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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


des Heimwehs verzehrt. Unermüdlich aber arbeitete er auch hier: von allen Specialitäten der heimischen Verhältnisse wurde er unterrichtet, und über das weite Meer hinüber, auf welchem Tage lang sein spähender Blick ruhte, sandte der begeisterte Patriot fort und fort in gedankenvollen und antreibenden Briefen den warmen Ausdruck seiner hingebenden Beschäftigung mit den Verhältnissen des deutschen Vaterlandes, an dessen Erhebung und große Zukunft er glaubte, wie kaum ein Anderer in jenen so verdunkelten Tagen.

So war und blieb er auch von diesem fernen Welttheile aus der Rather und Beweger seines Volkes, dessen Theilnahme an seinem Ergehen ihm wohlthat, obwohl sie ihm wiederum die quälende Besorgniß erregte, es möchten die Freunde eine „Gnadenbettelei“ für ihn in’s Werk setzen. „Ich verabscheue das, wie ein Verbrechen,“ heißt es in einem seiner Briefe, „und von jeher sind mir unter allen Menschenkindern die Revolutionäre, welche zu Kreuz kriechen und sich abfinden lassen, die verächtlichsten gewesen.“ Man sieht, sein Muth war ebenso wenig gebrochen, wie seine geistige Klarheit getrübt war, und doch wurde durch immer erneuete Krankheitsstürme seine Rückkehr von jenseits des Oceans von einem Jahre zum anderen hinausgezögert. Endlich im April 1837 glaubte er sich nach längerem Wohlbefinden so weit hergestellt, um die Heimkehr wagen zu können. Frohen Muthes, das Herz von beseligender Hoffnung geschwellt, reiste er ab, in seinem Koffer das vollendete Manuscript eines umfassenden Werkes, von dem er dem Vater schrieb, daß es die Landsleute für immer „determiniren“ werde. Um einen Verleger für das Buch zu suchen, wollte er von Marseille aus zu Fuß nach der Schweiz wandern und dort noch einen längern Aufenthalt nehmen. Heftig erkrankt aber und in hohem Grade erschöpft kam er erst in der Mitte des September nach Genf, und es muß wohl in dem nun folgenden Winter hier der alte Wahn zu riesiger Gewalt in ihm erwachsen sein und alle seine Furien wider ihn entfesselt haben.

Ein fein und edel fühlender, dabei willensstarker Mensch, der hoffnungslos von einer so haarsträubenden Idee beherrscht ist, die ihm seine Gegenwart, wie seine Vergangenheit und Zukunft im allerdüsterstem Lichte zeigt, ein solcher Mensch kann nur noch in seinem Tode das Erlösungsmittel sehen, die Mitmenschen von seiner gefährlichen Nähe zu befreien. Lornsen’s Briefe aus diesen Monaten höchster Seelennoth zeigen einen eigentümlich weichen und elegischen Schwung, aber die volle Ruhe und Fassung des Mannes. Wenn er auch dringender als früher klagt, daß seine Lage eine schreckliche sei, daß sein Geschick ihn weder ruhig leben noch sterben lasse, so geht er doch schnell über diese persönlichen Andeutungen hinweg und wendet sich in langen und gedankenreichen Ausführungen den höchsten philosophischen und religiösen Problemen des menschlichen Daseins zu. Und so war es wohl nicht Eingebung eines besonders verzweifeltem Augenblicks, sondern ein wohl überlegter, ruhig gefaßter Entschluß, als er es endlich für ein Gebot der Pflicht hielt, der vermeintlich von ihm ausgehenden Gefährdung ein Ziel zu setzen und mit eigener Hand zu vollführen, was das Schicksal ihm nicht freiwillig gewähren wollte. Fern von allen Lieben, deren Anblick ihn vielleicht hätte zurückhalten können, schnitt er sich in seiner einsamen Behausung eines Tages die Pulsader auf, eilte sodann, als dieser Versuch nicht schnell gelingen wollte, in das benachbarte Wasser, öffnete hier sorgfältig seine Oberkleider und durchbohrte sich mit einem Pistolenschuß das Herz.

So fand man die entseelte Hülle des nordischen Fremdlings am 13. Februar 1838 im Genfer See. Nur sein liebreicher Arzt Dr. Peschier, sowie der Geistliche der lutherischen Kirche folgten seiner Leiche zu ihrer letzten Ruhestätte. Bis zum letzten Tage hatte sein Denken und Fühlen, mit Ausnahme des einen kranken Punktes, die volle Stärke und Klarheit bewahrt und wenn man erwägt, daß er nicht viel über vierundvierzig Jahre alt geworden, so muß uns noch heute ein Wehe ergreifen bei dem Gedanken an die Fülle der Kraft, welche die Welt an diesem Mann verloren hat, der ihr durch seine Selbsthinopferung eine Wohlthat zu erweisen glaubte.

Außerordentlich groß war das Aufsehen und die Bestürzung in der Heimath bei der unerwarteten Nachricht von diesem tragischen Ende. Die liberal und deutsch gesinnten Zeitungen erschienen mit breitem Trauerrande, und das „Kieler Correspondenzblatt“ brachte in dieser schwarzen Umfassung eine Würdigung des Heimgegangenen im schwungvollsten Lapidarstil. Selbst das vielgelesene Kopenhagener Blatt „Kjöbenhavnsposten“ widmete ihm einen glänzenden Nachruf mit der Mahnung, daß an diesem Grabe jede Anklage verstummen müsse vor der Anerkennung des zweifellos redlichen, überzeugungstreuen und aufopfernden Mannes.

Nur acht Jahre hat er seine erste That überlebt, die zugleich seine einzige blieb. So kurz aber seine Laufbahn gewesen, so bedeutsam ist sie geworden für alle Kämpfe der folgenden Jahrzehnte. Gleich einem plötzlich aufsteigenden Meteor war er über seinem Lande erschienen, um einen Strom belebenden Lichtes in die Seelen zu strahlen und dann selber im Dunkel des Kerkers, der Selbstverbannung und des Todes zu verschwinden. Sein Licht aber entschwand nicht mit ihm. Gelehrte Landsleute haben ihn in der Erinnerung an den altgriechischen Heldenmythus den schleswig-holsteinischen Aias genannt. Wie aber die Sage von einem Aias erzählt, daß sein Stamm in der Schlachtordnung stets einen Platz offen ließ für den Schatten dieses Heros, so hat auch der Geist Lornsen’s, sein Gedanke und sein aufrüttelnder Sturmruf in allen Bewegungen, allen Geistes- und Kriegsschlachten mitgefochten, welche von 1848 bis 1871 die Sache Deutschlands siegreich entschieden haben. Was er that, als er in kleiner und muthloser Zeit den Sclavensinn und die Beamtenfurcht seines Volkes brach, in ihm das Freiheitsstreben und den schlummernden Nationalstolz entzündete, das konnte nur von einer Begabung wie der seinigen erreicht werden. „Zögernd und langsam,“ so heißt es in der umfassenden Biographie Jansen’s, „ist sein Volk ihm nachgerückt, geführt von seines ersten Führers Manen: Lornsen ist der Befreier Schleswig-Holsteins!“

In fremder Erde ruht der deutsche Geistesheld, dessen Name heut bei uns nur Wenigen bekannt ist, obwohl er in aller Zukunft mit dem großen Werdegange des deutschen Nationalgedankens verknüpft bleiben wird, für den sein von ihm erwecktes Volk ausdauernder gestritten und schwerer gelitten hat, als irgend ein anderer deutscher Stamm. Darum haben die Schleswig-Holsteiner seiner auch nicht vergessen können und im ersten Momente sicheren Aufathmens sofort sich erinnert, daß sie die Ehrenschuld des Dankes ihm noch abzutragen haben. In unserer vorigen Nummer haben wir bereits eine Abbildung des Denkmals gebracht, das ihm von der ehrfurchtsvollen Liebe seines Volkes vierzig Jahre nach seinem Tode errichtet wurde. Ein sinniges Zusammentreffen der Umstände hat diese Säule auf den Paradeplatz von Rendsburg gestellt, wo so lange dänische Officiere das fremdländische Commandowort an deutsche Landeskinder gerichtet hatten. Dort erhebt sich jetzt das Monument Lornsen’s, gegenüber dem Fenster der Hauptwache, hinter welchem er einst seine schwere Haft für die Sache des deutschen Vaterlandes erduldet hat.

Die Enthüllung und Einweihung des Denkmals gestaltete sich zu einer wahrhaft großartigen Landesfeier. Aus allen Theilen der Herzogthümer strömten viele Tausende nach dem in grünem Wald- und Blumenschmuck prangenden Rendsburg, und an dem großen Festzuge allein betheiligten sich mehr als zehntausend Männer, unter ihnen auch über siebenzig Vereine der „alten Kampfgenossen“ mit ihren Fahnen. In ernst gehobener und weihevoller Stimmung, unter dem Gesange des Liedes „Deutschland über Alles“, ohne Haß und frohlockenden Uebermuth sammelte hier ein Volk seine Erinnerungen an lange Zeiten des Ringens und der wirren Noth, aus denen so viel Siegesglück entsprossen ist. Eine so imposante Volksmenge hat Rendsburg seit dem sturmreichen Frühlinge von 1848 nicht beisammen gesehen. Ob in diesem Gewühl nicht irgend ein greiser Mann sich befand, welcher einer glücklicheren Jugend von den dreißig Kieler Studenten zu erzählen wußte, die einst in den Octobertagen des Jahres 1817 als dänische Unterthanen gen Eisenach gezogen und auf den Höhen der Wartburg dem deutschen Vaterlande den Eid der Treue geleistet hatten? Was sie als ein hochschwellendes und ahnungsreiches Empfinden von dort zurückbrachten, das war es, was Lornsen später zu einem fruchtbaren Gedanken entwickelt und als siegreiche Kampfparole auf die Banner des Landes geschrieben hat: Schleswig-Holstein deutsch und frei in einem einigen und freien Deutschland!

Albert Fränkel.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_101.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)