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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sein darf, als um einen mäßigen, zu seiner besseren Ernährung ausreichenden Blutzufluß hervorzurufen, und daß sie deshalb die Fähigkeit des Organismus zur Gegenwirkung nicht übersteigen darf; ist letzteres der Fall, oder kehrt der Reiz zu häufig wieder, so ist nicht Stärkung, sondern Schwächung (oder Krankheit) die Folge. Auch ergiebt sich hieraus, daß Abkühlung nicht gleichbedeutend ist mit Abhärtung, denn die Abkühlung kann nur dann als Reizung dienen und als Nachwirkung den Blutzufluß und die Ernährung steigern, wenn sie rasch vorübergeht, während andauernde oder zu lange fortgesetzte Abkühlung die Blutströmung und Ernährung herabsetzt. Unter solcher Verkennung der Verhältnisse haben besonders häufig Kinder zu leiden, die sich nicht zur Wehre setzen und nicht einmal klare Auskunft über ihre Gefühle geben können. Weit ausgeschnittene Kleider, kurze Röckchen, die kaum bis an die Kniee reichen, baumwollene Socken und Schuhe mit papierdünnen Sohlen bilden oft die ganze Kleidung der Kinder, und darin sollen die zarten Geschöpfe, die vermöge ihrer kleineren Körpermasse weniger Wärme erzeugen, aber verhältnißmäßig mehr abgeben als Erwachsene, ihre Eigenwärme erhalten. Am besten ergeht es ihnen noch bei bedeutender Kälte, wo blaugefrorene Arme und Gesichter nebst Frost an Händen und Füßen schreiend an Abhülfe mahnen; sonst werden Durchfälle, die von Erkältung des Unterleibes und der Füße herrühren, gern irgend einer kleinen Süßigkeit, Husten und Schnupfen dem unvermeidlichen „Zug“, Mandelanschwellung und Stockschnupfen den Scropheln zugeschrieben. Kinder sollen gleich den Erwachsenen in ihren Kleidern wie in ihren Betten sich behaglich warm fühlen; nur dann können sie sich gesund entwickeln und die Widerstandskraft ausbilden, deren sie zum Leben bedürfen und die wir durch ein vernünftiges Abhärtungsverfahren zu stärken suchen.

Gute Ernährung, aber keine Ueberfütterung, Schutz gegen schwächende Einflüsse aller Art, gegen Entbehrungen ebenso wohl wie gegen Kälte oder Hitze, gegen Frieren wie gegen Schwitzen, Gewöhnung an die freie Luft und an kräftige Körperbewegung und endlich sorgsame Hautpflege durch vernünftige Benutzung des Wassers: das sind kurz die Grundzüge der Abhärtungslehre, deren verständige Befolgung viel Leid und Ungemach verhüten, Gesundheit und Schönheit begründen und sicherstellen kann.




Ein Fremdling unter Deutschlands Strömen.


Um alle großen Ströme Deutschlands hat Lied und Sage des deutschen Volkes den Schimmer der Romantik gebreitet, nur nicht um den größten Strom des Ostseegebiets, die Weichsel. Nehmen wir Schenkendorf’s schönes Lied von der Marienburg aus, so haben wir unter unsern nationalen Dichtungen kaum eine, deren Boden das Weichselgebiet ist, und die reiche und ruhmvolle Geschichte der deutschen Colonisation in den Landstrichen an der Weichsel hat weder die Dichter anzuregen noch den sagenspinnenden Volksgeist zu fesseln vermocht! Liegt das wohl daran, daß an den Ufern dieses Stromes ein Geschlecht seßhaft geworden, das zwar stark, zähe und arbeitsam, aber auch kühlen und vorwiegend praktischen Sinnes ist, das nichts gemein hat mit den leichtlebigen, phantasiebegabten Söhnen des Rheinlandes? Oder liegt es daran, daß der Strom trotz der Jahrhunderte alten glorreichen Geschichte der Städte an seinem untern Laufe – Thorn, Culm, Marienburg und Danzig – im Wesentlichen ein slavischer Fluß ist? Denn das ist er in der That nach Ursprung und größtentheils auch Verlauf wie nach der Physiognomie des Verkehrs auf seinem Rücken, ja, wenn man will, auch der Eigenart seines Wesens nach.

Wie im slavischen Volkscharakter die schneidendsten Gegensätze neben einander schlummern, die heitere Lebenslust und die glühende Leidenschaft, so trägt auch die Weichsel ein verschiedenes Gesicht je nach der Stimmung des Augenblicks. Heute fließt sie dahin in sonnigem Glanze, und ihr Schimmer belebt die einfache, melancholische Landschaft, die in ihrer schwermüthigen Stimmung einen eigenen, auswärts noch lange nicht genug gewürdigten Reiz ausübt; freundlich spiegelt sich in ihr der Abendhimmel, dessen Wolkenbildungen gerade in dieser Gegend selten schöne Schauspiele darbieten. Morgen aber rast sie dahin in unwiderstehlicher Leidenschaft, zerstört die aufgerichteten Deiche und vernichtet meilenweit die Früchte menschlichen Fleißes. Hier dient die alte hochberühmte Wasserstraße, welche seit Jahrhunderten den Verkehr Polens mit der Ostsee vermittelte und auch heute noch trotz der Concurrenz der Eisenbahnen für die Ausfuhr von Getreide und Holz aus Rußland höchst wichtig ist, willig der Schifffahrt; dort führt sie den Schiffer tückisch auf eine der vielen Untiefen, die der von ihr mitgeführte Sand bildet. Hier bringt sie dem Niederungsbewohner erwünschten Zuwachs zu seinem Besitzthum, indem sie durch Anschwemmungen die zahlreichen „Kämpen“ oder angeschwemmten Inseln vergrößert, die mit ihren Weidenpflanzungen, über denen ab und zu die Möve herschießt, der Weichsellandschaft ein so charakteristisches Gepräge geben. Dort spült sie unerbittlich alljährlich große Strecken ab und entführt dem Landmann sein Eigenthum.

Zu einer Jahreszeit ganz besonders trägt die Weichsel den Typus des Landes, dem sie entstammt. Das ist im Spät-Frühling und Sommer, wenn die Holzflöße, Traften genannt, aus Galizien und dem obern Polen mit ihrer Bemannung herniederschwimmen nach den Weichselstädten. Eine fremde Welt ist’s, die Grenzscheide zweier Culturen, deren Vertreter in diesen Flößern, „Flissaken“ geheißen, zu den deutschen Ufern des Stromes herabkommen. So verschiedenartig wie das Gemisch der Stämme in jenen Gegenden, ist auch ihre Tracht; begnügt sich der Eine mit dem leinenen Beinkleid und dem darüber getragenen Hemd oder weißen Mantel, so trägt der Andere einen ausrangirten österreichischen Militärmantel, und der Dritte – in glühender Sonnenhitze! – den weißen, mit dem Gürtel zusammengehaltenen Schafpelz und die viereckige Mütze.

Ein Zug aber ist Allen gemeinsam: derjenige beglückender Genügsamkeit bei der größten Armuth. Wenn sie nur ein Stück Brod, einen Häring, möglichst viel Schnaps und etwas Hoffmanns-Tropfen haben, sind sie vollständig zufrieden mit ihrem Geschick, und wenn sie vielleicht gar noch eine Fiedel, eine Ziehharmonika ihr eigen nennen, so haben sie die höchste Glückseligkeit erreicht, die auf Erden denkbar ist. Denn die Liebe zur Musik ist, wie fast allen slavischen Stämmen, auch diesen Flissaken angeboren. Wer von ihnen es nur einigermaßen erschwingen kann, der nimmt sicher eine Geige von daheim mit, wenn der Holzhändler ihn zur Reise nach Danzig miethet; hat er’s nicht gekonnt, so kauft er bestimmt in der ersten preußischen Stadt, wo Halt gemacht wird, irgend ein musikalisches Instrument, auf welchem der Natursohn seine Kunst versucht. Eigenthümliche Klänge, meist ohne Rhythmus und Tact und doch nicht unharmonisch, entlockt er seinem Instrument; begeistert lauschen die Genossen, wenn sie, sich sonnend, um ihn herumlagern auf den Plätzen der Stadt; in langem Zuge folgen sie dem vorauschreitenden Spieler durch die Straßen hin zu dem schmalen, flachen Kahn, der dem Canoe gleicht und wegen der Gefahr des Umschlagens „Seelenverkäufer“ genannt wird. Nur wenige Mann, theils stehend, theils am Boden liegend, können in solchem Canoe zur Traft fahren. Und wenn der Abend gekommen und im Strome die Feuer sich spiegeln, an welchen der Flissak auf der Traft sein frugales Abendbrod sich kocht, wenn dem Uferbewohner der ganze Strom besäet erscheint mit diesen Lichtern und ihren Reflexen im Wasser – dann dringt zum Ufer der klagende Ton der Geigen herüber durch die laue Abendluft; der Flissak, der arme, unwissende, in Schnaps verkommene Sohn des Ostens, hat nach seiner Art seine Weihestunde und strömt das, was er dunkel ahnt und was ihm doch nie zum Bewußtsein kommen kann, in seinen Phantasien aus.

Wie grundverschieden aber von dieser Idylle ist der Eindruck, den die Weichsel im Frühjahr macht, wenn das wachsende Wasser die Eisdecke hebt und der Strom, in seinem Laufe beschleunigt, die großen, oft zwölf Fuß starken Eisschollen dem Meere zutreibt! Wohl ist es wahr, auch andere Ströme Deutschlands zeigen sich zuweilen in dämonischer Gestalt, aber der Weichsel ist in dieser Hinsicht keiner vergleichbar. Denn die Gefährlichkeit des Hochwassers, das Verheerende seiner Wirkung wird bei der Weichsel verdoppelt durch das Eis, das bei den anderen selten in Betracht kommt. Wo das Hochwasser allein keine Katastrophe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_271.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)