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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Brief, ein unsauberes Blatt Papier, mit ungeübten Fingern zusammengefaltet. Eine ungeschickte Feder hatte die traurigen Worte darauf gekritzelt, die sein Mund dictirt hatte. Wem dictirt? In welcher Umgebung mußte er leben! –

Nach langen, qualvollen Stunden war sie endlich am Ziele.

Dort in jenem kleinen Städtchen vor ihr lebte er, litt er. Mit schnellen Schritten hatte sie bald die erste Straße erreicht; hier sollte er wohnen. Ein kleines Mädchen, wohl zwölf Jahre alt, stand vor einem schmutzigen, verfallenen Hause und ließ ihre hellen Haare im Winde flattern. Die blauen Augen des Kindes betrachteten unverwandt Clotildens stattliche, schöne Gestalt in dunklen Trauerkleidern, wie sie des Weges daher kam. Sonst war Niemand auf der Straße zu sehen.

„Kannst Du mir sagen, wo Frau Mautner wohnt?“ fragte Clotilde die Kleine.

„Ja, die wohnt hier,“ erwiderte das Mädchen dienstfertig. „Sind Sie die Dame, die der kranke Herr da oben erwartet?“

„Woher weißt Du, Kleine, daß er mich erwartet?“

„Ich habe ja den Brief geschrieben,“ entgegnete das Mädchen mit kindlichem Stolze; „und nun hat mich der Herr gebeten, nach der Ankunft jedes Zuges hier vor der Thür auf Sie zu warten.“

„Hat er denn Niemand sonst zur Pflege und Wartung, als Dich, mein liebes Kind?“

„Ich wohne nur hier im Hause,“ sagte die Kleine schüchtern „und gehe mitunter heimlich zu ihm. Frau Mautner thut dem armen Kranken nicht gut,“ setzte sie flüsternd hinzu und sah sich ängstlich nach allen Seiten um.

„Gott im Himmel!“ seufzte Clotilde. „Steht es hier so? Kann ich ihn sehen, Kleine? Willst Du mich zu ihm führen?“

„O, gewiß. Darum stehe ich ja hier. – Wir müssen leise gehen,“ sagte das Kind auf der Treppe; „er möchte schlafen; er schläft so viel.“

Da stand sie nun vor der niedrigen, undichten Thür, die sie noch von ihm trennte. Die Kleine öffnete behutsam.

In einer finstern, dumpfen Kammer, auf unsauberem Lager ruhte ein bleicher, abgezehrter Mann mit wirrem Haar und wirrem Bart. Das – das war ihr Mann? Ihr einst so schöner, stolzer Mann? – Sie schloß ihre Augen; sie preßte die Hände fest an die Brust, um den Schmerzensschrei zu unterdrücken, der sich ihr entringen wollte.

Er schien zu schlafen. Leise schlich sie an sein Bett und suchte in den verwandelten Zügen das ihr einst so liebe Gesicht. So verändert! Und doch vergingen kaum zwei Jahre, seit er ihr so voll Liebe und Verzweiflung in die Augen sah, als das Unglück über ihn hereinbrach.

Ein feiner, zarter Duft, der alle ihre Kleider zu durchdringen pflegte, mochte die Geruchsnerven des im Halbschlaf Liegenden berühren, als sie ihm nahe stand, und ihm ihr Bild vor die Seele zaubern. Mit schwacher Stimme, die vor Schmerz und Sehnsucht zitterte, rief er: „Clotilde! Clotilde!“

Sie bebte zusammen und fing leise zu schluchzen an. Der Kranke regte sich. Sie trat geräuschlos zurück, das kleine Mädchen mit sich führend.

„Ich will hier warten,“ flüsterte sie ihr draußen zu, „bis er erwacht ist; dann bereite ihn auf mein Kommen vor!“

„Sie dürfen schon drinnen bleiben,“ sagte die Kleine mit traurigem Ausdruck in ihren blauen Kinderaugen; „er sieht Sie nicht, wenn Sie auch da sind.“

„Er sieht mich nicht? Was heißt das? Ich meine, wenn er erwacht ist.“

„Er sieht Sie auch dann nicht,“ entgegnete das Mädchen. „Er ist blind.“

„Er ist blind? Seit wann denn blind?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte die Kleine, die zu weinen anfing; „von Tag zu Tag immer mehr.“

„Und was sagt denn der Arzt?“

„Der Arzt? Einen Arzt hat er hier nicht gehabt.“

„Gott im Himmel, welche Zustände!“

„Und er hat so sehr gehungert,“ flüsterte das Kind ihr furchtsam zu. „Das Brod, das ich ihm abgeben konnte, war auch so wenig; meine Stiefmutter giebt mir nicht viel.“

Clotilde rang die Hände. Dann strich sie liebkosend über des Kindes Haar und sagte weich:

„Du gute Kleine! Gott lohne es Dir! Ist Frau Mautner Deine Stiefmutter? Und ist sie zu Hause?“

„Nein, sie ist meine Stiefmutter nicht; zu Hause ist sie auch nicht. Sie schwatzt in der Nachbarschaft. Soll ich sie holen?“

„Ich danke Dir; noch nicht. Aber kannst Du mir einen Arzt verschaffen?“

„Ja, einen Arzt giebt es hier wieder, seit der alte todt ist, einen neuen jungen Doctor. Soll ich ihn holen?“

„Gewiß. Doch beeile Dich!“

Clotilde trat wieder in die unfreundliche, kalte Kammer zurück. Ihr Herz war zum Zerspringen voll von Jammer und Mitleid, aber – sie fühlte es klar – ihr war, als litte sie um einen fremden Unglücklichen. Von der Liebe des Weibes zum Gatten mischte sich nichts in ihre Empfindungen.

Der Kranke erwachte. Seine abgezehrte Hand tastete auf dem elenden Holzschemel umher, der neben dem Bette stand. Er schien das Erwartete nicht zu finden und seufzte. Seine matten, gerötheten Augen irrten im Zimmer umher und streiften Clotilde, ohne sie zu gewahren. Das Kind hatte Recht; der Aermste war blind. Clotilde machte eine Bewegung.

„Bist Du es, Mariechen?“ fragte er, „Hast Du nicht ein Stückchen Brod?“

„Ich bin es, Rudolph,“ sagte die junge Frau leise.

„Clotilde!“ rief er und streckte die zitternden Arme empor. „O Clotilde! Wie danke ich Dir, daß Du gekommen bist; daß Du mich nicht sterben lässest, ohne – ohne –“

Die Stimme versagte ihm. Die Erregung der Freude hatte seine schwache Kräfte erschöpft; er lag wie ein Todter da.

Clotilde blickte, nach Hülfe suchend, in dem öden Gemach umher. Ein Blick auf ihre kleine Tasche gab ihr einen guten Gedanken. Aus einem Fläschchen, das Hanna’s Sorgfalt ihr zu eigenem Bedarfe mitgegeben, goß sie mit zitternden Fingern etwas stärkenden Wein in ihr kleines Reiseglas und brachte es, den Kranken stützend, an seine bleichen Lippen.

Kaum spürte er, was ihm geschah, so schlürfte er den belebenden Trank mühsam, aber gierig hinunter, und die Leichenblässe begann zu weichen. – Rasche Tritte auf der Treppe, denen kleine Kinderfüße folgten, verkündeten den Arzt.

Ein junger Mann trat ein und wich erstaunt zurück, als er Clotilde vor sich sah, die in gleicher Ueberraschung erröthete.

„Gnädige Frau, Sie finde ich hier?“ fragte er im Ton höchster Verwunderung.

„Ihr Erstaunen kann nicht größer sein, als mein eigenes, lieber Doctor Solms. Leonhard hatte mir gesagt, Sie wohnten in einer kleinen Stadt Hannovers –“

„Dort war ich bis vor wenigen Wochen. Dann starb hier der Arzt, und ich zog hierher. … Doch was für einen Kranken haben Sie da, gnädige Frau? Wer ist der arme Mann, der Sie hierher gerufen hat, wie mir die Kleine sagte?“

In Clotildens Augen traten Thränen.

„Sehen Sie ihn genauer an!“ erwiderte sie.

„Um des Himmels willen!“ sagte der Doctor erschüttert, als er den noch immer Bewußtlosen betrachtete, „das ist –?“

„Es ist Rudolph!“ ergänzte Clotilde leise.

„Großer Gott!“ rief der junge Mann. „Wie kommt er hierher und in diesen Zustand? Ich glaubte ihn in – in glänzenden Verhältnissen –“

Ueber Clotildens bleiche Züge flog eine jähe Röthe.

„Er entfloh in Reue und Widerwillen jenen ‚glänzenden’ Verhältnissen,“ sagte sie mit bebender leiser Stimme; „und da er sich und sein zerstörtes Leben haßte, wollte er es von sich werfen. Doch ehe er seinen schauerlichen Vorsatz ausgeführt hatte, erscholl der Kriegsruf. – Als Reserve-Officier zog er mit nach Frankreich und ward schwer verwundet. Am Abend vor der Schlacht schrieb er mir einen langen, reuevollen Brief – der mir nach seinem Tode, den er mit Zuversicht erhoffte, übersandt werden sollte. Der Arzt, in dessen Hände der Verwundete kam, sandte ihn mir mit einem kurzen Bericht über Rudolph’s Zustand und gab mir dann noch mehrfach Nachricht. Nach dem letzten Briefe dieses Arztes war Rudolph mit einem Zuge von Reconvalescenten, den der Doctor selbst begleitete, bis hierher gelangt; doch wegen neuer schwerer Erkrankung unter der Obhut des hiesigen Arztes und in Pflege einer sehr braven Frau zurückgelassen worden. Das bedungene wöchentliche Kostgeld, für die beste Pflege ausreichend,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_422.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)