Seite:Die Gartenlaube (1879) 162.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Der dritte Präsident der dritten französischen Republik.
Von Julius Walter.


Es war am 7. October des Jahres 1848. Auf der Tagesordnung der Gesetzgebenden Versammlung stand der Artikel 43 der Constitution: Das französische Volk überträgt einem Bürger Frankreichs die vollziehende Gewalt mit dem Titel „Präsident der französischen Republik“. Da erhob sich auf der äußerten Linken ein noch jugendlicher Mann und bekämpfte den Artikel ruhig, aber energisch, zeigte mit zwingender Logik und weit ausschauendem Blick, daß in demselben der Todeskeim der Republik verborgen liege und daß er die spanische Wand sei, hinter der die Monarchie bereits ihre Toilette mache. Nicht das französische Volk, sondern die Nationalversammlung soll wählen, nicht einen Präsidenten der Republik, sondern einen „Präsidenten des Ministerraths“ auf unbestimmte Frist, der zu jeder Zeit abgesetzt werden kann. So lautete das so berühmt gewordene „Amendement Grevy“; es fiel mit 150 Stimmen gegen 643, und unter diesen war auch Thiers mit seinem Anhang, der den Orleans die Thür offen halten wollte.

Der dritte Präsident der dritten Republik ist der erste Republikaner, welcher mit der Präsidentenwürde bekleidet wird. Thiers und Mac Mahon hatten schon in verschiedenen Tempeln gekniet; Thiers stand zu ihr aus Opportunitätsgründen, denn „Frankreich besitzt nur einen Thron und drei Dynastien, die sich um ihn balgen,“ rief er in Bordeaux, und Mac Mahon hatte die Republik als Parole erhalten; er stand vor ihr Wache im soldatischen Pflichtgefühl.

Die Republik blieb Thiers und Mac Mahon stets eine fremde Sprache; die eiserne Nothwendigkeit hatte sie ihnen am Spätabend des Lebens gelehrt; ihre Schlagworte, ihre Gemeinplätze waren ihnen wohl geläufig, ja sie hatten es in ihr bis zu einer gewissen Fertigkeit gebracht, und der Schriftsteller Thiers kannte ihre Feinheiten ganz genau; sie konnten sie mehr oder weniger correct sprechen, aber niemals in ihr denken. Das ist bei Grevy anders: die Republik ist seine Muttersprache.

Dieser dritte Präsident der Republik, dessen soliden echtfarbigen liberalen Republikanismus selbst Blanqui nicht anzweifelt, Jules Grevy, hat in seiner äußeren Erscheinung und in seinem ganzen Wesen auch nicht einen französischen Zug; er trägt nicht den Stempel der gallischen Race; er gleicht mehr einem behäbigen amerikanischen oder schweizerischen Bürger; sein strammer schmaler Rundbart ist in Frankreich eine Rarität, wo der Henri-Quatre zur Nationaltracht gehört oder der romanische längliche Vollbart, wie ihn Gambetta und die vertrauenswürdigen Republikaner tragen, oder die schmalen Cotelettes, wie sie in der Weise Thiers’ die alten Herren vom Faubourg, die Aerzte und Gelehrten lieben; nicht das kleinste rothe Pünktchen ist auf seinem schwarzem Rock zu erspähen, und während hier das rothe Bändchen aus allen Knopflöchern der Fracks, Westen, Paletots und selbst der Schlafröcke sprießt, mögen die Imperialisten, Republikaner oder selbst Socialisten einhüllen, ist sein Knopfloch noch jungfräulich, und weder von Duellen noch von Liebesskandalen kann sein Biograph berichten. Nicht einmal sein Vortrag ist französisch; jenes Pathos mit den einschlägigen Gesten, über die jeder Franzose verfügt, mag er nun auf der Tribüne, an der Barre, auf dem Katheder, auf der Bühne oder auf der Kanzel stehen, das Alexandrinerthum, das ihnen in Kehle und Gliedern steckt, ist ihm fremd.

Ein Feind der tönenden Phrase, hält er seine Rede kurz, ruhig, knapp und stramm, ohne auffallende Tonbeugung; ruhig, gleichmäßig fließt sie dahin, in beinahe monotoner Einfachhheit, aber doch stets vornehm, nicht darauf eingerichtet, die Massen zu entflammen, die Menge in wildem Ansturm mitzureißen; er will nicht überreden, sondern überzeugen, nicht glänzen durch in tausend Facetten geschliffene Phrasen, nicht durch grelle Theaterblitze blenden und durch wuchtig in die Menge geschleuderte Kraftworte Applaus erzwingen. Er hat nur die Sache im Auge, für die er eintritt, und er tritt nur für sie ein, wenn es – seine Sache ist. Seine Rede ist der tönende Ausdruck seiner ruhigen, klaren Gedankenarbeit; er sucht nicht den Kopf des Hörers zu verwirren und zu betäuben, um ihn dann um so sicherer bei dem rathlosen Gemüthe zu packen; er appellirt an den Verstand, an die Logik seiner Hörer, und das geschieht in so schlichter, man könnte schier sagen gemüthlicher Weise, daß er sein Uebergewicht nicht fühlen läßt und niemals durch dasselbe verletzt.

Der große diplomatische Allerweltsbezwinger Talleyrand sagt freilich: „Der Mensch hat die Sprache, um seine Gedanken zu verbergen“, aber das ist nicht die Sprache der Menschen, sondern der Officiösen aller Länder, denen im Prokrustesbett der Opportunität die ehrlich-geraden Glieder des Menschenverstandes ausgerenkt werden, aber der große Buffon sagte: „Der Styl ist der Mensch selber,“ der Styl im weitesten Sinne, wie sich ein Mensch giebt, wie er sich zur Mit- und Außenwelt stellt und stellen muß aus innerer Naturnothwendigkeit – das ist der ganze volle Mensch selbst. Aus Grevy’s Rede tritt uns der ganze Mann rein und scharf entgegen: Ein Mann von dem Recht durchdrungen und erhoben, das mit uns geboren, ein nimmermüder Vertheidiger desselben, sobald er es einmal als solches erkannt hat, vom Gegner nicht eingeschüchtert, vom Freund nicht überredet, kein juridischer Rabulist, kein auf dem Advocatenturf bewunderter Paragraphenreiter, stets klappernd mit dem Werkzeug. Die fleckenlose Reinheit seines Charakters, die bezwingende Unparteilichkeit seines Wesens, das, von jeder aufschäumenden Leidenschaftlichkeit unberührt, dem Anprall und den Einschüchterungsversuchen der Feinde ebenso widersteht, wie den Lockungen der Parteigänger, – sein Charakter, nicht seine Thaten haben ihn auf den Präsidentenstuhl erhoben und ihm die Thore des Elysée eröffnet.

Thiers und Mac Mahon – Beide gehörten schon lange der Geschichte Frankreichs an, bevor sie die Regierung desselben antraten; Thiers war der „nationale Historiker“, der große Redner, der in allen Regierungskünsten langjährig Geübte, der Mann, den ganz Europa kannte und der ganz Europa kannte, der in den schwersten Stunden der Noth der zusammenbrechenden belle France – ein Greis – Rettung und Befreiung brachte; der Graf Marie Edmé Patrik Maurice von Mac Mahon, der Nachkomme jenes getreuen ritterlichen Oberst Mac Mahon, der mit seinem entthronten Gebieter, dem König Jacob dem Zweiten von England, nach Frankreich kam, war der Sieger von Magenta und, was – unglaublich und doch Thatsache! – noch mehr galt, der „glorreich Besiegte“ von Wörth, dem Frankreich nach dieser Niederlage einen Ehrensäbel spendete; er war der Held, der eigenhändig auf dem Malakoff Frankreichs Fahne aufgepflanzt, später die Commune niedergeworfen hatte, dessen Persönlichkeit, unbeschadet der Hoffnungen, welche die Kirche und die monarchischen Parteien auf ihn setzten, für den Bürger, den Geschäftsmann und Bauer, in deren Gliedern noch alle Schrecken des Krieges nachzitterten, Bürge war für die zur Abarbeitung der Milliarden nöthige Ruhe. Und diese Hoffnung hat der scheidende Präsident auch vollauf gerechtfertigt.

Und doch ist der Marschall gefallen?

Der Marschall ist nicht gefallen; man hat seine Abdankung provocirt: die geforderte Absetzung der Armee-Commandanten, die Amnestie, der drohende Proceß des Ministeriums vom 16. Mai, sie haben ihm die Thürklinke des Elysée in die Hand gedrückt. Der Marschall scheidet, und keine Thräne wird ihm nachgeweint; die Monarchisten, welche in ihm den neuerstandenen Monk erhofften, halten sich von ihm für getäuscht und verrathen, durch ihn den günstigen, nie mehr (?) vielleicht wiederkehrenden Augenblick verpaßt, und die Republikaner können ihm den 16.Mai wohl verzeihen, aber nicht vergessen. Darin sind beide Theile einig, daß der Ex-Präsident das Pulver nicht erfunden hat; darum ist aber der Marschall noch kein Cretin, wie die Einen behaupten, um ihn zu entlasten, die Anderen, um ihn zu belasten. Freilich ist er ebenso wenig ein Staatsmann; er ist ein schlichter, ehrlicher Soldat, der loyal und ehrenhaft auf die Gewalt verzichtete.

„Ein Kreuz oder einen Degen,“ rief Veuillot im Königspalaste von Versailles, und die Majorität der Nationalversammlung von 1873 sah Beides in dem Herzog; die Kirche wollte in ihm den Mann seiner Frau, deren Frömmigkeit bereits Feuerproben bestanden hatte; die Legitimisten, mit deren Blüthe er abermals durch seine fromme Gemahlin verwandt ist, erinnerten sich, daß sein Vater, Pair von Frankreich, mit Karl dem Zehnten eng befreundet war; die Orleanisten wußten, daß

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_162.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)