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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

gestanden, von dem kein Stein auf dem andern geblieben, oder kauern – auch Frauen darunter – auf dem Steinboden. Und wen sein Weg nach Jerusalem führt, der hört sie, wenn er am Freitag Nachmittag zwischen drei und vier Uhr der abgelegenen Stelle nahe kommt, Gebete murmeln unter Kopfnicken, wie auch die Hindus zu beten pflegen, und was stimmen sie an? Vielleicht die älteste Litanei der Welt. Der Vorbeter beginnt:

„Wegen des Tempels, der zerstört ist –

und die Versammlung fährt fort:

 „Da sitzen wir einsam, und weinen –“

und immer Zeile für Zeile mit dem nämlichen Refrain unterbrochen, geht eintönig die Weise des Vorbeters weiter:

 „Wegen des Palastes, der wüste liegt –
Wegen der Mauern, die zerrissen sind –
Wegen unsrer Herrlichkeit, die dahin ist –
Wegen unsrer großen Männer, die darnieder liegen –
Ob der kostbaren Steine, die verbrannt sind –
Wegen der Priester, die gestrauchelt haben –
Wegen unsrer Könige, die ihnen Verachtung zollten –“

worauf ein Refraingebet also schließt:

Vorbeter: „Wir bitten dich, erbarme dich Zions!“
Volk: „Sammle die Kinder Jerusalems!“
Vorbeter: „Eile, eile, Erlöser Zions!“
Volk: „Sprich zum Herzen Jerusalems!“
Vorbeter: „Schönheit und Majestät möge Zion umgeben!“
Volk: „Ach, wende Dich gnädig zu Jerusalem!“
Vorbeter: „Möge das Königreich über Zion bald wieder erscheinen!“
Volk: „Tröste die über Jerusalem Trauernden!“
Vorbeter: „O daß Friede und Wonne einkehre in Zion!“
Volk: „Und der Zweig aufsprosse zu Jerusalem!“

Das ist die über anderthalb Jahrtausend alte Klage an der Klagemauer des zerfallenen Tempels von Jerusalem, der erschütternde Seufzer eines Patriotismus, welcher ebenso wenig aufhört, versunkener nationaler Herrlichkeit zu gedenken, wie ihre einstige Wiederherstellung zu erhoffen. Denn jener „Zweig“ ist der Messias, der „Wiederbringer“, wie die Samaritaner ihn nennen, weil er das zerstreute Volk zurückführen und das vernichtete Reich wieder aufrichten soll. Von Titus bis Hadrian, der den letzten jüdischen Aufstand niederwarf und den Juden das Betreten der Stadt untersagte, hallte in den Trümmern des Tempels der Jammer des niedergeworfenen Volkes wider. Bis zum Anfang des fünften Jahrhunderts noch war dann der Aufenthalt in der alten Hauptstadt für die Juden verboten, wie wir aus des Hieronymus Mittheilungen wissen, aber sie durften dieselbe betreten, um – zu weinen. Damals war also schon jener „Platz des Weinens“ (el Ebra), jene Riesenmauer ausersehen, welche bei einer Länge von 158 Fuß und einer Höhe von 60 Fuß an die 23 Steinschichten enthält, darunter so gewaltige Blöcke, daß beispielsweise die Oberschwelle des hier vermauerten alten „Stufenthors“ 21 Fuß Länge mißt.

Woher aber stammen jene jüdischen Frommen? Es sind „Mogrebin“ oder Marokkaner, die, wie auch die Moslemin aus Westafrika, welche hier oben auf dem Tempelberg ihre eigene Moschee haben, sich durch Religionseifer auszeichnen; es sind „Sephardim“ – spanische Juden – nun meist in Constantinopel und anderen Stätten der Levante ansässig, vor Allem aber „Aschkenazim“ oder deutsche, das heißt polnische Juden, welche in letzter Zeit auch eine eigene Synagoge in der heiligen Stadt erbauten. Die meisten sind weit hergekommen, und das Schneehaar des Alters deckt ihr Haupt; denn sie wünschen in Jerusalem zu sterben, um im Thal Josaphat der Auferstehung gewärtig zu sein, die nach einer Stelle des Propheten Joël hier, in Verbindung mit dem Weltgericht, ihren Anfang nehmen soll. Es ist das eine Localsage, die auch zu Christen und Mohammedanern übergegangen ist.

Da haben wir eines der vielen Motive, welche durch die ganze Weltgeschichte unserer Zeitrechnung hindurch die Sehnsucht Unzähliger nach Palästina und seiner Hauptstadt geweckt haben. Welch eine Schaar von Wallfahrern hat hier ihr Ziel gesucht – Christen, Mohammedaner wie Juden! Und heute, da der Zerfall der mohammedanischen Herrschaft begonnen, legt sich ein Gedanke wie von selbst nahe: wird Palästina, jenes Land, um welches die ursprünglich besitzende Nation mit Strömen vergossenen Blutes vergebens gerungen, um dessen Besitz das ganze christliche Europa Generationen seiner besten Kräfte vergebens geopfert hat – wird Palästina der asiatischen Türkei verbleiben oder noch einmal seine eigene Geschichte haben?

Das Aufwerfen dieser Frage mag auf den ersten Blick für den nüchternen modernen Menschen abenteuerlich erscheinen; bei genauerem Zusehen hat die Sache doch ihre ernste Seite. Von politischen Rücksichen ganz abgesehen, steht der fromme Engländer oder Amerikaner zu der Stelle, wo die Urgeschichte des Christentums sich abgespielt hat, ganz anders, als das Kind der modernen Philosophie und Naturwissenschaft, und die Ziele der Kreuzzügler sind keineswegs nur noch in der geschichtlichen Rumpelkammer zu finden. Man vergesse nicht, worauf wir noch zurückkommen, daß unablässig von Amerika, England, Deutschland aus private Colonisationsversuche auf diesem in hervorragender Weise historischen Boden aus gläubigen Kreisen heraus gemacht wurden, wie man denn auch in England sich durch die größten Schwierigkeiten nicht abschrecken ließ, eine gründliche Vermessung des Landes vorzunehmen. Auf der andern Seite steht jener so einfach und natürlich erscheinende Gedanke: das Land Israel den Israeliten zurückzugeben, ein Gedanke, welchen der Judenhaß aller, vorzugsweise der Donauländer, am meisten unterstützt und der selbst im ungarischen Abgeordnetenhause eine so stürmische Vertretung gefunden hat. Man muß dabei freilich nicht an das intelligente umnationalisirte Judenthum der europäischen Großstädte denken, wie jene etwas boshafte Anekdote, welche Rothschild zumuthet König von Palästina zu werden und ihm die Antwort zuschreibt: „Lieber der Jude der Könige, als der König der Juden!“

Wie dem auch sei – das steht für den Kenner der Verhältnisse fest: es dürfte eine der schwierigsten Aufgaben sein, das heutige Palästina für eine civilisirte Einwanderung im großen Maßstabe zu verwenden, und damit ist vorgesorgt, daß sich in diesem Theile des Orients für’s Erste nicht so leicht eine „brennende Frage“ erhebt, welche einen Religionskrieg im großen Maßstabe entzünden müßte. Um es kurz zu sagen: Palästina ist nie ein „Land, in welchem Milch und Honig fließt“, gewesen, und wird und kann auch in Zukunft nie zu dem Paradiese werden, das jene Worte andeuten.

Ein kleines Land, von kaum fünf Tagereisen Länge und drei Tagereisen Breite, das Land jenseits des Jordan mit inbegriffen! Es ist so wasserarm, daß man vom Flusse Aegyptens bis an den Libanon kaum eine Quelle findet, die über vierzig Fuß weit rinnt. Die Wady (kleinere Wasserläufe) sind trocken; der Boden ist steinig, und die namhaften Bäche durchwatet man zu Fuß oder zu Roß, wenn nicht hie und da, wie ich es auch traf, ein nackter Kerl die Dienste des Christophorus verrichtet. Wenn der Winterregen nicht reichlich fällt, ist die Hungersnoth zum Heulen. Sparsam genug geht man auch mit dem Wasser um. So ging ich einst an der Burg Zion vorüber, als eben die türkische Wache, wie üblich auf dem Wachposten nicht stehend, sondern sitzend, sich die Hände wusch und darnach das Wasser, das der Mann ja nicht umsonst hat, gemüthlich austrank. An der Quelle Siloah sah ich Juden am Vorabende des Sabbath in Menge baden, und da, wo die Quelle aus der unterirdischen Bergleitung kommt, Weiber ihre Wäsche waschen – und am andern Morgen füllte von demselben Wasser beim Maria-Brunnen ein Siloaner Bursche seine Schläuche und beförderte sie auf Eselsrücken zum Verkaufe in die Stadt. Dieser berühmte Brunnen Siloah enthält aber zudem so schleimiges und unter der Loupe betrachtet von Infusorien wimmelndes Wasser, daß es schon darum fast ungenießbar ist. Man ist eben auf Cisternen angewiesen, und auch da ist Vorsicht von Nöthen. Es ist bekannt, wie Bonaparte seinerzeit viele Soldaten durch Mitgenuß der massenhaft vorhandenen kleinen Blutegel einbüßte. Was die Nahrung anlangt, so giebt es zu ihrer Gewinnung überall nur Wüste und mageres Weideland. Der Bauer trägt die Pflugsterze auf dem Rücken hinaus und spannt seine Kuh oder auch sein Kameel, wenn nicht sich selber vor; er versteht nicht einmal das Feld zu düngen, geschweige Heu zu machen. Die Rinder sind so klein und mager, daß kein Milo von Croton dazu gehört, um sie auf dem Rücken fortzutragen; die Kuh giebt kaum etwas Milch, dafür ist man auf Ziegen angewiesen, die allerdings sehr groß werden. Zum Unglück kommen noch allenfalls die Heuschrecken und fressen alles bis zur Wurzel auf. Und das war immer so; denn der der ersten Eroberung des Landes finden wir genau dieselbe klimatische Verhältnisse, dieselben Thiere und Pflanzen. Die ganze biblische Geschichte ist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_298.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)