es mich nichts an; ich kriege so wie so meinen Rüffel, weil ich zu spät komme.“

„So gieb! Ich werde ihn abliefern.“

Die schmutzige Hand schob den Brief über den Zaun, ein Spottwort verklang im Davonlaufen im Munde des unhöflichen Boten. Der Professor blickte mit gerunzelter Stirn auf das kleine Billet, das die Aufschrift „An Fräulein Jeanne“ trug.

„Arme Großmutter,“ flüsterte er, „wenn Du das Resultat Deiner Wachsamkeit kennen würdest! O Weiber – so sind sie Alle! Wer hätte hinter jener weißen Mädchenstirn Gedanken an Rendezvous und heimlichen Briefwechsel gesucht!“

Er durchmaß den schmalen Fußweg noch zweimal, das Billet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_603.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2018)