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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Venetianische Tage.
Von Otto Girndt.


„Das ist Venedig?“ – „Dieses trübe, schmale Wasser der weltberühmte Große Canal?“ So fragten wir beiden Reisegefährten beim Heraustreten aus dem Bahnhof und sahen uns mit langen Gesichtern an. Am liebsten wären wir spornstreichs umgekehrt. Aber wir hatten einmal Wohnung vorausbestellt; die schwarze Wasserdroschke, Gondel genannt, nahm bereits unser Gepäck auf – so mußten wir uns denn bequemen, den festen Boden zu verlassen.

Der Octobertag goß eine Wärme aus, wie in Norddeutschland der Juli, und doch schlug eine Thurmuhr schon die vierte Nachmittagsstunde, als die Canalfahrt begann. Der Gondolier wies bald rechts, bald links auf Gebäude mit glanzlosen Fenstern und geschwärzten Säulen, die aussahen, als hätten sie über Nacht einer Feuersbrunst widerstanden, und dabei flossen von seiner rauhen Lippe historisch bekannte Dogen- und Heldennamen, deren Träger einst hinter den verwitterten Marmorwänden auf ihren Lorbeeren geruht. Uns sank das Herz von Minute zu Minute tiefer. Diese Bauten, die man eher für alte Spitäler halten möchte, waren die stolzen Paläste der venetianischen Großen? Und jetzt zeigt sich gar im zweiten Stockwerk eines der hervorragendsten ein hexenartiges Weib und schüttet ihre Müllschippe auf den Balcon des ersten Stocks. Sind wir wirklich am Hofe der Königin der Adria? Da – wir nähern uns der Rialtobrücke. Sie entspricht unsern Vorstellungen so wenig wie Canal und Paläste. Nun aber vollends erst die kleineren Canäle, in deren einen die Barke plötzlich einbiegt, um schneller unser Ziel, die Riva degli Schiavoni (den Slavonier-Quai) zu erreichen! Eine gemischtere Gesellschaft von Düften, als die uns in den engen Wassergassen den Odem versetzt, ist undenkbar, und daß die Pest sich hier nicht in Permanenz erklärt, bleibt ein Wunder. Körperliches Uebelbefinden gesellt sich zu unserer Niedergeschlagenheit; wir murmeln Dante’s Hölleninschrift: „Ihr Eintretenden, laßt alle Hoffnung schwinden!“

Auf einmal schießt die Gondel unter einer dunklen Brücke hervor. Was ist das? Ein Traum? Nein, die Riva, und mit ihr Licht und Luft in mächtiger Fülle! Die weite Wasserfläche der Lagunen (Strandseen) dehnt sich vor dem Blick, mit ruhenden und schwebenden Schiffen besäet, im Hintergrunde auf Inseln schimmernde Kuppeln und schlanke Thürme, die Kirchen San Giorgio Maggiore und Maria della Salute: ein prachtvolles Hafenbild! Doch uns bleibt keine Zeit, uns von der Ueberraschung zu erholen und betrachtend zu genießen, denn der Nachen legt an; so viel Gepäckstücke wir haben, so viel Lastträger stürzen sich darauf. Man zweifelt, ob man bestohlen oder bedient wird. Eilig folgen wir den Vorläufern, die in unserm Gasthof verschwinden. Er ist ein „deutsche Haus“, doch wo in der Heimath haben wir uns durch ähnliche Gänge treppauf, treppab gewunden? Die Entfernung von der Landungsstelle bis in unser Obdach betrug kaum hundert Schritte: trotzdem fordern die Lastträger für ihre „ungeheure Mühe“ einen Lohn, als hätten sie Hercules-Arbeiten verrichtet. Der Zank und Handel mit den Burschen ernüchtert die Seele wieder, die beim Anblick des Hafens willens war, an Venedigs Schönheit zu glauben. Desgleichen verstimmt uns die Musterung der niedrigen Räume, die wir bewohnen sollen. Aber ein Schritt an die Fenster, und wir sind ausgesöhnt: wir schauen geradehin über die grünliche Fluth bis zum Lido, der langgestreckten Insel, welche die Lagunen vom eigentlichen Meere trennt; wir sehen links die halbkreisförmige Riva in dem Grün der „öffentlichen Gärten“ enden; wir entdecken rechts den Dogenpalast und den Marcusthurm, das Häusergewirr siegreich überragend.

Hinter der majestätischen Santa Maria della Salute, an der Mündung des Großen Canals, sinkt die Sonne, und gleichzeitig taucht im Osten die Mondsichel auf. Zu unseren Füßen auf der Riva neigt sich aber das Leben des Tages nicht zum Ende, im Gegentheil, es scheint erst recht zu erwachen. Zeitungsverkäufer eilen dahin, ihre Blätter ausbietend; dazwischen preisen wandernde Obsthändler in langgezogenen Rufen ihre Limonen, Pfirsiche, Trauben und Nüsse an; Andere schleppen paarweis kleine Tische voll gerösteter Kürbisstücke daher, eine Speise, die dem Nichtkenner eher Schauder, als Begierde erregt; Froschtöne werden hörbar: „acqua, acqua!“ von Wasserträgern ausgestoßen; die Stimmen überschreien einander, sie alle betäubt indessen der Lärm der Straßenjugend, die sich balgt und rauft, als sollten die Köpfe abgerissen werden, und sich dann unverhofft lachend umhalst. Diese Rangen sind die ausgelassensten, lustigsten, die irgend auf Erden toben können. Sieh’, da klettert ein halbes Dutzend in’s Takelwerk eines Fischerbootes, und ein Haufen von Cameraden jauchzt am Ufer ihren Luftkunststücken zu, bis der Schiffsbesitzer, der vor dem Kaffeehause in der Nähe sein Pfeifchen geschmaucht, sich Bahn durch den Knäuel bricht, in sein Fahrzeug springt, die lebendigen Früchte vom Mastbaume schüttelt, der Reihe nach über’s Knie legt und die weichgeprügelten wie große Fische über Bord an’s Land wirft. Weint und winselt nun etwa die bestrafte Brut? Bewahre! Nur unbändiger lacht und tanzt sie.

Die Sonne ist verschwunden. Wallende Silberfäden streut der Mond über den Wasserspiegel, sie hier und da zu blitzenden Schleiern verwebend. Maria della Salute steigt zusehends von ihrer Insel auf Feuersäulen hinunter in die Fluth – der Widerschein angezündeter Laternen bewirkt das blendende Schauspiel. Jetzt lautet die Losung: „Marcusplatz!“, der seinen höchsten Effect hervorbringen soll, wenn man seine erste Bekanntschaft am Abend macht. Die Luft ist so weich und lau – es wäre lächerlich, Mäntel mitzunehmen. Auf der kurzen Strecke passiren wir vier weiße Marmorbrücken und stehen zwischen den beiden Riesensäulen, die den Marcuslöwen und den heiligen Theodor, den frühesten Schutzpatron Venedigs, tragen. Rechts der rothe Dogenpalast, links die ehemalige Bibliothek, vielleicht das harmoniereichste Bauwerk der Stadt, beide begrenzen die Piazzetta, gleichsam die offene, einladende Vorhalle des Marcusplatzes. Neben der Bibliothek ragt der freistehende Marcusthurm, und an den Dogenpalast schließt sich vorspringend die Marcuskirche mit ihren Rund- und Spitzbogen, Frescogemälden, Nischen, Statuen, Statuetten und Arabesken, so bunt wie ein Marcipan-Gebilde, wenige Schritte vorwärts wie eine Theaterdecoration in Märchenspielen wirkend. Augen links: der Marcusplatz liegt vor uns, von den alten und neuen Procuratien nebst ihrem Verbindungsflügel eingefaßt. Gascandelaber erleuchten fast taghell das große Rechteck, in dessen Mitte Militärmusik ein tragbares Orchester besteigt. Die Arcaden der Procuratien empfangen ihr Licht durch sich selbst aus den Gewölben der Korallen-, Goldschmuck-, Bilderhandlungen und Cafés, die sich in steter Abwechselung an einander reihen.

Und wie vor Sonnenuntergang die Riva den Tummelplatz der barfüßigen Jugend abgegeben, so findet sich beim Abendconcert das erwachsene Publicum auf dem Marcusplatze zusammen. Die Capelle spielt unentgeltlich, als wäre Venezia noch Republik. Auch der Eindruck, den die Zuhörer machen, ist republikanisch; denn alle Stände sind gleichmäßig vertreten. Weiße Weste und Augenglas, Schifferblouse, Uniform, Oberrock, Jacke wogen hart neben einander hin, und der Pariser Damenhut, der leichte schwarze Schleier über dem bloßen Scheitel des Bürgermädchens, die künstlichste Frisur, wie die ursprünglichste Haartracht, die nie der Zahn eines Kammes getroffen, berühren sich im Gewühl, aber – berühren sich zart. Die verstreuten Sicherheitsbeamten sind nur zu eignem Vergnügen da; sie finden keinen Wirrwarr zu lösen, nirgend Hader zu schlichten; denn die Ordnung bleibt von selbst Herrscherin unter der Menge. Ueberall, so belebt die Unterhaltung sein mag, wird sie ohne Getöse geführt, und der Fremdling gewinnt die Ueberzeugung, daß in der Bevölkerung Venedigs großes Anstandsgefühl wohnt. Nimmt er vor einem Café Platz und schaut sich das Treiben an, so kommt eine Behaglichkeit und Ruhe über ihn, die ihn mit Lächeln an seine Einfahrt in den Großen Canal zurückdenken läßt. Als wäre der Marcusthurm der Thurm zu Babel, fängt unser Ohr ein Gewirr von Sprachen auf, zu dem die Nationen Afrikas und Asiens Laute liefern, wie alle Völker Europas; denn dem schwarzen nubischen und dem braunen indischen Schiffer ist der Zutritt so wenig verschlossen, wie russischen Fürsten und britischen Lords. Verdi’s schluchzende, Meyerbeer’s schmetternde Melodien locken mit jeder Viertelstunde mehr Freunde des Promenadenconcerts herbei. Aber italienische Frauenschönheit kommt uns selten zu Gesicht, und das rothgoldene Haar des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_083.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)