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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sodaß Seiling sich bewogen gefunden hatte, bevor er in’s Freie hinaustrat, einen Rock von gefirnißtem Linnen über die blaue Düffeljacke zu ziehen und einen wasserdichten Südwester auf seinem Haupte zu befestigen. Weit war er darauf nicht gegangen; nur bis an’s Ende seiner Schlucht, wo er sich seitwärts auf dem zum Strande niederführenden Abhange hinter einem ihm theilweise Schutz gewährenden Felsblock niedersetzte. Seine Tochter hatte sich schon am Vormittage nach einer von dem Klippeneilande tief in’s Meer hineinreichenden bewaldeten Landzunge begeben, um gegen Abend erst heimzukehren. Er kannte den Zweck solcher Wanderungen, und mochte er denselben billigen oder nicht, er erhob wenigstens keine Einwendungen. Vielleicht hatte er sich daran gewöhnt, daß Kordel gern nach ihrem eigenen Kopfe handelte. Und besorgt brauchte er nicht um sie zu sein. War doch ihre Unerschrockenheit so bekannt, wie die Sicherheit, mit welcher sie in den finstersten Nächten ihren Weg durch Wald und Schluchten zu finden wußte.

Den alten Seiling nannten ihn die Leute, und doch zählte er kaum fünfzig Jahre. Schon damals, als er zum ersten Male im Dorfe auftauchte, hatte er den Eindruck eines betagten Mannes hervorgerufen. Sein Haar war nämlich ergraut, und ein eigenthümlich grübelnder Ernst lag auf dem verwitterten Antlitz; seine Augen blickten scheu, und wenn er unvermuthet von Jemand angeredet wurde, fuhr er erschrocken zusammen und schaute noch finsterer drein. Seitdem war sein Haar ganz weiß geworden, ebenso der Bart, welchen er wie eine von Ohr zu Ohr unter dem Kinn hinlaufende Binde trug. Seltsam contrastirte das kurz unter der Scheere gehaltene Haar zu dem knochigen Gesicht; anstatt demselben eine gewisse Würde zu verleihen, erschien es beinahe wie Unnatur. Heute bedeckte der Südwester dasselbe ganz, und wer nicht genau hinsah, hätte den Bart für eine frisch gefaltete Halskrause halten mögen. Zwischen seinen Zähnen hing eine kurze Thonpfeife. Gewohnheitsmäßig entlockte er derselben hin und wieder ein bläuliches Rauchwölkchen. Er schien kaum zu wissen, daß sie brannte, schien den Regen nicht zu fühlen, welcher sich, schwerem Nebel ähnlich, auf seine wasserdichte Bekleidung senkte und Tropfen auf Tropfen von der schlappen Krämpe des Hutes auf seinen Schooß niedersandte. Die von weißen Brauen beschatteten Augen hielt er auf den gegen dreißig Fuß tiefer gelegenen Strand gerichtet, wo die vom Seewinde herbeigetriebenen Wogen sich brausend überstürzten. Flüchtig ließ er seine Blicke auf der Linie des Horizonts herumschweifen, welche durch den feinen Regen näher gerückt und verschleiert wurde; flüchtig auch nach der in seinen Gesichtskreis tretenden Spitze der Landzunge hinüber, um alsbald wieder in die Brandung hinabzuschauen.

Wie eine graue Zinkplatte dehnte sich das in einander verschwommene Gewölk aus. Dieselbe Farbe trug das bewegte Meer, nur daß hier durch die Unebenheiten erzeugte Schatten, die weißen Schaumkämme und die Brandung Abwechselung schufen. Dabei polterte und brauste es, als hätte die See das alte Eiland gewaltsam unterwühlen und endlich ganz in ihre Tiefe hinabreißen wollen. Wie auf weißmähnigen Ungeheuern beritten, sauste der Seewind, die heute besonders heftig brausende Kühlte, landwärts. Eine Woge jagte die andere, um, vom Strande zurückprallend, alsbald einen wüthenden Kampf mit den nächsten Nachfolgerinnen zu beginnen. Zu dem Brausen und Poltern gesellte sich unheimliches Knirschen und Rasseln, wie wenn muthige Renner an ihren Halfterketten zerren oder auf die starre Kandare beißen. Denn rasselnd schleuderten die Wogen rundes Gestein und Muscheln nach dem Strande hinaus, um gleich darauf Alles wieder knirschend zurückrollen zu lassen. Mit Seetang spielten die auslaufenden Schaumberge, mit Baumrinde und schweren Holzstücken. Tändelnd warfen sie bald dieses, bald jenes bis fast an den Fuß des Uferabhanges, um es endlich nach manchem vergeblichen Versuche wieder herabzuholen und das Spiel von Neuem zu beginnen.

Früher, als an hellen Tagen, machten abendliche Schatten sich bemerklich, als Peter Seiling durch das Geräusch, mit welchem von der Dorfseite her sich Schritte auf den klappernden Strandkieseln näherten, aus seinem dumpfen Brüten aufgestört wurde. Die Personen selbst zu sehen, hinderte ihn der Felsblock; um so gespannter lauschte er auf etwaige Kundgebungen der Nahenden. Erschien es doch befremdend, daß bei dem unfreundlichen Wetter sich Jemand lustwandelnd so weit vom Dorfe entfernt haben sollte. Endlich ertönte eine Knabenstimme:

„In dieser Schlucht wohnt er,“ hieß es, „geht nur ’n paar Schritte hinauf, und ’s Haus liegt vor Euch,“ und laut klapperte das Steingerölle, indem der Bursche nach dem Dorfe zurücktrabte.

Unten blieb es ein Weilchen still. Dann unterschied Seiling, daß Jemand in den die Schlucht aufwärts führenden Pfad einbog. Es unterlag also keinem Zweifel, daß seine Einsamkeit eine Störung erfahren sollte. Was ihn bei diesem Gedanken bewegte, darüber vermochte er sich keine Rechenschaft abzulegen, aber wie um sich zu verbergen, zog er unwillkürlich die hinter dem Felsblock hervorragenden Füße nach sich. Doch die Blicke des Fremden hatten entweder zufällig auf dem Felsblocke geruht oder die Bewegung der Füße war nicht ohne Geräusch vor sich gegangen – genug, die Schritte verstummten. Gleich darauf vernahm Seiling, dessen Ohr sich an das Rauschen der Brandung gewöhnt hatte, wie Jemand sich langsam und schwerfällig über die Felstrümmer des Abhanges gleichsam hintastete. Aber auch jetzt noch verhielt er sich ruhig. Es lag für ihn kein Grund vor, einem Fremden, von dem er eine Störung erwartete, höflich zu begegnen.

Näher kamen die Schritte, und deutlich unterschied Seiling das Keuchen, mit welchem ein Mann sich auf dem hindernißreichen Wege gerade zu ihm emporarbeitete. Endlich trat der Ankömmling um den Felsblock herum, stand aber noch so niedrig, daß sein Kopf sich in gleicher Höhe mit dem Seiling’s befand. Statt indessen einen Gruß auszutauschen, blickten die beiden Männer sich gegenseitig in die Augen, als hätten sie vor Eröffnung eines Gespräches sich überzeugen wollen, daß ihre Sinne sie nicht täuschten. Auf Seiling schien der Anblick des Fremden förmlich erstarrend einzuwirken. Jeder Blutstropfen war aus seinem Antlitz zurückgewichen, seine Augen vergrößerten sich und quollen scheinbar aus ihren Höhlen, stierten aber so regungslos, wie das ihn umringende Gestein. Die Hand mit der Pfeife zitterte dagegen und verschüttete Asche und Funken, die sofort von dem Winde ergriffen und den Abhang hinauf entführt wurden. Der Mann, welcher diesen sichtlich vernichtenden Eindruck auf den kräftigen alten Strandbewohner ausübte, befand sich mit Seiling ungefähr in gleichem Alter, doch hatte sein Aeußeres weniger unter dem Einfluß der Jahre gelitten. Mehr war die Wirkung eines ausschweifenden Lebenswandels auf seinen Zügen ausgeprägt. Wie ein rothes Band zog es sich über beide Wangen und die Nase hin, während ein starker Knoten, den Kautabak im Munde verrathend, die eine Gesichtshälfte des Mannes in widerwärtiger Weise aufbauschte. Auch er war nach Seemannsart gekleidet, jedoch so unsauber, daß ein vorsichtiger Capitain gezögert haben würde, ihn, trotz der breiten kraftvollen Schultern und des Stiernackens, auf welchem ein kleines rundes, mit röthlichem Haar bedecktes Haupt ruhte, als Matrose mit sich an Bord zu nehmen. Zum Schutz gegen das Wetter hatte er einen verblichenen vielfach ausgebesserten Rock von blauem Düffel über eine nicht minder schadhafte Jacke von leichterem Stoffe gezogen. Ein blaues wollenes Hemd, am Halse nothdürftig durch ein schwarzes, unsauberes seidenes Tuch zusammengehalten, ließ die braune Brust bis dahin frei, wo die rußigen Beinkleider aus Segeltuch durch einen Riemen um die Hüften zusammengehalten wurden. Schwere schadhafte Stiefel und eine zerknitterte Wachstuchmütze vervollständigten den nicht gerade viel versprechenden Anzug. Was der Fremde sonst noch sein Eigenthum nannte, trug er in einem rothgeblümten Tuch in der linken Hand, während er sich mit der rechten auf einen schweren Stock stützte.

Wohl eine Minute weidete er sich, die grauen Augen verschmitzt zusammenkneifend, an Seiling’s Entsetzen. Dann stellte er den mit einer natürlichen Krücke versehenen Stock hinter sich, und sich auf denselben setzend, brach er in ein häßliches Lachen aus.

„Will ich doch hängen, wie der verdammteste Kabeljau, der jemals zum Dörren auf ungedrehte Weide gezogen wurde, wenn ich Dich nicht verändert finde,“ hob er darauf an. „Bei Gott, Peter Seiling, wären die Vortoplichter mir nicht besonders fein in den Kopf geschraubt worden, so hätte ich Dir zehnmal auf der Straße begegnen können, ohne Dich auszumachen.“

„Wollte Gott, Du hättest mich nicht erkannt!“ das war Alles, was Seiling hervorzubringen vermochte.

„Da calculire ich anders,“ entgegnete der Fremde sorglos, „ich nenn’s ’n Glück – freilich, sucht man Jemand viele Jahre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_126.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)