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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

denken, er wollte nicht mehr die grauenvolle Stimme hören, die ihm in das Ohr flüsterte, daß dort in der Mauertiefe auch Anfang und Ende beisammen lägen, daß sich sein Veit in diesem Augenblick wohl draußen unter dem strahlend blauen Spätnachmittagshimmel fröhlich und ausgelassen tummeln würde, wenn die alten, zinnernen Pfeifen, die Holzengel noch an dem Platze ständen, wo sie die Hand des musikbegabten Abtes aufgestellt, und wo sie Jahrhunderte hindurch harmlos auf die harten aber braven Köpfe der Wolfram’s, auf ihr Thun und Treiben niedergesehen, nie verrathend, daß ein Schleich- und Diebsweg neben ihnen die Wand durchbohre. Verflucht, verflucht bis in alle Ewigkeit sollte der Tag sein, wo sich das Geheimniß dem letzten Wolfram enthüllt und er der Versuchung erlegen war.

So war die Nacht hereingebrochen, und ein Arzt nach dem andern hatte sich verabschiedet; nur der geschmähte alte Hausdoctor war geblieben, und die Majorin hatte es nicht vermocht, vom Klostergut zu gehen, während dort ihr heißgeliebter Familienname mit seinem jüngsten Träger für immer erlosch.

Sie hatte für diese wenigen Stunden das Regiment im alten Vaterhause stillschweigend wieder übernommen. Es war ihr zu Muthe, als müsse sie sich verbluten und sterben an den tiefen Wunden, die ihr der heutige Tag geschlagen, aber sie ging umher mit dem blassen Steingesicht, wie es die Leute des Hauses an ihr gewohnt waren. Sie holte das Nöthige aus der Speisekammer, und auf dem Herde brodelte, ihrem Befehl gemäß, ein warmes Abendbrod für das Gesinde, welches um sein Mittagessen gekommen war. – Aus dem kleinen Thale kam eine Nachricht um die andere, dringende Botschaften voll Jammer und Unglück – sie ließ keinen der Boten hinein zu dem Mann, der nun nicht mehr helfen konnte und am Sterbebette seines Kindes furchtbar büßte, was er gesündigt.

Ihr Bruder sah sie nicht. Er hob nur einmal den Kopf und knirschte wie ein Wahnwitziger mit den Zähnen, als ihm eine der Hausmägde mitleidig ein Glas mit Wein gemischten Wassers als Labung bot – er stieß voll Abscheu den Trunk von sich. Auch den treu ausharrenden Arzt beachtete er nicht. Er seufzte nur tief auf, und ein Schauder lief durch seine Glieder, wenn sich die kleinen Füße, neben die er seinen Kopf gelegt hatte, zwar immer matter, aber in pünktlicher Wiederholung der Krämpfe zusammendrehten.

Es wurde immer stiller in der Amtsstube. Das Plätschern des Laufbrunnens im Vorderhof drang eintönig durch das offene Fenster herein, und daneben war es, als gehe ein Erschauern durch die Lindenwipfel – der Nachtwind schlich durch die Blätter, kam wie auf Geistersohlen über den Steinsims her und rührte an die Papiere, die auf dem Tisch in der Fensterwölbung lagen.

Nun schlug es draußen auf dem Benedictinerthurm die elfte Stunde, und ehe noch der letzte Schlag verhallt war, streckte sich der Körper des Sterbenden in seiner ganzen Schlankheit aus, und als der Rath mit einem Schrei aufsprang und sein Ohr an den geöffneten Kindermund legte, da war schon der letzte Athemhauch Veit’s in den Lüften verflogen.

Minutenlang hielt der Rath den entseelten Körper an die Brust gedrückt und küßte wiederholt das noch warme, kleine Gesicht; dann strich er das Kopfkissen zurecht, bettete den Kopf des Knaben vorsichtig darauf, schloß ihm die Lider über den starren Augen und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, schweigend hinaus.

Die Majorin hatte sich in die unbeleuchtete Eßstube zurückgezogen. Die Thür stand offen, und so konnte sie das Sterbelager im Auge behalten. Sie hörte, wie der Rath ohne Aufenthalt die Hausflur und den Vorderhof durchschritt und das Mauerpförtchen hinter sich zufallen ließ.

„Er geht wohl nach dem kleinen Thale,“ flüsterte der Arzt, als sie lautlos zu ihm trat. „Und so schlimm es draußen auch stehen mag, für ihn ist es gut so. Es treten schwere Aufgaben an ihn heran, und die werden ihm über seinen großen Schmerz hinweghelfen.“

Auch er verließ das Haus. Die Majorin schloß die unteren Fenster der Amtsstube, zog die Gardinen vor und öffnete dem Luftzug die oberen Flügel. Einen Augenblick verharrte sie erschüttert vor der Leiche des Knaben, der nur über die Erde gegangen war, um mit jeder seiner kleinen Fußstapfen Unheil und Leiden für Andere aus dem Boden zu stampfen – und sie legte die Hand auf die Brust und sagte sich, daß auch sie voll Schuld sei, daß sich ihr glühender, fast frevelhafter Wunsch, den Wolfram’schen Namen fortleben zu sehen, in seiner Erfüllung strafend auch gegen sie selbst gerichtet habe.

Sie löschte das Nachtlicht aus, schloß die Thüren und ging in die Küche. Dort kauerten die Mägde auf der Thürschwelle und waren ermüdet eingeschlafen. Ohne sie zu wecken, zog sie den Docht zu einem ungefährlichen Flämmchen tiefer in die Lampe und ging hinaus, über den Hof hinweg in den Garten. Sie wußte zum ersten Male in ihrem Leben nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollte. Der Rath hatte sie aus seinem Hause gewiesen, und den Schlüssel zu dem Giebelzimmer, dem Raum, der trotz alledem augenblicklich noch ihr unbestrittenes Eigenthum war, trug er in der Tasche. So setzte sie sich auf die Gartenbank und wollte das Frühroth erwarten, um dann am Schillingshof um Einlaß anzuklopfen.

Die Sterne funkelten in seltener Pracht über dem Klosterhause, über den alten Giebeln und Mauern, in denen sie als glückliches Kind gespielt, als stolze Braut geträumt und als Frau und Mutter unbeschreiblich gelitten hatte – durch eigenes Verschulden. Und was der Tag mit seinen Stürmen nur halb vollzogen, das vollendete nun die stille, schweigende, feierliche Nacht – die Läuterung der Frauenseele, die sich selbst heute Nachmittag noch einmal erbittert, voll auflodernder Eifersucht und Rachegefühl empört hatte bei der Nachricht, daß der böslich verlassene Mann, der heute noch geliebte, mit einer Andern glücklich geworden war und sie, die Unversöhnliche, vergessen hatte. Da hatte sie mit sich ringen müssen, um nicht plötzlich voll Haß mit den Händen nach der herrlichen Frauengestalt zu stoßen, die das Kind jener verhaßten „Zweiten“ war. Aber auch das war nun vorüber und niedergekämpft zu den Schlacken, die der sturmvolle Läuterungsproceß von ihrer Seele schüttelte.

Am andern Morgen lief die erschütternde Nachricht durch die Stadt, daß der Herr Rath Wolfram selbst in seinen Gruben verunglückt sei. Die Leute erzählten, er sei des Nachts wie ein Trunkener oder ein vom Schwindel Befallener zu ihnen hinausgekommen, sei allen Abmahnungen zum Trotz mit der Rettungsmannschaft in die Gruben hinabgefahren und plötzlich, kaum nach Beginn der Einfahrt, lautlos von ihrer Seite verschwunden – der Schwindel müsse ihn in die gähnende Tiefe hinabgerissen haben.




36.

Große Aufregung herrschte in allen Kreisen der Stadt. In wenigen Stunden hatte durch Wolfram’s Schuld eine Schaar kräftiger Männer, Väter und Söhne, eines furchtbaren Todes sterben müssen. In all dem Jammer, der grenzenlosen Erbitterung war es deshalb Vielen ein wahrer Trost, eine tiefe Genugthuung gewesen, daß der Rath Wolfram die ganze Schuld allein auf seine Schultern werde nehmen müssen.... Nun war er selbst das Opfer der Katastrophe geworden, noch dazu in derselben Nacht, wo er sein einziges Kind hatte sterben sehen. Vielen war das die sichtbare Hand Gottes, die ihn strafend in die Tiefe geschleudert, Andere aber munkelten bereits, daß sein jähes Ende nicht ohne seinen eigenen Vorsatz erfolgt wäre....

Ueber die Todesart Veit’s verlautete noch nichts im Publicum. Groß war die Sensation im Schillingshofe. Hannchen war sofort in das Atelier gegangen und hatte dem Herrn des Hauses das Geschehniß angezeigt, und Mamsell Birkner hatte auch keine Veranlassung gehabt, im Souterrain über Adam’s glänzende Rechtfertigung zu schweigen. Die Nachricht hatte wie eine Alarmtrommel das ganze Dienstpersonal zusammengetrieben.... Wie – es war nicht der Geist des armen Bedienten gewesen, der hinter den Holzwänden des Salons gespukt hatte? Wirkliche Finger und Füße von Fleisch und Bein hatten an der spukhaften Stelle getappt und getastet, und das vermeintliche Gespenst wandelte stolz und hochmüthig durch die Straßen der Stadt, ließ sich „Herr Rath“ tituliren, war der Reichste unter den Reichen im weiten Umkreise und hatte es nie der Mühe werth gefunden, den ehrlichen Domestiken des Schillingshofes für ihren ehrerbietigen Gruß auch nur mit einem Augenwink zu danken?

Nie hatten sich die braven Leute so viel in der Flurhalle und im Corridor zu schaffen gemacht, wie an diesem Nachmittage, wo sie hofften, durch eine offengelassene Thür einen Einblick in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_598.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)