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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Welche Ueberraschung!“ sagte Clotilde, während er sie schweigend betrachtete. „Ich hoffe, daß Dich nichts Betrübendes herführt.“

„Ich komme in der besten und reinsten Absicht!“ erwiderte er in seiner gemessenen Weise. Doch die unverkennbare Erregung in seiner Stimme und der durchdringende Ausdruck seiner Augen machten Clotilde’s Herz angstvoll schlagen.

„Setze Dich, Leonhard!“ bat sie und suchte gleichfalls für ihre bebenden Glieder einen Ruheplatz.

„Der Zufall,“ sagte Leonhard nach kurzem Räuspern, „hat mich gestern mit dem mutmaßlichen Inhalt von Deines Mannes Brief bekannt gemacht, der Dich vor drei Wochen so unerklärlich übereilt von uns forttrieb.“

Clotilde erbleichte mehr und mehr, und ihre zitternden Lippen verriethen keine Neigung zu einer Erwiderung. Leonhard schwieg ebenfalls und erwartete beharrlich, was sie entgegnen werde. Sein rücksichtsloses Benehmen empörte Clotilde und gab ihr die verlorene Fassung wieder.

„Und Du konntest es mir nicht ersparen, über einen Gegenstand zu reden, über den ich, wie Du fühlen mußtest, am liebsten schwieg?“

Die edle, sanfte Würde, mit der sie diese Frage an ihn richtete, schien ihn zu verwirren: er machte eine hastige Bewegung mit dem langen Oberkörper und streckte die über einander gelegten Füße von sich. Endlich erhob er den Kopf und sah seiner Cousine mit Bewunderung in die Augen.

„Clotilde,“ sagte er weicher als gewöhnlich, „hättest Du mir von jeher mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen, hättest Du meine Empfindungen für Dich nicht stets verkannt, so brauchte ich Dir jetzt nicht zu sagen, daß mich nur innigstes Mitgefühl zu Dir hergetrieben hat.“

Clotilde machte eine ungeduldige Bewegung.

„Ich bitte Dich, höre mich ruhig an! Du weißt, ich mißbilligte Deine Wahl – rege Dich nicht auf, laß mich ausreden – ich bitte. Wenn ich Dir auch meine Meinung darüber nicht vorenthielt, so wagte ich aus übel angebrachtem Zartgefühl dennoch nicht, mit vollster Ueberredung in Dich zu dringen –“

„Es hätte Dir auch nichts genützt,“ fiel sie ihm in’s Wort.

„Mich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen, hatte ich allerdings Gelegenheit genug. Und dennoch bereue ich heute bitter, daß ich damals nicht das Aeußerste versuchte. Ich hätte Dir eine Kränkung, eine Beschämung erspart, die Deine hingebende Liebe nicht verdiente.“

Clotilde hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt. Ueber ihr Gesicht ging ein fliegendes Roth, und aus den geschlossenen Augenlidern perlte Thräne um Thräne.

„Du wirst mir heute sicher nicht mehr widersprechen“, fuhr Leonhard fort, „wenn ich behaupte, daß Dein Gemahl ein Elender ist.“

Sie fuhr entsetzt empor.

„Leonhard, schweig’! Ich kann von keines Menschen Lippen in solchen Ausdrücken über ihn reden hören. Rudolph ist für mich todt. Ich beweine ihn wie einen Verstorbenen, und daher werde ich niemals dulden, daß man ihn vor meinen Ohren schmäht.“

Leonhard sah sie mit dem Ausdruck des größten Erstaunens an; er wußte lange kein Wort zu finden, und als er sich erhob, stand auch sie mechanisch von ihrem Sitze auf.

„Bevor ich Dich verlasse,“ sagte er jetzt in erregtem Tone, „habe ich noch eine Frage von Deinem Oheim an Dich zu richten. Er wünscht zu wissen – aus väterlichem Interesse – ob Du Deine Einwilligung zu der Scheidung von Deinem Manne gegeben hast.“

„Ehe ich antworte,“ sagte sie mit Anstrengung, „bitte ich Dich, mir zu erklären, wie ihr diese Dinge erfahren habt, von denen ich glaubte, daß sie noch tiefes Geheimniß seien.“

„Durch einen Zufall, wie ich Dir schon sagte; oder vielmehr durch die vertrauliche Mittheilung des Dir sehr wohlbekannten jungen Doctor Solms. Er hat sich vor einiger Zeit in einer kleinen Stadt Hannovers niedergelassen in deren Nähe die großen Erbbesitzungen der Frau von Dunker belegen sind, um die es sich ja handelt. Als er vor einer Woche als Arzt zu der Gnädigen hinausberufen wurde, kannte er schon einige Einzelheiten ihres vielbewegten Lebens – die Dir vielleicht noch neu sein dürften,“ setzte Leonhard mit äußerer Ruhe hinzu. „Die junge Dame, die von sehr leichtem Blut, aber überraschender Schönheit sein soll, hatte sich aus Trotz gegen den Willen ihres Vaters von einem sehr leichtsinnigen Officier, einem berüchtigten Spieler, entführen lassen und war, nach heimlicher Trauung in England, mit ihm nach Amerika gegangen. Dort wurde der junge Ehemann schon im ersten Jahre beim falschen Spiel ertappt und von einem jähzornigen Partner auf der Stelle im Duell erschossen. Die trauernde Wittwe erhielt fast unmittelbar nach dem Verlust ihres Gatten die Nachricht, daß ihr Vater in Deutschland gestorben sei, nachdem er sie testamentarisch enterbt und alle seine Besitzungen an einen Seitenverwandten vermacht hatte. Selbstverständlich legte die junge Frau Protest ein, und ihr amerikanischer Advocat begehrte eine Abschrift des unglücklichen Testaments. Seine zufällige Bekanntschaft mit einem deutschen Juristen veranlaßte den Amerikaner, ihn in dieser Angelegenheit zu Rathe zu ziehen. Der ungewöhnlichen Schlauheit des jungen Deutschen gelang es, zu Gunsten der schönen Wittwe – mit der er unterdessen auch persönlich bekannt geworden war – endlich die Umstoßung des Testamentes zu erwirken. Als die junge, reiche Erbin nun nach Deutschland zurückkehrte, nahm sie dankbar den unter dem Druck der Armuth lebenden jungen Deutschen als juristischen Verwalter ihres Vermögens mit. Ja, sie war sogar soweit gegangen, den jungen Mann schon unterwegs mit dem Versprechen ihrer Hand zu beglücken. – Doctor Solms war natürlich sehr gespannt, das vielbesprochen Paar kennen zu lernen, dessen Hochzeit, wie es schien, nahe bevorstand. …“

Leonhard hatte, während er erzählte, die Augen unverwandt auf das arme junge Weib gerichtet, die unter der Mittheilung dieser ihr nur theilweise bekannten Einzelheiten martervolle Qualen erduldete. Aber kein Laut, keine Bewegung verrieth, was sie litt.

„Du kannst Dir nun die Ueberraschung von Solms vorstellen, als er in dem glücklichen Bräutigam, der ihm hier unter einem neuen Namen vorgestellt wurde, den Gemahl seiner schönen Jugendgespielin erkannte. – Er begrüßte ihn als Landsmann ohne in Gegenwart der Dame seine Verhältnisse berühren zu wollen, aber der Schreck des jungen Herrn, als er hier unerwartet einen Bekannten traf, war so deutlich auf seinem verstörten Gesicht zu lesen, daß er auch den Augen seiner Geliebten nicht entgehen konnte. Nachdem Rudolph von Brauneck,“ Leonhard sprach den Namen mit erhobener Stimme, „in unverkennbarer Verwirrung das Zimmer verlassen hatte, fragte Frau von Dunker unsern Freund:

‚Sie sind aus früheren Zeiten mit meinem Verlobten bekannt?’

Und Solms erwiderte:

‚Ich hatte die Ehre, auf seiner Hochzeit zu tanzen.’

‚Auf seiner Hochzeit?’ kreischte die Dame. ‚Er war verheirathet?’

‚So viel ich weiß, lebt seine Frau heute noch und erwartet mit Sehnsucht seine Rückkehr,’ entgegnete Solms.

Da gab es denn für den Arzt genug zu thun. Krämpfe und Ohnmachten wechselten mit einander ab. Doch den Helden des Tages sah Freund Solms nicht wieder. Dagegen erhielt er wenige Tage darauf von der gnädigen Frau ein verbindliches Schreiben, in welchem sie ihm mittheilte, ihr Verlobter habe schon bei der Rückkehr aus Amerika, von England aus, eine Scheidung von seiner Frau angebahnt, welche Mittheilung er ihr aus Zartgefühl erst nach vollendeter Thatsache habe machen wollen etc.. Von einem Verzicht ihrerseits auf ihren Verlobten war nicht im Geringsten die Rede.“ –

Als Clotilde noch immer unbeweglich und schweigend vor sich hinsah, entschloß Leonhard sich noch einmal zu der Frage: „Und welche Antwort soll ich nun meinem Vater sagen?“

Clotilde erhob langsam den Kopf, als erwache sie aus tiefem Traume, und sagte mit klangloser Stimme: „Ich gab meine Einwilligung zu einer Scheidung schon wenige Tage nach meiner Rückkehr von Euch. Aber auf Rudolph’s Bitte, daß ich eine Scheidung beantragen möge, bin ich nicht eingegangen; und dazu werde ich mich nie verstehen. Ich habe ihm am Altar gelobt,“ fuhr sie mit zitternden Lippen fort, „ihm treu zu bleiben, bis der Tod uns scheidet, und niemals werde ich einen Schritt dazu thun, um eine Trennung von ihm einzuleiten. Doch wird mir auf seine Veranlassung eine Scheidungsacte vorgelegt, so werde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_402.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)