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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

zahlreichen Fischerboote in sicherer Höhe an Pflöcken und Pfählen befestigt sind. Selten nur zeigt sich ein um diese Boote beschäftigtes menschliches Wesen dem über die schmale Sandfläche schweifenden Blick; noch seltener winkt eine menschliche Wohnung oder ein niedriger Kirchthurm über die Höhe der Uferbank einen Gruß herab, aber in Reihen, wie nach dem Lineal geordnet, sitzen auf der scharfen Kante Schaaren von Fischadlern, deren durch die schrägen Abendsonnenstrahlen verlängerte Gestalten wie eine Cohorte soldatischer Wächter erscheinen.

„Wie heißt der Ort, dessen Kirchthurm genau den Endpunkt des weiten Uferbogens bildet – dort auf dem Vorgebirge?“

„Przizib!“

„Und hier die Häuser, die gerade neben uns auf der Höhe der steinigen Uferbank sichtbar werden?“

„Wetljanka!“

Mehrere kleine Uferpfade, die im Laufe der Zeit durch Austreten der Spalten im lehmigen Erdreich gangbar geworden sind, auch ein großer, für Pferde und Karren passirbarer Weg vermitteln die Verbindung mit dem oberen Flecken und dem hier breiten, mit zahlreichen Fischerbooten bedeckten Ufersand. Der größere Weg führt auf den ziemlich geräumigen rechteckigen Dorfplatz.

Sind diese reinlichen, fast zierlich gebauten und in wohlgeordneten Reihen zusammenstehenden Holzhäuser die Brutstätten einer fürchterlichen Krankheit gewesen? Schuf der Boden dieser saubergehaltenen Vorplätze, dieser wohlgelüfteten Dorfstraßen, die in die jetzt üppig grünende blumige Steppe auslaufen – schuf dieser Boden die tödtlichen Keime der Pest?

Kein Vorurtheil, in der That, mag gründlicher enttäuscht werden, als das, nach welchem man sich die vielgenannten Peststätten an der Wolga als elende, fast nur aus ärmlichen Hütten oder Zelten bestehende Schmutzorte vorstellte, bewohnt von einer verkommenen, ärmlichen, halbverthierten Bevölkerung, durchseucht mit den Abfällen von Ueberbleibseln verwesender Fische.

Die Kosakendörfer (Stanitzen) sind meistens sauber, oft stattlich und wohlhabend. Die einzelnen Gehöfte sondern sich durch kleine Vorplätze und Stacketenzäune von einander ab und weisen vielfach zwei bewohnbare Gebäude, ein Sommer- und ein Winterhaus, auf. Das erstere enthält, etwas primitiv aus Flechtwerk hergestellt, durchgängig nur zwei Räume. Die Winterhäuser jedoch präsentiren sich ganz stattlich mit ihren Glasfenstern und einer Vorlaube, einer Art Veranda, durch welche man in den Flur tritt. Von diesem führen Thüren in zwei, drei, auch wohl vier innere Gemächer. Im oberen Stock befinden sich Schlafstellen für Knechte und Mägde, Aufbewahrungs- und Vorrathsräume; hinter dem Hause Hundehütte, Schweinekoben und die Ställe für die so nützlichen und zahlreich gehaltenen Kosakenpferde. Auch Kühe und Schafe, sowie Hühner werden, wenngleich in verhältnißmäßig geringer Zahl, in Wetljanka und den Nachbardörfern gezogen.

Jedoch besteht der Reichthum jener Wolgagegenden nicht im Viehstande, noch weniger in irgend welchen Bodenerträgen. Die Steppe bringt, wenn sie sich im späten Frühjahr endlich von den letzten Schneelagern befreit hat, auf ihren salzfreien Theilen eine reiche Menge duftiger Gräser hervor, die im frischen Zustande und als Heu das (in manchen Jahren kärglich zugemessene) Futter für die obengenannten Hausthiere liefern. Außerdem wächst auf dem salzfreien Boden noch Senf, Wermuth und Hanf, sowie eine Menge blühender Gewächse. Getreide reift wegen der allzugroßen Trockenheit nicht; Roggen und alle Getreidearten haben einen höheren Preis als der Reis, und selbst die Kartoffel eignet sich nicht zum Anbau im Großen. Nur mit dem Gemüsebau hat man in Wetljanka und seiner nächsten Umgebung einige erfolgreiche Versuche gemacht. So kommt denn auch, da er zur Förderung der Bodenfruchtbarkeit nicht gebraucht werden kann, der Mist der Hausthiere zu einer für uns ganz fremdartigen Verwendung: er dient, ausgetrocknet und aufbewahrt, als Brennmaterial, da Holz nur schwer und theuer zu beschaffen ist. Schon dieser Umstand läßt die Wolgadörfer reinlicher erscheinen, als viele Dörfer Deutschlands, in welche ungeheure Composthaufen und dicht vor den Hausthüren sich ausbreitende Jauchetümpel die Luft in der nächsten Umgebung der Hütten einen großen Theil des Jahres hindurch verpesten.

Auf den salzhaltigen Theilen der Steppe gedeiht kein pflanzliches Leben. Hier sammelt sich auf flachen Seen und Morästen das Salz zu einer dicke Kruste an, wird mit stangenartigen Werkzeugen abgebrochen und auf Salzmühlen zu einer bestimmten Grobkörnigkeit zerkleinert, um zum Einsalzen der Fische zu dienen. Beide Producte vereint bedingen die Wohlhabenheit jener Striche. Von dem Fischreichthum des Stromes macht man sich nur schwer eine Vorstellung. Wenn die Fische in der Wolga meerwärts ziehen, bilden sie in den kleineren und schmäleren Ausflüssen solche Anhäufungen, daß Boote nicht mehr passiren können. Mit den plumpsten Vorrichtungen werden Millionen größerer und kleinerer Fische gefangen und der reichliche Segen – besonders durch sinnloses Vernichten der junge Brut – in der Weise ausgebeutet, daß neuerdings gesetzliche Bestimmungen dagegen nöthig geworden sind.

Welchen bedeutenden Handelsartikel die größeren und feineren Fischsorten, die in den Einsalzanstalten (Batagen) für den Versandt bereitet werden, bilden, ist genügend bekannt. Nur eine der größeren Anstalten dieser Art befindet sich in unmittelbarer Nähe von Wetljanka, eine größere Menge flußabwärts und die meisten bei Astrachan. Hierhin bringen die Fischer der oberen Dörfer ihre frischgefangene Waare, hierhin begeben sich aber auch zahlreiche Einwohner der Stanitzen gegen den Sommer hin, um einen sehr lohnenden Verdienst zu finden.

Lassen schon diese Verhältnisse es als unannehmbar erscheinen, daß eine an industriellen Erwerb, an lebhaften Außenverkehr gewöhnte Bevölkerung stumpf und unintelligent, oder bedürfnißlos und halb wild sei, so widerspricht noch mehr die eigenartige Organisation der kosakischen Gemeinden derartigen Voraussetzungen durchaus. Nicht so vornehm wie die Donischen Kosaken, haben doch auch die an der Wolga ihre Vorrechte, ihren Adel, ihre eigene Verwaltung und Gesetzgebung – Punkte, auf deren Bedeutung und besonders auf deren Nachtheile wir noch zurückkommen müssen. Von ihren unmittelbaren Nachbarn, den buddhistische Kalmücken, halten sie sich ganz abgeschlossen, von irgend einer Vermischung ist keine Rede, und wenn schon die Körperbildung sie genügend von dem tatarischen Typus unterscheidet, so prägt sich dieser Unterschied noch schärfer aus in der Lebensweise und den Lebensbedürfnissen. Kein Ort entbehrt seiner Kirche, kein Wohnhaus seiner Glasfenster und Möbel, die, wenn auch im Wesentlichen aus Tisch und verschiedenen großen Bänken bestehend, mit dem stattlichen Samowar (Theemaschine), den Heiligen- und Kaiserbildern, dem hier und da vorhandenen Spiegel, kleinen Decken u. dergl. m. durchaus an den Inhalt behäbiger deutscher Bauernstuben erinnern.

Das ist die Scenerie, auf welcher sich von October 1878 bis Januar 1879 Ereignisse abspielten, welche die Blicke von ganz Europa zwingend auf sich lenkten, ein Trauerspiel, dessen ganze Furchtbarkeit durch unsere damaligen Nachrichten (Nr. 9, 11, 13 dieses Jahrgangs) nicht etwa übertrieben, sondern im Gegentheil verschleiert worden ist. Wir dachten uns unter dem Pestschauplatz eine ganze Menge scheußlicher ärmlicher Nester, so stinkend widerwärtig und unsauber, daß man ernstlich daran glaubte, die Pest könne ganz wohl dortselbst, in Folge der Orts- und Bodenbeschaffenheit, entstanden sein, und wir finden die Seuche in einem Flecken von 1700 Einwohnern; hier bricht sie aus; hier fordert sie eine unglaubliche Zahl von Opfern; hier tobt sie sich fast aus und greift nur nachträglich und vergleichsweise unbedeutend auf einige Nachbarorte über.

Boden, Klima, Lebensverhältnisse in dem unglücklichen Wetljanka erscheinen geradezu vorteilhafter, gesünder, als sie es in den allermeisten russischen Dörfern, ja in vielen westrussischen und ostpreußischen Landstrichen sind. Was aber noch mehr ist: nicht eine Horde empfindungsloser, untergeordneter Menschenwesen, sondern eine intelligente, das Leben liebende Bevölkerung war es, die hier litt und dahingerafft wurde. Nicht roher und härter als die unseren waren die Gemüther der Eltern, Wittwen und Waisen, welche in Jammer und Hülflosigkeit es ansehen mußten, wie das grause Geschick sich an den nächsten und geliebtesten Familiengliedern erfüllte. Lange dauerte es, bis das Massensterben und der Schrecken ohne Ende die Bande des Hauses und der Gemeinde so lockerten, daß ein Theil fliehend aus einander stob. Warnend, kämpfend und schließlich selbst erliegend heben sich aus diesem Chaos des Elendes Gestalten heraus, welche unsere Theilnahme in hohem Grade verdienen.

Unter diesen wahrhaft epischen Persönlichkeiten Wetljankas

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 521. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_521.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)