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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Die neue Wiener Sternwarte.


Als vor ungefähr vier Jahren fast alle gebildeten Nationen bedeutende Summen für Expeditionen zur Beobachtung des Venus-Durchgangs aufwandten, nahm es hier und da Wunder, daß das große Oesterreich-Ungarn sich nicht daran betheiligte. Der Grund dieses Auschlusses, bei einem für die Wissenschaft und in letzter Instanz für eine seefahrende Nation so wichtigen Unternehmen, dürfte damals nur in den Kreisen der Fachgelehrten bekannt gewesen sein. Heute weiß man auch in der Laienwelt, daß Oesterreich jene Gelder, welche die Aussendung einer Expedition erfordert hätte, der Wissenschaft, und speciell der Astronomie nicht entziehen, sondern nur in anderer Weise zu Gute kommen lassen wollte. Es handelte sich um die lange vorbereitete Schöpfung einer auf das Reichste und Sorgfältigste ausgestatteten neuen Sternwarte für Wien.

Die alte Sternwarte auf dem Gebäude der „Akademie der Wissenschaften“ in der inneren Stadt, umgeben von hohen Giebelhäusern und allezeit rauchenden Schornsteinen, entsprach längst schon wegen dieser Lage den Anforderungen der Neuzeit als ein gutes Observatorium nicht, auch wenn der Umstand, daß die Ausdünstungen aus der im nämlichen Gebäude untergebrachten Anatomie nicht selten bis in die höchsten Zimmer stiegen, die Uebelstände der alten Anstalt nicht noch vermehrt hätte. Uebrigens hatte dieselbe in der Gestalt, in welcher sie auf die Gegenwart gekommen ist, ihrer Wissenschaft bereits ein halbes Jahrhundert mit Ehren gedient, denn ihre letzte Verbesserung und Einrichtung erhielt sie von 1826 bis 1827 unter der Direction des berühmten Joseph Johann von Littrow. Gegründet war sie schon 1753 von dem Jesuitenpater Hell, der durch seine Beobachtung des Venus-Durchgangs vor der Sonnenscheibe von 1769 bekannt ist.

Hatte der Vater Littrow besonders durch die Niederlassung der medizinischen Facultät in demselben Gebäude zu leiden gehabt, so verursachte seinem Sohne und (seit 1842) Nachfolger in der Direction der Sternwarte, Karl Ludwig von Littrow, die bewaffnete Macht mancherlei, mitunter auch komische Störungen. Im Jahre 1855 wurde das Akademiegebäude mit seiner verhaßten „Aula“ als Caserne benutzt. Die gesammte Wissenschaft mußte auswandern, nur die im vierten und fünften Stockwerke thronende Astronomie blieb unberührt. „Leider!“ äußerte von Littrow, denn diese Schonung verzögerte nur die bereits schwebenden Verhandlungen über den Bau einer neuen Sternwarte. Dabei war diese Verbindung von Caserne und Observatorium mit allerlei Störungen und Unannehmlichkeiten für die Beamten der letzteren verbunden; namentlich konnten es die schlecht unterrichteten Soldaten auf Posten nicht begreifen, daß es Leute geben solle, welche erst Nachts an die Arbeit gingen.

„Nicht selten geschah es,“ erzählt von Littrow, „daß wir von dem Posten als ‚bei Nacht und Nebel herumschweifendes Gesindel’ angehalten wurden. War dann die Legitimation zufällig nicht zur Hand, so führte unser Weg statt zum Observatorium auf die – Wachstube.“

Das Militär zog zwar im Jahre 1858 aus dem Akademiegebäude wieder ab, die Verhandlungen über den Bau einer neuen Sternwarte erreichten aber erst 1873 ihr Ende, wo der Staat endlich die Mittel zu dem Neubau bewilligte.

Um alle Erfahrungen der Neuzeit im Baue der Sternwarten und hauptsächlich in der Herstellung der Instrumente und besonders der großen Fernrohre, wie sie Amerika besitzt, verwerthen zu können, besuchte der Adjunct der Sternwarte, Prof. E. Weiß, die bedeutendsten Observatorien Englands und Amerikas. Mit reichen Erfahrungen zurückgekehrt, arbeitete derselbe in Gemeinschaft mit dem Architekten M. F. Fellner und unter Leitung des Directors von Littrow den Plan der neuen Sternwarte aus. Bei einem so gründlichen Vorgehen ließ sich von vornherein ein entsprechendes Resultat erwarten; daß aber ein mit so reichen Mitteln ausgestatteter Prachtbau entstehen würde, hatten wohl nur Wenige geahnt.

Schon die Lage des Gebäudes ist eine außerordentlich günstige und zugleich anziehende. Etwa anderthalb Stunden nördlich vom Centrum der Stadt erhebt sich das Observatorium auf der sogenannten Türkenschanze, beiläufig 80 Meter über dem Stephans-Platz. Auf der einen Seite ist die Aussicht durch den Leopolds- und Kahlenberg begrenzt, an welche sich die anmuthigen Höhen des Wienerwaldes schließen. Mehr nach Süden treten die Ausläufer der österreichischen Alpen hervor, und jenseits der Leytha erblickt man die Bergrücken des Leythagebirges, bis endlich im fernen Osten die kleinen Karpathen den Rahmen des Bildes abschließen, dessen Vordergrund das Häusermeer von Wien mit seinen unzähligen Thürmen und Thürmchen einnimmt.

Diese Lage des Observatoriums ist so gewählt, daß die vorherrschenden Luftströmungen immer den Dunst der Stadt später passiren, als das neue imposante Gebäude, welches somit fast stets von einer möglichst reinen und klaren Atmosphäre umgeben ist.

Auf einem 14,500 Quadrat-Klafter großen Areale sich erhebend, umfaßt der Bau in der Richtung von Nord nach Süd 105 Meter und von Ost nach West 76 Meter. Zur Grundform des Gesammtbaues wählte man die schon von Enke in Berlin angewandte Form eines Kreuzes, und vermied dadurch den Fehler des großen Observatoriums von Pulkowa, das aus einer langen sich von Ost nach West ziehenden Reihe von kleinen Gebäuden besteht. Die Kreuzform gewährte nicht nur eine außerordentlich kunstreiche Verbindung der einzelnen Räume, sondern gestattete zugleich, bei dem Plane auch auf architektonische Schönheit Rücksicht zu nehmen. Die Beobachtungsräume sind von den Wohnräumen möglichst unabhängig und nehmen die Mitte und die drei kurzen Arme des Kreuzes ein. In den vier Ecken des Kreuzes sind noch kleine Terrassen für Beobachtungen unter freiem Himmel angebracht.

Die Mitte der ganzen Sternwarte wird durch die in kolossalen Dimensionen ausgeführte Hauptkuppel von circa 13 Meter Durchmesser gekrönt. Der drehbare Theil dieser Kuppel mag, da er ganz aus Eisen construirt ist, allein etwa 500 Centner wiegen. Der Spalt für die Fernrohre geht einige Fuß breit vom höchsten Punkte des halbkugelförmigen Thurmdaches bis zum untersten Rande herab. Um so gewaltige Massen leicht zu bewegen, sind die sinnreichsten Einrichtungen getroffen. Die Kuppel läuft auf 13 kegelförmigen, unter einander verkuppelten Rollen, deren Spitzen in das Centrum der Kuppelhalbkugel zielen; die eisernen Laufschienen sind aus je 12 Bogenstücken zusammengesetzt. Kegelförmig sind die Rollen, weil diese Einrichtung, mechanischen Gesetzen zufolge, weniger Kraft in Anspruch nimmt, als cylindrische, und nicht die Unannehmlichkeiten hat, welche mit der Drehungsvorrichtung vermittelst Kugeln verbunden sind; und der Spaltverschluß geschieht so leicht, daß beim Oeffnen wie beim Schließen eigentlich nur die Reibung zu überwinden bleibt.

Diese complicirten Einrichtungen werden nicht überraschen, wenn man bedenkt, welchen kostbaren Inhalt die Kuppel zu bergen hat. Auf einem sorgfältig fundirten und ganz isolirt aufgeführten Pfeiler wird eines der größten Fernrohre der Welt seinen Platz finden, wenn man von den in noch weit größeren Dimensionen hergestellten Spiegelteleskopen absieht. Dieses Fernrohr erhält eine Objectivlinse von über 660 Millimeter Durchmesser, mit einer Brennweite von fast 10 Metern. Die sämmtlichen europäischen Sternwarten haben kein diesem nur annähernd gleichkommendes Instrument aufzuweisen. Die Instrumente in Pulkowa und Lissabon haben 380 Millimeter Durchmesser, die von Paris 300 Millimeter, von Bothkamp 290 Millimeter, von München, Kopenhagen, Utrecht, Moskau, Madrid 270 Millimeter, von Hamburg 260 Millimeter, von Berlin, Lund, Florenz, Rom (Collegio Romano), Dorpat, Kiew 240 Millimeter, und endlich von Leipzig 220 Millimeter. England hat außer den großen Spiegelteleskopen Refractoren von 325 Millimeter in Greenwich und Cambridge, die Privat-Sternwarte des Mr. Huggins zu Tulse-Hill bei London besitzt sogar einen solchen von 380 Millimeter und Dublin einen von 300 Millimeter. Nur die Vereinigten Staaten werden sich in dieser Hinsicht mit Wien messen können. Von den dortigen Observatorien, die meist aus Privatmitteln entstanden sind, hat das U. S. Naval Observatory zu Washington einen Refractor von 660 Millimeter, das Observatorium von R. S. Newal in Gateshead bei Newcastle[WS 1] einen von 635 Millimeter. Außerdem besitzt Chicago ein Aequatoreal von 460 Millimeter und wird bald noch ein Instrument von 660 Millimeter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_152.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)