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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

daß es gewiß ganz interessant wäre, wenn er den Herrn Anton, den kranken Lehrer, einmal aufsuche. „Zur besseren Orientirung“, sagte er sich dabei, als müsse er vor sich selber gewissenhaft einen Grund angeben. Daß diese „bessere Orientirung“ wiederum dem schönen Mädchen galt, wollte er sich eben so wenig gestehen, als daß es ihr Bild gewesen, welches ihn in den letzten Tagen von früh bis spät allein beschäftigt hatte.

Er hatte den Weg nach dem kleinen Hause leicht wiedergefunden und stand, die Finger um den Thürgriff gelegt, eine Weile wie zögernd vor demselben; dann machte er schnell entschlossen die Thür auf. Ein Glöckchen klingelte, und sofort öffnete sich seitwärts eine andere Thür, die des Wohnzimmers, und ein blasses freundliches Mädchen sah ihn fragend an.

„Professor Winter,“ sagte er seinen Hut ziehend.

„Ah – der Herr Professor!“ rief eine schwache Stimme von innen, „Riekchen, bitte, führe den Herrn Professor zu mir!“

Ueber die Schwelle tretend, gewahrte Ehrenfried anfänglich kaum die kleine, verkrüppelte Gestalt des Sprechenden, die sich mühsam aus der Sophaecke erhob und eine Verbeugung zu machen suchte: „Herr Professor Winter, Sie sind mir sehr willkommen – und durchaus kein Fremder mehr; ich kenne Sie bereits aus Jane’s Erzählungen.“

Winter’s Gesicht hellte sich auf, und er reichte dem Lehrer die Hand; das blasse Mädchen rückte einen Stuhl für ihn heran.

„Es ist schön, daß ein Mann wie Sie einen armen Kranken aufsucht,“ versetzte die dünne Stimme des Lehrers, nachdem Riekchen das Zimmer verlassen. „Ich habe selten einen Besuch, der mir von draußen erzählen kann.“

Ehrenfried wußte nicht recht, wie er sein Kommen eigentlich motiviren solle; deshalb schwieg er ganz darüber und sagte:

„Aber Sie haben in Ihrer freiwilligen Verbannung doch Anregung – durch Bücher, Herr Anton.“

„Freiwillig? ach, Herr Professor, sehen Sie mich an und fragen Sie, ob das freiwillig ist! Den mißgestalteten Körper hatte ich wohl von Kindheit an – aber nun ist seit Jahren eine Krankheit der Augen dazu gekommen … o, wie viel Seufzer hat die mich schon gekostet! Thränen darf ich nicht sagen, denn weinen darf ich nicht. Ja, wäre die nicht gekommen! Aber was ist dagegen anders zu machen, als mit frischem Gleichmuth das Unabänderliche zu tragen. Ich finde mich zurecht. Meine Welt ist von jener Thürschwelle begrenzt, und doch lebe ich in ihr ein mir genügendes Dasein.“

Der Professor ließ seine Blicke durch das kleine Gemach schweifen; Bücher überall auf Gestellen hoch an den Wänden aufgestapelt, auf Seitentischen mit Rococofüßen und neugesetzten glatten Platten, einige Blumenstöcke an den kleinen Fenstern, vor einem derselben ein Nähtisch, auf welchem das unvermeidliche Strickzeug lag, vor dem Sopha der Tisch mit Büchern und Papier, vier hochbeinige und hochlehnige geschnitzte Stühle, die wohl ein Jahrhundert schon gesehen, ein winziger Spiegel, ein riesiger Kachelofen mit blauen Ritterfiguren, eine kleine Schwarzwälderuhr, die eben ihr „Kukuk!“ rief – das war diese Welt.

Er drückte unwillkürlich die Hand des kleinen Mannes, der sich mühte, unter dem grünen Augenschirm hervor seine Züge zu unterscheiden.

„Sie sind auf dem Harze geboren, Herr Anton?“

„Ja, ja – wie Sie hören werden, kann ich auch den Anklang an den Dialekt nicht ganz vermeiden. Früher war der einmal beinahe fort, als ich in Heidelberg zwei Semester studirte, Philologie, Herr Professor – ach, Heidelberg ist der Glanzpunkt meines Lebens!“

„Aber –“

„Ich weiß, was Sie sagen wollen,“ fiel der Kranke dem Professor in’s Wort, „Sie sollen gleich meine ganze Lebensgeschichte haben. Es ging nicht weiter mit dem Studiren; mein Vater starb; Vermögen war nicht da, aber meine Mutter und das Riekchen, ein ganz kleines Kind. Was blieb da übrig? Ich mußte ein Ende mit dem Studiren machen – das schnitt in die Seele – aber das Muß ist ein gewaltig Triebrad; ich that’s und war glücklich, als man mir in Rücksicht auf die Verhältnisse hier eine Stelle an der Volksschule übertrug, sodaß ich für Mutter und Schwester sorgen konnte. Ich hatte viel auszustehen mit den wilden Harzburschen und manchmal unter ihrem rohen Spott zu leiden – na, das erträgt ein Philosoph. Aber weil ich weiter fortschreiten wollte und auch Privatstunden zu geben hatte, arbeitete ich Nachts viel, und das hat endlich den Augen so sehr geschadet, daß ich mein Amt niederlegen mußte und nun so dasitze.“

Verwundernd blickte Ehrenfried den Erzählenden an. Trotz allem Traurigen, was Jener berichtete, hatte sein Herz sich eine gewisse Fröhlichkeit bewahrt. Er sagte ihm das offen.

„Es ist weniger mein Verdienst als Temperamentsache des echten Harzers,“ erwiderte der kleine Lehrer, es steckt so etwas Unverwüstliches in uns, und für Sie sollte es auch interessant sein, diesen Volksstamm zu studiren, der seine großen Eigenarten hat. In allen Lagen des Lebens behält der Harzer eine gewisse Zähigkeit und die Fähigkeit, sich über Schmerz und Leid hinaus noch ‚ein fröhlich Herz‘ zu bewahren. Kennen Sie unsern Trinkspruch von altersher? Bei keiner festlichen Gelegenheit darf er fehlen; er eröffnet jedes Freudenmahl; früher als des Landesherrn denken wir unser selber, indem wir sagen:

‚Es grüne die Tanne, es wachse das Erz —
Gott schenke uns Allen ein fröhliches Herz!‘

„Sehen Sie, neben dem äußern Gut, das uns unsere Berge schenken, gedenken wir des schönsten Erdenbesitzthums, eines fröhlichen Herzens. Ich habe mancherlei über meine Landsleute gesammelt; dachte einmal ein Buch zu schreiben, aber das ist auch so ein verlorener Wunsch geblieben. Ich dictire dann und wann noch etwas aus dem Material der Jane in die Feder.“

Professor Winter seufzte auf bei dem Namen: Jane.

„Ihre dankbare Schülerin, Herr Anton,“ sagte er lebhaft, „das Mädchen schuldet Ihnen seine ungewöhnliche Ausbildung, die ich mit Erstaunen wahrnahm.“

„Sie nahmen sie wahr?“ fragte Herr Anton fast zweifelnd. „Sie ist sonst sehr scheu und läßt selten durchblicken, was sie weiß, aber – dankbar, ja, das ist sie. Stundenlang mag sie sitzen und lesen, weil’s meine Augen nicht mehr können. So brachte sie mir auch kürzlich freudestrahlend das Ihnen entliehene Buch – wir schreiten langsam damit fort; dieser Engländer, der zu unserer Beschämung Goethe besser kennt als mancher unserer Landsleute, giebt mir zu vielen Erörterungen und Jane zu Fragen Anlaß – ich bin Ihnen so sehr für das Buch verbunden.“

„Bitte,“ sagte Ehrenfried, und setzte dann erstaunt hinzu: „und Jane kennt Goethe, Schiller? – das ahnte ich nicht.“

„Ah,“ lächelte der Lehrer, „das wußte ich ja; sie läßt davon nichts heraus. Aber ich sage Ihnen, das Mädchen hat ein besseres Verständniß für unsere Dichter, als manche vornehme Dame. Wir haben alles Mögliche in unserem Stundenplan, sogar Physik und Chemie – nur eine Concession machten wir der alten Großmutter, wir treiben keine fremden Sprachen.“

„Herr Anton,“ rief Ehrenfried, und drückte auf’s Neue die schmale, krankhaft blasse Hand, „welch ein Verdienst haben Sie sich da im Stillen erworben! Diese Mädchenseele höherem Wollen und Können zugänglich gemacht zu haben, ist in der That ein Verdienst.“

Das bleiche Gesicht überflog ein trauriges Lächeln. „Wie man’s nimmt, Herr Professor. Es war anfangs der Lerntrieb des Kindes, der mich reizte; dann stellte ich immer größere Anforderungen – und lernte dabei selbst auf’s Neue mit ihr; sie ist jetzt mein guter Camerad.“

„Und später?“ fragte der Andere.

„Ah, ich habe nicht lange Zeit mehr – das fühle ich. Die Jane hat dann gelernt, wie man sich selber durch’s Dasein kämpft!“

„Oder – man hat sie mit all dem, was Sie ihr erschlossen, mit all ihren Geistes- und Seelenvorzügen für immer an kleinliche Verhältnisse gefesselt.“

„Was wollen Sie damit sagen, Herr?“ fragte der Lehrer, sich angstvoll aufrichtend.

„Daß man sie einem Bergmann zur Frau giebt, damit sie lebt, und endet, wie ihre Vorfahren.“

„Nein, das ist unmöglich. An so etwas dachte ich niemals – und doch, o Herr Professor, wenn Sie damit Recht hätten!“

Die Glocke der Hausthür und dann ein Klopfen an der des Zimmers unterbrach die aufgeregt gewordene Unterhaltung. Ein junger Mann in akademischer Kleidung trat ein.

„Ah, zu außergewöhnlicher Zeit?“ fragte der Lehrer, als Jener in fremdklingenden Accente seinen Gruß gesagt.

„Ich bringe ein Buch.“

„Herr Baron Negris – Herr Professor Winter! Ein

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