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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Um die neunte Morgenstunde kam Pater Thomas, um mir im Krankendienste beizustehen, da der anwesende Arzt gesagt, er könne sich nicht länger als bis zum Mittag in der Schenke aufhalten. Es wurde nach einem Arzt in der nächsten Ortschaft geschickt, und unter seiner Leitung blieben Pater Thomas und ich als Krankenpfleger.

Ich hatte dem Pater in den ersten fünf Tagen die Pflege von Maria’s Vater überlassen, um der Verführung zu entgehen; allein ich begegnete ihr zuweilen auf der Treppe und jedesmal sagte sie mit niedergeschlagenen Augen:

„Gott grüß’ Euch, Pater Josias!”

Am sechsten Tage fühlte sich ihr Vater etwas wohler und verlangte nach mir.

„Warum seid Ihr nicht bei mir geblieben, Pater Josias?“ fragte er.

Ich erröthete.

„Da ich stärker bin als Pater Thomas, so habe ich die drei Verwundeten übernommen und ihm den leichteren Dienst bei Euch überlassen.“

Während ich sprach, war Maria hereingetreten und hatte sich an’s Fenster gestellt; da ihr Vater sie rief, kam sie näher.

„Maria,“ sagte er, „dieser Pater hat mir viel Gutes erzeigt, mehr als ich Dir sagen kann. Bewahre sein Andenken in Deinem Herzen und segne ihn!“

Da schlug Maria die schwarzen Augen auf voll Angst und Betrübniß und sagte sehr leise:

„Pater Josias, ich werde immer an Euch denken in meinem Herzen und ich segne Euch.“

Und als ob sie meine Antwort nicht nur vernehmen, sondern auch sehen wollte, sah sie mich immer noch an, da sie schon nicht mehr sprach. Ich weiß nicht, was ich ihr darauf sagte, aber ich weiß, daß die Mönchsmaske mir vom Gesichte fiel, und daß Maria in meinen Zügen den Schmerz und vielleicht auch die Liebe des Mannes las.

„Ich danke Euch, Pater Josias,“ sagte sie und ging in die Kammer zurück.

Von diesem Tage an theilte ich mit Pater Thomas die Pflege ihres Vaters, dessen Zustand sich rasch besserte. Wenn Maria in der Stube war, so nahm ich, am Bette sitzend, mein Brevier und las darinnen; ich las Buchstaben, aber keinen Sinn. Der Himmel, von dem das Brevier sprach, verschwamm, zerfloß, verschwand vor dem Himmel, der in Maria’s Angesicht und in Maria’s Stimme lag.

Maria wußte nun, wohin meine Anbetung ging, wenn ich die Augen auf’s Brevier senkte, und ich fühlte von ihrem Herzen zu dem meinen einen Strom gehen, in welchen ich immer tiefer versank.

Ihr Vater werde sein Leben lang leidend bleiben, hatte der Arzt gesagt; bei diesen Worten hatte sich der Kranke mit wilder Geberde aufgerichtet und ausgerufen:

„Lebenslang leiden?! Habe ich nicht genug gelitten seit sechszehn Tagen? Dann besänftigte er sich und fügte leise hinzu: „Ich muß mich zufrieden geben. Der Mann ist jetzt in mir gebrochen, wie in einem Mönche.“

Maria’s Vater hatte kein sympathisches Gesicht; seine Lider bedeckten zur Hälfte das graue Auge, welches die Personen, mit denen er sprach, niemals frei anblickte. Er hatte einen kalten, beinahe grausamen Zug um die Lippen, und auf seiner Stirn lag mehr List als Muth.

Nach der dritten Woche erklärte der Arzt, Maria’s Vater könnte weiterreisen. Ich zitterte, da ich es vernahm.

„Pater Josias, sagte am nächsten Tage Maria, „morgen muß ich Abschied von Euch nehmen.“

Ich unterdrückte einen Schrei und biß mir die Lippen.

„Pater Josias,” sagte sie, “wißt Ihr auch, daß ich im Herzen blute?“

Da schloß ich die Augen und stöhnte: „Maria, vergesset mich!“

„Nie!“

Ich hörte ihr Gewand rauschen, und als ich die Augen aufschlug, war ich allein. – – –

Ihr Vater rief mich etwas später und sagte: „Setzet Euch einen Augenblick zu mir, ich habe eine Bitte an Euch.“ Er zog aus seinem Busen einen dicken versiegelten Brief und legte ihn vor sich auf den Tisch. „Wie heißt der Pater, der in jener entsetzlichen Nacht wie ein Gespenst vor mir stand?“

„Pater Gregor heißt er.“

Er nickte und schrieb auf den Brief: Seiner Hochwürden, dem Pater Gregor.

„Habet die Güte, nehmet diesen Brief, traget ihn in’s Kloster und bringt mir die Antwort, welche Ihr darauf erhalten werdet.“

Widerstreitende Empfindungen bewegten mir die Seele, als ich das Kloster oben an der schwarzen Felswand vor mir sah. Langsam erklomm ich die Steigung, wie ein Kranker, und als ich die Glocke zog, ging es wie ein Riß durch mich.

Pater Gregor war in seiner Zelle und las.

„Ah, Pater Josias!“ rief er und blickte mich lange und wohlwollend an. „Ihr habt eine schöne Pflicht dort unten erfüllt und traget jetzt gewiß ein schönes Bewußtsein in Euch.“

Da ich schwieg, sagte er: „Sind die Verunglückten alle geheilt?“

„Nein, die Beiden, welche Arme und Beine brachen, liegen noch; der am Kopfe verwundet war, ist schon vor mehreren Tagen abgereist, und der Herr, der innerlich verletzt wurde, wird morgen abreisen.“

„Geht und ruhet jetzt! Ich dispensire Euch heute vom Abendgebet. Wünscht Pater Thomas einen Bruder zur Hülfe?“

„Er wird mich zur Hülfe haben; ich gehe wieder hinunter, heute Abend noch; ich kam blos, weil ich Euch einen Brief zu bringen hatte.“

„Einen Brief? Von wem?“

„Von dem Herrn, welchem ich statt Euer die Beichte abnahm. Er erwartet eine Antwort.“

Pater Gregor nahm den Brief aus meiner Hand und legte ihn auf den Tisch; dann stand er auf, zündete eine Kerze an, verbrannte den Brief und warf die Asche zum Fenster hinaus.

„Aber,“ fragte ich erschrocken, „was soll ich ihm nun sagen?“

„Sage ihm, was Du gesehen hast!“ erwiderte er ruhig und groß und entließ mich mit einer königlichen Handbewegung.

„Pater Gregor,“ sagte ich leise, als ich den Klostergang entlang schritt, „ich möchte wohl ein Kapuziner sein wie Du. Aber nicht Jeder ist zum Adler geboren.“ –

Als ich in die Schenke zurückkam und vor Maria’s Vater trat, blickte er mich mit Aufregung an und fragte hastig:

„Nun, Pater, wo ist die Antwort?“

„Ich habe keine.“

„Keinen Brief?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann habt Ihr eine mündliche Antwort?“

„Auch nicht!“

„Gabet Ihr dem Pater meinen Brief nicht?“

„Doch, aber er verbrannte ihn, ohne ihn geöffnet zu haben.“

Da fuhr er sich mit den zitternden Händen in die Haare und rief: „So hast Du keine Großmuth mehr? O Mönch, Mönch! So nimmst Du mir die Scorpionen nicht aus der Brust? So lässest Du mir die Gewissensbisse und den Haß? Denn je größer Du bist, desto größer sind meine Qualen. Und je mehr Du mich verachtest, desto mehr muß ich Dich hassen! Wie eine Krankheit trage ich den Haß in mir, den ohnmächtigen. Und so lange ich lebe, wird ein Mönch vor meiner Seele stehen, ein Kapuziner, mein Opfer und mein Richter.“

Ich stand erschüttert. „Pater Gregor,“ dachte ich, „Du bist gerächt.“

Maria trat herein und legte ihre Arme um ihres Vaters Hals: „Was quält Dich so?“ fragte sie.

„Maria,“ sagte er dumpf, „Du hast jetzt einen kranken Vater, der Pflege, aber auch Nachsicht braucht. Ich bin reizbar geworden – sei Du um so sanfter, um so geduldiger! Und – sprich nie mit mir von jener Nacht, in der wir verunglückten!“

Maria küßte ihres Vaters Stirn; ich entfernte mich, die Brust voll Weh und die Augen voll Wasser. Arme Maria! Süße Maria! Heilige Maria!

Am nächsten Vormittage hielt ein Wagen vor der Schenke. Pater Thomas und ich hoben Maria’s Vater hinein, und dann nahm Maria Pater Thomas’ Hand, küßte sie und sagte: „Gott segne Euch, Pater!“ Mir bebten die Kniee, als sie zu mir trat und sagte: „Gott segne Euch, Pater Josias!“ Und als sie meine Hände ergriff und ihre Lippen darauf drückte mit der Gewalt des Schmerzes, da konnte ich den Schrei in mir nicht unterdrücken, aber ich wandelte ihn um in ein lautes Gebet. Und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_089.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)