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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

erfüllen. Noch hatte man sich in Taufers-Sand für hinreichend sicher gehalten, denn man glaubte, daß die breiten Steindämme den Ort vor Unheil schützen müßten. Bei dem Grauen des Tages aber erkannte man, welche erschreckenden Verwüstungen die immer wachsenden Fluthen während der Nacht angerichtet hatten. Die Fahrstraße, welche auf starkem Unterbau längs des Ahrenbachufers an der Schloßruine vorbei in das Thal gen Luttach führte, war bereits von den andrängenden Wogen vollständig zerstört, und immer weitere Strecken des Weges nach dem Dorfe Sand zu verschwanden vor dem Anpralle der Fluthen.

Der Damm, der jetzt noch die letzte Schutzwehr für das Dorf bildete, erzitterte unter dem unaufhörlichen Anstürmen der Stein- und Wassermassen. Die Gefahr wuchs zusehends, und immer mehr ward es zur Gewißheit, daß hier menschliche Hülfe vergeblich sei. Jetzt eilten die entsetzten Bewohner in ihre Häuser und Hütten, um das Vieh nach dem Bergabhange zu schaffen. Dabei wurde noch in fliegender Hast von der armseligen Habe zusammengerafft, was sich rasch fortbringen ließ; kurz, das ganze Dorf hatte das Ansehen, als wären seine Bewohner auf der Flucht vor einem plündernd nahenden Feinde.

Das wilde Brausen der Wogen noch übertönend, erschollen plötzlich in der siebenten Morgenstunde vom Ufer her die Jammerrufe: „Der Damm ist gebrochen! Die Wasser kommen!“ In demselben Augenblicke aber wälzte sich auch schon die verheerende, schmutzige Fluth dem nach Süden etwas tiefer gelegenen Dorfe zu.

Mit ungefähr vierzig Personen, zum größten Theile Touristen und Sommergästen befanden wir uns noch in dem Gasthause „Zur Post“, welches, zu beiden Seiten durch Dorfgassen von den Nachbarhäusern getrennt, fast am südlichen Ende des Ortes liegt. Uns gegenüber nach der Bergseite zu und durch die Straße kaum fünfzehn Schritte von uns getrennt, lag das Gasthaus „Zum Elephanten“, welches von Fremden ebenso angefüllt war wie das unserige. Von den gegenüberliegenden Häusern bot sich Gelegenheit, sofort den anstoßenden Bergabhang zu erreichen, und diesen Vortheil erwägend, wollten wir noch rasch nach jenen Häusern hinüber fliehen, aber nur Wenigen gelang die Ausführung dieses Planes, denn mit Blitzesschnelle waren alle Dorfgassen zu ebenso viel brausenden Wildbächen geworden. Furchtbar war das Jammern; nicht minder furchtbar waren die Rufe um Hülfe, welche aus den bedrohten Häusern und Hütten ertönten, deren Bewohner sich gleich uns nicht mehr hatten vor der Fluth retten können. Händeringende, weinende Menschen starrten aus den Fenstern und von den Dächern herab in die mit jedem Augenblicke wachsenden Wogen. Aber die Jammerrufe mußten erfolglos verhallen, denn das tosende, entfesselte Element drohte jedem menschlichen Wesen, das sich zu eigener Rettung oder zum Schutze Anderer hätte hinauswagen wollen, mit sofortigen Untergange.

Für uns hing jetzt Alles davon ab, ob die Mauern der Häuser stark genug wären, den Anprall der Wogen und der mit denselben daherrollenden schweren Steinblöcke, sowie das Anstürmen der massenhaft aus den Fluthen daherjagenden Baumstämme, Brückenbestandtheile, Wagen, Hausgeräthe und Hölzer aller Art auszuhalten.

Hinter der als prächtiger Aussichtspunkt bekannten Veranda des Gasthauses „Zur Post“ befand sich ein Grasgarten, der von einer gegen vier Ellen hohen, aus großen Feld- und Bruchsteinen abgeführten starken Mauer umgeben war. Diese Mauer schien unserm Zufluchtsorte Schutz zu gewähren, denn an ihr theilten sich noch die Fluthen, zu beiden Seiten der „Post“ Abfluß findend, wobei sie die Dorfstraßen in kurzer Zeit zu theilweis klaftertiefen Flußbetten aufrissen. Noch immer aber stiegen die Wasser; bald hatten sie die Höhe jener Gartenmauer erreicht und stürzten nun cascadenartig aber dieselbe durch den Garten auf unser Haus zu. Da brach plötzlich ein großes, dicht hinter jener Mauer stehendes Schuppengebäude, welches uns auch noch einigen Schutz gewährt hatte, krachend zusammen und wenige Minuten später stürzte mit furchtbarem Gepolter ein großes Stück der starken Gartenmauer ein. Nun aber wälzte sich die ganze Macht des Stromes unbehindert auf unser Haus zu. Klirrend und ächzend brachen die im Erdgeschosse liegenden Fenster vor dem Anpralle der Fluthen, und jetzt ging der größte Theil des Wassers direct durch die unteren Räume des Hauses, durchbrach nach der Vorderseite Thüren und Fenster und fand so, schauerlich tosend und das ganze Haus mit eisiger Kälte erfüllend, ungehindert seinen Ausweg.

Unsere Lage wurde mit jeder Minute trostloser. Ueberall begegnete man bleichen Gesichtern. Eine Anzahl Frauen des Dorfes hatte in der „Post“ Zuflucht gefunden und saß nun in Verzweiflung jammernd und betend auf den Treppen des Hauses. Drüben am Bergabhange aber halten sich diejenigen Dorfbewohner gelagert, welche vor dem hereinbrechenden Wasser noch rechtzeitig hatten fliehen können. Nur wenigen war es gelungen, in der Eile einige Kleidungsstücke oder Betten mitzuschleppen. Und alle diese Unglücklichen mußten jetzt Zeugen sein, wie die Fluthen ihre ärmlichen Wohnungen zerstörten, wie die Wogen ihren kärglichen Hausrath fortspülten und an den Mauern der Häuser zerschellten. Noch jetzt treten mir die Thränen in die Augen, wenn ich an dieses schauerliche Bild des Elends und der Zerstörung denke.

Während voller fünf Stunden blieb das Wasser fast auf derselben gefährlichen Höhe; endlich machte sich ein langsames Fallen bemerkbar. Zwar hatten die Fluthen, welche unausgesetzt aus den öderen Thälern heranbrausten, noch nicht nachgelassen, aber zum Glücke für die Häuser der Dörfer Sand und St. Moritzen hatte etwas unterhalb des oberen Dammbruches plötzlich ein neuer Durchbruch stattgefunden, und durch diesen wälzte sich nun ein Theil der Wasserfluthen über die daselbst liegenden Felder, freilich nicht ohne die noch meist in Garben stehende reiche Ernte schonungslos zu vernichten und die Fluren in furchtbarer Weise aufzuwühlen oder hoch mit Steinen und Schlamm zu bedecken. Bald sollte nun für uns die Erlösungsstunde schlagen.

Die in dem uns gegenüberliegenden, geschützteren Gasthause wohnenden Fremden hatten schon längst berathen, wie uns Hülfe geschafft werde könne, aber so lange die Fluthe unser Haus noch so wüthend umtobten, wäre jeder Versuch, uns beizustehen, ebenso erfolglos wie gefährlich gewesen. Jetzt aber wurde unter aufopfernder Hülfe einiger zufällig anwesender Ingenieure, welche italienische Arbeiter mitbrachten, und unter dem Beistande der rüstig Hand anlegenden Fremden und Dorfbewohner mühsam, aber doch glücklich eine Nothbrücke mit zwei rasch gefällten mächtigen Tannen als Unterlage hergestellt, auf welcher wir endlich unserm gefährlichen Kerker entrinnen konnten. Der Ausweg durch die Thüren oder Fenster des Erdgeschosses war uns freilich verschlossen, denn fast vier Fuß hoch waren alle diese unteren Räume mit Sand und Schutt gefüllt, und die Gewalt des Wassers hatte diese Masse so fest geschlagen, daß dieselbe später nur langsam mit Hacke und Schaufel entfernt werden konnte. Wir waren also gezwungen, unsern Weg zur Nothbrücke aus den Festern des ersten Stockwerkes der „Post“ heraus auf Leitern zu nehmen. Aber wie leicht athmeten wir auf, als wir endlich wieder festen, sicheren Boden unter uns fühlten, und wie herzlich dankten wir allen denen, die ihre Kräfte bei unserer Befreiung bis auf’s Aeußerste angestrengt hatten! Später ließ uns die theilweise schon bloßgelegte Grundmauer der „Post“ mit Entsetzen erkennen, daß auf viel länger hinaus auch unser Zufluchtsort der Gewalt der vernichtende Fluthen nicht hätte widerstehen können.

Aber welch ein trauriges Bild der Verwüstung bot sich jetzt unseren Augen, als wir von der Höhe des Berges das gestern noch so schöne, liebliche Thal überblickten! Verwüstung, Jammer, so weit das Auge reichte! Fast keines der Häuser Sands war ohne erhebliche Beschädigung geblieben; einige waren fast vollständig zerstört, die meisten aber für lange Zeit ganz unbewohnbar. Am andern Ufer des Ahrenbaches im Dorfe St. Moritzen hatten die Fluthen fast noch schlimmer gewüthet; hohe Steinhaufen lagen um die Häuser; die Brücken waren fortgerissen und sämmtliche Mühlenwerke zerstört. Noch viel furchtbarer hatte das Wasser aufwärts nach Luttach zu und in den Seitenthälern, namentlich im Mühlwaldthal, gehaust. Nach Bruneck zu glich das Ahrenthal noch einem breiten See. Die Landstraße war auf große Strecken zerstört, Brücke um Brücke fortgerissen und so jede Verbindung nach Bruneck unterbrochen worden.

Den weitaus größten Schaden haben jedoch die Felder und Fluren erlitten. Das Tauferer Thal war fast durchweg gut und fleißig angebaut; besonders in diesem Sommer schien eine reiche Ernte die schwere Arbeit der armen Anwohner lohnen zu wollen, und nun haben die Fluthen erbarmungslos Alles, Alles hinweggerissen, zerstört und mit einem Schlage alle Hoffnungen vernichtet.[1]

  1. Man schätzt den in jener Gegend angerichteten Schaden auf fast zwei Millionen Gulden. Als ein Glück muß es betrachtet werden, daß wenigstens im Tauferer Thale Menschenleben nicht verloren gingen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_623.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)