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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


um auch diese Stunden nicht als gänzlich verlorene ansehen zu müssen. Ein Vergnügen, eine geistige Erholung sind sie mir nie gewesen, wohl aber konnte ich sie in anderer Weise ausnutzen.

Erstens gewöhnte ich mich, in diesen Frauen-Kaffees wirklich zu arbeiten, während die meisten Damen die Arbeit nur zum Scheine in den Händen herumdrehen. Ich wählte deshalb eine einfache Strickerei, die man bei jedem Gespräch, bei jeder Beleuchtung ungestört fortsetzen kann, und machte feinere Handarbeiten (wenn ich überhaupt solche machte!) lieber allein zu Hause. Es ist nicht selten vorgekommen, daß ich an solchem Gesellschaftsabend einen ganzen Kinderstrumpf fertig gestrickt habe.

Ferner machte ich die Entdeckung, daß es unter meinen Nachbarinnen keine Einzige gab, von der ich nicht in irgend einer Beziehung lernen konnte. Es kam blos darauf an, heraus zu bringen, welches die starke Seite, das Steckenpferd einer Jeden sei. Dies zu erforschen war nicht schwer, und sobald ich darüber klar war, hörten die Gesellschaften auf, mich zu langweilen. Ich wußte gewöhnlich meine Nachbarin am Kaffeetische bald auf das Feld zu bringen, wo sie gut bewandert war, und es interessirte mich sehr, von den Kenntnissen derselben zu profitiren. Natürlich spricht Jeder am liebsten von dem, was ihm am geläufigsten ist; so war unser Gespräch stets animirt, ob ich nun mit der einen Dame über Küche und Oekonomie, oder mit der anderen über Krankenpflege und Kinderbehandlung sprach, ob diese mir neue Kleiderschnitte und Moden, oder jene neue Bücher und Musikalien empfahl. Ich kam fast niemals nach Hause, ohne recht nützliche Kenntnisse eingesammelt zu haben, und oft waren es so wichtige und brauchbare Dinge, die ich gelernt hatte, daß ich auch diese Abende nicht als verlorene betrachten kann.

Die allergrößte Zeitersparniß ist es aber, wenn man sich gewöhnt, Nichts auf morgen zu verschieben, was heute schon gemacht werden kann. Wenn ich irgend eine Arbeit beendet habe, so frage ich mich: Was ist nun wohl das Dringendste für die nächste Stunde, oder für den folgenden Tag? und nehme das Dringendste zuerst vor. Fällt mir aber nichts ein, was diese Stunde oder dieser Tag fordert, so denke ich immer weiter hinaus und frage mich: Kann es einen Nachtheil haben, wenn ich schon heute erledige, was eigentlich erst für morgen, für die nächste Woche oder noch später gebraucht wird?

Oft kann man ja nicht vorarbeiten, aber wo man es thun kann, ist es eine große Zeitersparniß. Ich habe stets schon im Herbst die ganze Wintergarderobe der Kinder in Stand gebracht; meine Kleinekinderwäsche hat gewöhnlich vier Wochen, ehe der neue kleine Weltbürger erwartet wurde, fertig bis auf’s letzte Bändchen im Schranke gelegen; ich weiß keine Weihnachten, wo ich nicht mit allen meinen Arbeiten acht, ja vierzehn Tage vor dem Feste fertig gewesen wäre; die Bestellungen für einen Boten, der am Morgen zur Stadt gehen soll, liegen gewiß am Abend zuvor bereit; die Briefe, die der Postbote Mittags abholen wird, stecken schon um zehn Uhr Vormittags im Briefkasten etc.

Dieses Vorausarbeiten ist so leicht, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat; und es bringt außerdem den großen Vortheil, daß man eigentlich niemals eine dringende Arbeit hat. Kein Besuch empfängt dann den peinlichen Eindruck, daß er uns ungelegen kommt. Man macht auch in Folge dessen Alles mit voller Ruhe und Accuratesse und hat stets Zeit für etwas Unerwartetes übrig. Ja wahrlich, in diesem Vorarbeiten liegt der zuverlässigste Schlüssel zu dem Geheimniß, immer und für Alles Zeit zu haben.

Ausnahmen giebt es natürlich überall. Es kann Augenblicke geben, wo ich den Zeiger der Uhr in steigender Angst vorrücken sehe, während ich, anscheinend ruhig und aufmerksam, einen Zeitungsartikel vorlesen höre. Das kann schon vorkommen, aber mag’s doch! Lieber soll eine Frau solche kleine Opfer bringen, als das häßliche Wort im Munde führen: „Ich habe keine Zeit.“ –

Und noch Eins gehört zu diesem Capitel.

So viele Mütter höre ich klagen, daß sie nicht Zeit genug haben, sich ihren Kindern so viel zu widmen, wie sie gern möchten. Die eine wird durch die Sorge um das jüngste Kind oder durch die Pflege eines kränkelnden Gatten abgehalten, die andere durch die Mühen einer großen Wirthschaft, biese durch eigene Krankheit oder Schwäche, jene durch angestrengte Handarbeit, um ohne fremde Hülfe die Kleidung für eine zahlreiche Familie stets nett und sauber im Stand zu halten.

Allen diesen braven und treuen Müttern möchte ich heute ein Trosteswort sagen:

„Nicht blos durch Belehren und Beschäftigung mit ihnen erzieht Ihr Eure Kinder, sondern fast am meisten durch Euer Beispiel. Die Zeit, die Ihr scheinbar Euren Kindern entziehen müßt, ist nicht für sie verloren, wenn sie nicht in Faulheit, Leichtsinn oder Vergnügungen verschwendet wurde. Wohl hat eine Mutter sich schwere Vorwürfe zu machen, welche in den Freuden der großen Welt schwelgt, oder die kostbaren Stunden mit unnützer Romanlectüre verträumt; Du aber, die Du durch andere Pflichten von Deinen Kindern abgerufen wirst, sei ohne Sorge! Durch jede Handlung treuer Pflichterfüllung, durch jede stillfreudige Entsagung, durch jedes gern gebrachte Opfer erziehst Du Deine Kinder. Du arbeitest nicht nur an ihrer Erziehung, indem Du mit ihnen lernst, spielst, spazieren gehst oder ihnen Geschichten erzählst, nicht nur, indem Du ihre Unarten rügst und ihre Fehler strafst, nein! Du arbeitest daran eben so, vielleicht noch besser in den Stunden, wo Du ihren kleinsten Bruder säugst oder ihren kranken Vater pflegst, wo Du mit flinker und geschickter Hand ihre Kleider nähst oder für sie am Kochherd stehst; ja, ich glaube fast, Du trägst zu ihrer Erziehung am meisten bei, wenn Du eignes körperliches Leiden mit Geduld und Sanftmuth zu ertragen verstehst.“

Ich weiß eine Mutter, die ihren Kindern unendlich Großes geleistet hat, obgleich sie verurtheilt war, die besten Jahre ihres Lebens liegend zuzubringen und große Leiden dabei zu erdulden. Wer von uns Kindern hätte es gewagt, die geliebte Mutter durch eine Unart zu betrüben! Wer hätte nicht alle seine Kräfte aufgeboten ihr Freude zu machen, wenn wir sie mit dieser Engelsgeduld, mit dieser stets gleichen Freundlichkeit leiden sahen!

Es ist ein tröstlicher, erhebender Gedanke, daß eine Mutter ihr ganzes Leben, jede Stunde desselben, anwenden soll, aber auch anwenden kann zur Erziehung ihrer Kinder.


4. Man muß von zwei Uebeln das kleinere wählen

und über diese Wahl sich so rasch wie möglich klar werden – das ist die größte Lebenskunst, die wichtigste und unentbehrlichste; das ist eine Fertigkeit, welche wir unsern Kindern nicht früh genug lehren und einprägen können. Der einfache Fall, wo wir zwischen zwei Handlungen zu wählen haben, von denen die eine offenbaren Vortheil, die andere ebenso unleugbaren Nachtheil im Gefolge hat, ist leider sehr selten. Es versteht sich von selbst, daß hier auch dem beschränktesten Verstande die Wahl leicht fallen wird. Mehr Klugheit aber gehört dazu, und oft große Geistesgegenwart, scharfes und klares Urtheilsvermögen, um, wenn nach beiden Seiten hin sich Nachtheile zeigen, sofort zu entscheiden, welche von beiden die kleineren sind. Es ist merkwürdig, daß man dieses Erkennens, dieses freiwilligen Ergreifens eines kleinen Uebels, um dadurch ein größeres zu vermeiden, fast stündlich bedarf, ja, ich möchte kühn behaupten, die Hauptaufgabe unseres Lebens ist: von zwei Uebeln das kleinere zu wählen. Ich will mit den kleinen, ganz unscheinbaren Vorkommnissen des häuslichen Lebens beginnen.

Ich öffne früh die Augen und meine erste, fast instinctive Wahl ist die zwischen der noch vorhandenen Schlaflust und dem Versäumen dieses oder jenes Geschäftes durch zu spätes Aufstehen. Die Entscheidung wird getroffen, der Schlaf abgeschüttelt, und ich stehe auf. Ich erwarte an diesem Vormittag mit ziemlicher Gewißheit Besuch, habe aber auch verschiedene Arbeiten in der Wirthschaft vor, die ein besseres Kleid verderben könnten, also: Was soll ich anziehen? Das Uebel, von dem Besuch im Wirtschaftscostüm überrascht zu werden, ist das kleinere und wird demnach gewählt. Nun trete ich hinaus in die Küche. Die nachlässige Magd hat sich daraus entfernt, und der große schwere Suppentopf für das Hofgesinde ist im Begriff überzukochen. Hier darf die Wahl zwischen beschmutzten, vielleicht verbrannten Fingern auf der einen Seite, und häßlichem Geruch durch’s ganze Haus nebst Verlust an Milch auf der andern Seite nur eine Secunde dauern. So geht es fort, Stunde für Stunde, Tag für Tag; es ist leicht ersichtlich, daß man solcher Beispiele, je nach Stand, Geschlecht und Alter der Menschen wechselnd, Millionen anfuhren könnte.

Der Fälle will ich noch gar nicht gedenken, wo die Wahl so selbstverständlich ist, daß sie keine Ueberlegung erfordert. Wer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_055.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)