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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

durchwandert, Einige beim Damen-, Schach-, Domino- oder Kartenspiel antreffen, während Andere mit Abschreiben einer Gedichtsammlung oder eines andern Buches oder mit Briefschreiben sich beschäftigen; Einige lesen, während Andere vorziehen, auf den Corridors oder im Garten zu spazieren und sich mit einander zu unterhalten, oder zu singen und zu spielen. Häufig wird ihnen auch vorgelesen, und die meisten älteren Zöglinge und viele unter den jüngeren ergreifen mit Eifer diese Gelegenheit, um für den fühlbaren Mangel an Reliefbüchern unterhaltenden Inhalts Ersatz zu finden. Wie hoch sie etwas Lectüre schätzen, geht auch aus dem Eifer hervor, mit dem sie sich durch Abschreiben eine kleine Büchersammlung zu verschaffen suchen, die sie aus dem Institute mitnehmen können; Alles, was sie auf diese Weise zuwege bringen, wird auf Kosten der Anstalt eingebunden.


Der Taubstumme.

Während ich in der Blindenwelt zu Hause bin, da ich in ihr lebe und wirke, komme ich zu den Taubstummen – das heißt im Allgemeinen Personen, die wegen Gehörmangels, nicht etwa zugleich durch organische Mängel der Sprechwerkzeuge, stumm sind – nur als Gast. Man wird es daher gewiß berechtigt finden, wenn ich mich bei Behandlung des Taubstummenunterrichts darauf beschränke, die verschiedenen Methoden, die zur Anwendung kommen, und das Verhältniß derselben zu den Fähigkeiten der Zöglinge und zu den Ansprüchen des Lebens darzustellen.

Bei der Aufnahme in’s Taubstummeninstitut ist das taubstumme Kind nur im Besitze eines sehr unvollkommenen Mittheilungsmittels, nämlich der natürlichen Zeichen- und Geberdensprache, mit der es sich in der Heimath hat behelfen müssen. Sie erinnert an diejenigen Zeichen, zu denen wir unwillkürlich greifen, wenn wir uns Jemandem in so großer Ferne mittheilen wollen, daß er uns nicht hören kann, oder wenn das Geräusch so stark ist, daß die menschliche Stimme nicht durchdringt, oder – wenn wir einem Tauben etwas mittheilen wollen und kein schriftliche Mittheilungsmittel bei der Hand haben.

Das taubgeborene Kind, welche in der ersten Zeit seines Lebens Wohlbehagen und Uebelbefinden auf dieselbe Weise wie andere Kinder geäußert hat, bildet sich späterhin eine eigene, aus Hand-, Arm- und Körperstellungen und -Bewegungen bestehende Vernunftsprache, durch welche es sich mit seiner Umgebung zu verständigen vermag. Sobald aber der kleine Taubstumme mit Fremden in Berührung kommt, fühlt er sich verlassen und allein. Schon im Spiele mit anderen Kindern hat er häufig das Unglück, nicht verstanden zu werden, und was muß er von den heiteren Kindern denken, die mit so großer Leichtigkeit einander verstehen, ohne solche Zeichen zu gebrauchen, wie er sie anwenden muß! Das Wort, nicht nur der Laut der Sprache, sondern die menschliche Sprache überhaupt ist Etwas, dessen Existenz er nicht ahnt. Wie ist es möglich, daß das taubstumme Kind sich in solchen Umgebungen zufrieden fühlen kann! Und es wird noch schlimmer, wenn es dasjenige Alter erreicht hat, in welchem andere Kinder anfangen, in die Schule zu gehen; es sieht sie lesen und schreiben, begreift aber nicht, wozu; es will gern dasselbe wie andere Kinder thun und lernen, ist aber davon ausgeschlossen und empfängt auf diese Weise ein lebhaftes und in hohem Grade drückendes Gefühl davon, daß es von anderen Kindern verschieden ist. Hierzu kommt noch das Bedürfnis, eine Menge Fragen beantwortet zu erhalten und die Sehnsucht nach steter Beschäftigung.

Bleibt der Taubstumme ohne Belehrung, so wird er stets auf der tiefsten Stufe geistiger Entwicklung verharren. Nicht so, wenn er noch jung in’s Institut aufgenommen wird. Hier eignet er sich zunächst sehr bald die übliche Geberdensprache an, eine symbolische Sprache, welche mit der Natursprache das gemein hat, daß sie aus Hand- und Körperstellungen besteht, aber darin von derselben verschieden ist, daß es dem Einzelnen nicht freisteht, die Zeichen willkürlich zu wählen, weil bereits die einzelnen Gegenstände, Eigenschaften, Handlungen und Begriffe durch bestimmte Stellungen und Bewegungen der Körpertheile, hauptsächlich der Hände, festgestellt sind. Es giebt Zeichen für Zeit- und Raumbestimmungen, für die Wortbiegungen, wie sie in Rede und Schrift vorkommen, etc..

Mancher Gegenstand wird durch eine Andeutung oder ein flüchtig skizzirtes Bild desselben bezeichnet, z. B. „Mann“ dadurch, daß die geballte rechte Hand gegen die Stirn gehalten wird, „Weib“, indem die hohle Hand auf die Brust gelegt wird. Als Beispiele von der Art und Weise, wie man die Eigenschaften der Dinge bezeichnet, wollen wir folgende Zeichen anführen: „schwarz“, eine Bewegung mit der Hand am Gesichte vorüber; „blind“, das Schließen der Augen, indem die rechte Hand das rechte Auge verschossen hält; „blau“, eine Bewegung mit der Hand aufwärts in einem Bogen (Andeutung des blauen Himmels); „ich“, bezeichnet man dadurch, daß man auf sich selbst deutet; „du“, indem man auf den Angeredeten deutet etc..

Diese Geberdensprache, welche – obgleich sie nicht zur Schriftsprache ausgebildet ist – zunächst an die Hieroglyphenschrift der alten Aegypter und an die symbolischen Zeichen der Chinesen erinnert, sagt dem Taubstummen sehr zu und bleibt neben und in Verbindung mit der künstlich erlernten Laut- und Schriftsprache ein vorzügliches Hülfsmittel im täglichen Verkehre.

Der schwerste Theil des Taubstummenunterrichts ist begreiflicher Weise die Aneignung der mündlichen Rede und der Schriftsprache. Wie kann der Taubgeborene, der von einer Lautsprache keine Vorstellung hat, seine Gedanken in Wörtern ausdrücken und dieselben aus Buchstaben zusammensetzen lernen? Das geschieht gewöhnlich auf folgende Weise:

Zuerst lernt das Kind zwischen Ausathmen und Hervorbringen der Stimme zu unterscheiden. Jenes bemerkt der Zögling, indem er die Kehrseite seiner Hand vor den Mund des Lehrers hält und das Ausathmen nachahmt, während er die andere Hand vor seinen eigenen Mund hält; das Hervorbringen der Stimme aber bemerkt er, indem er die Kehrseite seiner einen Hand gegen den Kehlkopf des Lehrers, und die Kehrseite seiner anderen Hand gegen seinen eigenen Kehlkopf hält und nun die Vibration nachzuahmen sucht, die er in der Kehle des Lehrers fühlt.

Die Unterscheidung verschiedener Laute wird dadurch erzielt, daß der Schüler die Mundstellungen des Lehrers nachahmt, indem er seine Hände bei den Mitlauten beständig vor seinen eigenen Mund und bei den Selbstlauten an die Kehle des Lehrers hält. Die Anwendung eines Spiegels, in welchem der Schüler seinen eigenen Mund und den des Lehrers gleichzeitig sehen kann, ist ein vorzügliche Hülfsmittel bei dem ersten Sprechunterrichte, sowie auch verschiedene Apparate benutzt werden, um die Sprachorgane des Schülers in die rechten Stellungen zu bringen. So lernt der Schüler allmählich alle Buchstaben kennen, entweder nur die geschriebenen und gedruckten und die Zeichen des Handalphabetes [1] (wie nach der Zeichenmethode – der französischen Methode) oder zugleich die Lautbuchstaben (wie nach der Lautmethode – der deutschen Methode), während gleichzeitig durch Anwendung der Buchstaben zur Bildung von Wörtern, deren Bedeutung man mittelst Bildern erklärt, der Vorstellungskreis erweitert wird.

Von Wörtern, welche Gegenstände und deren Eigenschaften und Zustände bezeichnen, geht der Lehrer zu Sätzen über, indem die Schüler dasjenige benennen lernen, was Personen, Thiere oder Dinge thun, oder in welchem Zustande sie sich befinden; Alles wird durch bildliche Darstellungen erläutert.

Wenn man bedenkt, auf welche Weise das hörende Kind sprechen lernt, wie die Sprache gewissermaßen sprießt und sich entfaltet, blüht und Früchte trägt, wie die Schwierigkeiten der Aussprache allmählich besiegt werden und der Wortvorrath sich bereichert, dann wird man wahrnehmen, daß die beiden wichtigsten Factoren dabei die Nachahmung und die Wiederholung sind. Und wie natürlich fällt die Nachahmung, wie leicht kommt die Wiederholung! Ja, und wie früh kommt nicht diese Aneignung! Und wie gut versteht die liebevolle Mutter instinctmäßig gerade dasjenige Verfahren zu wählen, das für jeden einzelnen Fall das beste ist, sich nach den Fähigkeiten des Kindes zu richten und bei Schwierigkeiten den Muth aufrecht zu erhalten! Und späterhin: wie strömt einem die Sprache überall entgegen, und wie oft hört man dieselben Ausdrücke, dieselben Beziehungen, dieselben Wendungen und Redensarten, sodaß sich diese wohl zuletzt im Gedächtnisse befestigen und dermaßen Wurzel schlagen müssen, daß sie zum geistigen Eigenthum werden! Aber der Taubstumme? Wie ist seine Stellung diesem reichen Vorrathe gegenüber? Für ihn ist es eine fremde Sprache, die er sich mühsam aneignen muß, ohne sich auf die Analogie stützen zu können, die

  1. In deutschen Anstalten wird das Handalphabet nicht mehr benutzt.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_036.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)