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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Ich bin allerdings ausgewichen,“ behauptet der Andere.

„Aber zu spät,“ sagt der Erste.

Die ganze Verhandlung spitzt sich also auf die Frage nach der Distanz zu - wer aber soll nachträglich diese noch feststellen? Es bleibt Nichts als der Thatbestand, daß der Eine seinen Curs gegen das Gesetz geändert, der Andere das Manöver ausgeführt hat, und der unschuldige Capitain bleibt der Verurtheilte. Dieser Sachverhalt ist klar, und er zeigt dem Leser, daß man die gesetzlichen Bestimmungen nur als einen Rahmen betrachten darf, in dem möglichst viele Constellationen gruppirt zu werden vermögen, aber ein absolutes Mittel zur Verhütung von Collisionen möge man darin ja nicht suchen.

Nun wird bei dem oben angeführten Beispiele dem Leser doch noch ein Punkt unklar bleiben. Warum wich das andere Schiff nicht aus, wie es sollte? Kann das öfters vorkommen, und ist nicht lediglich leichtsinnige Führung schuld? Nun, zunächst giebt es auch Möglichkeiten genug, wo eine eigentliche Schuld nicht vorliegt, wie z. B. wenn alle Mann aus einem Segelschiffe mit einem der complicirten Manöver beschäftigt sind und das ansegelnde Schiff nicht bemerkt wird, oder wenn das eine Schiff, namentlich bei Nacht, sich im Curse des anderen irrt, wie wir oben schon ausführten, u. dergl. m. Nächstdem ist allerdings der Leichtsinn ein weiterer Motor und namentlich in der Weise häufig, daß das betreffende Schiff, vorausgesetzt, daß es das stärkere ist, sein Ausweichungsmanöver eben nur so weit ausführt, wie es die alleräußerste Nothwendigkeit erheischt. Aber es giebt leider noch schlimmere Motive für ein Nichtausweichen, als eine leichtsinnige Führung, Motive welche uns in die Tiefen menschlicher Brutalität und Niederträchtigkeit blicken und schließlich bei einer Thomas’schen Dynamituhr anlangen lassen.

So unglaublich es dem Leser klingen mag: der Capitain manchen Dampfers – und namentlich sind die Engländer hierin in schlechtem Rufe – fährt ein kleineres ihm begegnendes Schiff mit kaltem Blute in den Grund, aus keinem anderen Grunde, als weil er es in Uebermuth und Trotz dem Schwächeren gegenüber nicht für der Mühe werth hält, vom Curse abzuweichen. Und wie hier die Bestie im Menschen, so ist es in einem anderen Falle die Berechnung des Verbrechens, welche das Steuer führt: der gewissenlose, bankerotte Rheder will eine Collision des gut versicherten Schiffes, er hat am Capitain einen Spießgesellen gefunden, und was man am Lande ein Actienfeuer zu nennen pflegt, nimmt hier die Gestalt der Collision an, wenn die Möglichkeit nicht vorhanden ist, das Schiff auf andere Weise in unverdächtige Havarie zu bringen. Wie hier gerade der Capitain mit einigem Geschick den Gesetzesparagraphen zur Verdeckung des Verbrechens verwenden kann, haben wir soeben an einem Beispiele gesehen.

Soweit die Möglichkeiten und Bedingungen einer Collision, insofern die Führung in Frage kommt! Was nun die aus der Construction des Schiffes hervorgehenden Ursachen betrifft, so haben wir bereits darauf hingewiesen, daß das Segelschiff gegenüber dem Dampfer und das kleinere Schiff gegenüber dem größeren im Nachtheil ist. Ein ganz specieller Fall aber darf nicht unerwähnt bleiben, da er den Grund zu mancher Collision gegeben hat und voraussichtlich noch geben wird: die Verschiedenheit des Steuercommandos, der zufolge die das Mittelmeer befahrenden Schiffe der Franzosen, Italiener, Oesterreicher, Spanier, sowie die der scandinavischen Reiche das Steuerrad auf das Commando Backbord nach Backbord, also nach links, alle übrigen Nationen dagegen nach rechts drehen. Da es nun Sitte geworden ist, um Mißverhältnissen im Commando zu begegnen, dasselbe mit einer entsprechenden Armgeste zu begleiten, so wird nur allzu leicht z. B. folgender Fall eintreten: der Lootse ist gewohnt bei Commando Backbord das Steuerrad nach links zu drehen, der Mann am Steuer aber nach rechts, hebt der Lootse nun den Arm links, eine Drehung nach links beabsichtigend, so dreht der Mann am Steuer nach rechts, und das Unglück ist fertig.

Dem Leser dürfte bei einer solchen Perspective anfangen unheimlich zu werden. Indessen darf man sich die Sache nicht so vorstellen, als mache das Schiff die Fahrt unausgesetzt zwischen solchen Möglichkeiten. Diese werden sich überdies vermindern, und zwar ist in dieser Beziehung zunächst zweierlei zu wünschen: erstlich, daß alle einschlägigen Einrichtungen und Bestimmungen einen internationalen Charakter erhalten, was bis jetzt durchaus noch nicht der Fall ist, und zweitens, daß weitere Erfindungen eine größere Vervollkommnung der in Frage kommenden Apparate gestatten.

Wenn z. B. die neueren Erfindungen in Bezug auf Herstellung eines billigen und ausgiebigen elektrischen Lichtes sich bewähren, so wird davon die Sicherheit der Schifffahrt einen gewaltigen Nutzen ziehen, denn nicht nur werden die Signallichter dadurch eine größere Leuchtkraft und Einheit erlangen, sondern es wird wohl auch möglich werden, durch eine unter Deckniveau, vielleicht unterhalb des Bugspriets befindliche Laterne, welche ihr Licht nicht in See hinaus, sondern rückwärts auf den Rumpf des Schiffes wirft, diesen so grell zu beleuchten, daß man bei Nacht deutlich Curs und Fahrt auf bedeutende Entfernung beobachten kann. Es wäre dies um so leichter durchzuführen, als das elektrische Licht von so mancher erschwerenden Bedingung unserer bisherigen Beleuchtung unabhängig ist.

Ein anderer tröstlicher Gedanke entspringt dem Umstande, daß auf der Seestraße, auf welcher man wegen ihrer Frequenz in hervorragender Weise Collisionen ausgesetzt ist, naturgemäß auch die Aussicht auf Hülfeleistung und Rettung eine entsprechend größere sein muß. Dieser Umstand ist leider bei Ausrüstung unserer Dampfer, speciell der Passagierdampfer, noch durchaus nicht genügend berücksichtigt. Namentlich sind es zwei Punkte, die aus den Erfahrungen der letzten Zeit in Erwägung genommen werden sollten. Zunächst die Thatsache, daß, wenn der Einzelne sich längere Zeit über dem Wasser zu halten vermochte, die Möglichkeit seiner Rettung stieg. Dies weist deutlich auf die Nothwendigkeit hin, jedem an Bord Befindlichen einen leichten und sofort erreichbaren Rettungsgürtel oder besser noch eine für diesen Zweck präparirte Korkjacke zur Verfügung zu stellen, über deren schnelle Anlegung der Passagier nach der Abfahrt praktisch unterrichtet werden müßte.

Ein zweiter Punkt ist die namentlich bei Nachtzeit noch gesteigerte Verwirrung, welche durch die Passagiere erzeugt wird. Dieser Uebelstand aber beruht wesentlich darauf, daß man gewöhnt ist, den Passagier als ein hülfloses Packet anzusehen und in keiner Weise zur Selbsthülfe heranzuziehen. Zweifellos würde es sich als praktisch bewähren, wenn man die Rettungsboote numeriren und die Nummern vertheilt außerhalb und innerhalb der Kojen, sowie abtheilungsweise im Zwischendeck anbringen würde, sodaß je eine Gruppe von Passagieren gewissermaßen die Besatzung eines bestimmten Boots bildete, mit welchem ihre Platznummer correspondirt. Schon daß der Passagier fortwährend die Nummer der Koje sähe, bei jeder Promenade auf Deck an seinem Boote vorüber passirte, würde dem Strom der Passagiere, welcher sich im Moment der Gefahr über Deck ergießt, eine gegliederte Richtung geben. Dazu könnte man noch eine Reihe weiterer Maßregeln fügen, z. B. daß man die Passagiere von Nr. l mit denjenigen aus den Mannschaft, welche mit der Führung von Rettungsboot Nr. l im Voraus betraut wären, gleich bei Beginn der Fahrt bekannt machte. Auch ein täglicher Appell der männlichen Passagiere vor ihrem Boot, wobei sie stets genau denselben Weg von ihrer Koje dahin einzuschlagen hätten, würde sich in der Stunde der Gefahr vortrefflich bewähren. Dem Uebelstande, daß die Schiffskellner erst die Passagiere einzeln wecken müssen, wäre durch zahlreiche in den Kojen und dem Zwischendeck angebrachte elektrische Weckapparate abzuhelfen, die von der Capitainsbrücke und nur im Fall der Gefahr in Bewegung gesetzt würden, so daß sie eine ähnliche Aufgabe hätten wie das Abfeuern von Breitseiten auf der Kriegsmarine.

Endlich müßte auch eine sofortige grelle Beleuchtung des Decks, vielleicht durch während der Fahrt verkappte oder auf elektrische Selbstentzündung eingerichtete Laternen, stattfinden, wobei ganz besonders eine scharfe Beleuchtung der respectiven Bootsnummer vorzusehen wäre. Daß dann auch, ähnlich wie auf den Eisenbahnen, in jeder Koje Vorschriften bezüglich dieser Maßregeln in einem Reglement anzubringen wären, welches in mehreren Sprachen abgefaßt ist, versteht sich von selbst. Nun, es sind das eben einzelne herausgegriffene Vorschläge, welche, angesichts der jüngst wieder so schmerzlich empfundenen Gefahr von Schiffscollisionen, bezeugen mögen, daß hier weitere Sicherungsmaßregeln nicht nur geboten, sondern auch möglich sind.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_862.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)