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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

von der böhmischen Grenze mitten durch Deutschland bis zu den Gestaden der Nordsee mitzumachen.

Das westfälische Kriegsgericht, welchem diese drei Officiere entronnen waren, erkor als zweites Opfer den fünfundsiebenzigjährigen Oberst Emmerich, einen alt-hessischen Officier, welcher den siebenjährigen und den amerikanischen Krieg mitgemacht hatte. Selbst nach dem Fehlschlagen des Dörnberg’schen Aufstandes hatte dieser alte Haudegen in Marburg im Bund mit dem dortigen Professor der Medicin Hofrath Dr. Sternberg einen neuen Aufstand gegen den König Jérôme zu erregen versucht, welcher jedoch noch im Entstehen unterdrückt wurde. Nach Kassel vor das Kriegsgericht geführt, wurde Oberst Emmerich zum Tode verurtheilt und am 18. Juli 1809 auf dem „Forst“ erschossen. Auf seinem letzten Gang rauchte er ruhig aus einer kurzen Pfeife, und diese in der Hand haltend, ohne Binde vor den Augen, rief er selbst mit lauter Stimme das Commandowort „Feuer!“ Mochten den sechs Soldaten, welche befehligt waren, dem alten Kriegshelden den Tod zu geben, die Hände gezittert, oder mochte die Mehrzahl absichtlich vorbeigeschossen haben – von den sechs ihm bestimmten Kugeln traf nur eine einzige, aber diese eine mitten in’s Herz.

Am nächsten Tag (19. Juli 1809) traf das Todesloos den Hofrath Dr. Sternberg. Vergeblich hatte dessen Gattin eine rührende Bittschrift an König Jérôme eingereicht. Obwohl sie ihrer nahen Niederkunft entgegensah, machte sie sich doch auf den Weg von Marburg nach Kassel, um durch einen Fußfall vor dem König Gnade für ihren Gatten zu erlangen. Allein sie war nicht im Stande, die Beschwerden der Reise auszuhalten; sie sah sich genöthigt, unterwegs wieder umzukehren und langsam nach Marburg zurückzufahren. Sie würde auch zu spät in Kassel eingetroffen sein. Denn an demselben Morgen wurde ihr Mann auf dem „Forst“ erschossen. Schlecht getroffen, sank Sternberg stöhnend nieder, und man hörte ihn noch leise wimmern: „Ach, meine arme Frau! Meine armen Kinder!“ Dann machte die Kugel eines Soldaten, welcher ihm den Gewehrlauf an die Schläfe setzte, seinem Todeskampf ein Ende.

Gleich nach Sternberg wurden noch zwei ehemalige hessische Soldaten, Mentel Günter aus Sterzhausen und Daniel Muth aus Ockershausen, an derselben Stelle erschossen.

Der letzte Blutzeuge dieser verunglückten Versuche, das Joch der Fremdherrschaft abzuwerfen, war der Wachtmeister im ersten westfälischen Kürassierregiment Christoph Hohnemann, der Sohn eines Magdeburger Kaufmanns. Am 11. August 1809 erlitt auch er auf dem „Forst“ den Tod durch Pulver und Blei.

Um den trüben Eindruck dieser Ereignisse, welche über so viele Familien des Königreichs Westfalen Jammer und Elend gebracht hatten, einigermaßen zu verwischen, wurden durch Vermittelung der Kaiserin-Mutter, Madame Lätitia, welche 1810 zum Besuch an dem Hof ihres jüngsten Sohnes erschien, viele der Gefangenen vom König begnadigt und aus der Haft entlassen.

Die letzten Soldaten, welche ich habe erschießen sehen, waren der Lieutenant Kupfermann aus Magdeburg und sein Wachtmeister von einem der westfälischen Husarenregimenter, welche unter General Hammerstein in der Nacht des 22. August 1813 in Sachsen zu den Oesterreichern übergegangen waren. Eine halbe Schwadron war jedoch an diesem Uebertritt verhindert und gefangen genommen worden. Sie wurde nach Kassel geführt, wo der Lieutenant und sein Wachtmeister, sowie jeder zehnte Mann vom Kriegsgericht zum Tode verurtheilt wurden. Doch wurde das Urtheil nur an den beiden ersteren vollzogen.

In gleicher Weise sind auf dem „Forst“ zu Kassel noch mehrere brave Soldaten, welche die Schmach ihres Vaterlandes schmerzlich empfanden und nicht länger in fremdem Dienst gegen ihre deutschen Brüder kämpfen wollten, erschossen und unter der Rasendecke verscharrt worden.

Lange Zeit hat nur eine einsame Eiche, von einigen Patrioten nach dem Sturz der Fremdherrschaft gepflanzt, die Stelle auf dem „Forst“ bezeichnet, wo diese deutschen Männer die Liebe zum Vaterlande mit ihrem Blute besiegelten. Erst bei der Feier des fünfzigsten Jahrestages der Schlacht bei Leipzig besann man sich auf die längst verfallene Schuld, den Blutzeugen der westfälischen Zeit ein steinernes Denkmal mit Aufzeichnung ihrer Namen zu errichten. Und so bewegte sich denn am 18. October 1863 unter dem Geläute aller Glocken ein großartiger Festzug durch die reichgeschmückten Straßen der Stadt Kassel hinaus auf den „Forst“ und bildete mit dem dort bereits aufgestellten Militär ein großes Viereck um jene Eiche. Nach den üblichen Reden und Gesängen wurde unter dem Donner der Kanonen der Grundstein zu einem solchen Denkmal gelegt, wobei noch der letzte Kurfürst die üblichen drei Hammerschläge verrichtete.

Später ist man jedoch zu der Ueberzeugung gekommen, daß der Platz neben der Eiche auf der großen Ebene des „Forstes“ für ein künstlerisches Denkmal ungeeignet und außerdem von der Stadt zu weit entfernt sei, um dem Publicum, besonders durchreisenden Fremden bequem zugänglich zu sein. Man hat sich daher begnügt, neben jener Eiche einen einfachen Denkstein aufzurichten mit der Inschrift: „Zum Andenken der als Opfer der französischen Fremdherrschaft gefallenen hessischen Patrioten.“

Das eigentliche Denkmal aber ist an einem sehr glücklich gewählten Platz in dem herrlichen Park an der Fulda, der sogenannten Au, unterhalb Bellevue aufgestellt worden, und zwar nahe bei der Stelle, wo der oben erwähnte Unterofficier Schumann (am 16. Februar 1807) erschossen worden ist. Dieses Denkmal steht auf einem künstlichen Rasenhügel, zu welchem auf der vordern und hintern Seite breite steinerne Treppen führen. Auf einem länglichen Postament von Tuffstein, welches die gleiche Inschrift trägt wie der Denkstein auf dem Forst, liegt ein gewaltiger schlummernder Löwe von weißem Marmor, ein Meisterwerk des Herrn Professor Kaubert in Frankfurt am Main. Seltsamerweise ist das Denkmal im Frühling 1874 ohne jegliche Feierlichkeit, ohne Sang und Klang enthüllt worden, und auch in den öffentlichen Blättern hat es kaum Erwähnung gefunden.

Gleichsam ein Vorbote des nahen Zusammenbruches war für das Königthum Jérôme’s der große Schloßbrand am 24. November 1811, welcher den größten Theil des alten, hoch über der Fulda gelegenen Residenzschlosses zu Kassel vernichtete. Jérôme bezog darauf das in der Oberneustadt gelegene Bellevueschloß. Die Ausführung seines Planes, das abgebrannte Residenzschloß wieder aufzubauen, wurde zunächst durch den russischen Feldzug von 1812, welcher so viele Menschen und so viel Geld erforderte, verzögert und dann durch den Ausgang desselben und die Ereignisse des Jahres 1813 vereitelt. Erst nach der Rückkehr des Kurfürsten Wilhelm des Ersten wurde Hand an’s Werk gelegt und unter der Leitung des Oberbaudirectors Jussow, welcher auch das in Folge der Gefangenschaft Napoleon’s des Dritten wieder vielgenannte Schloß zu Wilhelmshöhe und die dortige Löwenburg gebaut hatte, der Neubau eines großartigen Schlosses begonnen, welches den Namen „Kattenburg“ führen sollte. Als kaum die Mauern des Erdgeschosses standen, starb der baulustige Kurfürst Wilhelm der Erste (1821), und sein Sohn und Nachfolger Wilhelm der Zweite setzte den Bau nicht fort. So hat die Kattenburg fünfzig Jahre lang als Ruine dagestanden, bis in den letzten Jahren die preußische Regierung die Mauern abbrechen und die prächtigen Quadersteine zum Bau der neuen an der Bellevuestraße gelegenen Bildergallerie verwenden ließ.

Mit jenem Schloßbrand waren die lustigsten Tage des Königs Jérôme vorüber. Bald sollte die ganze westfälische Herrlichkeit ein Ende mit Schrecken nehmen.

Noch ist mir in lebhafter Erinnerung, wie am 28. September 1813 die Kosaken unter Tschernitscheff auf ihrem kühnen Streifzug vor den Mauern Kassels erschienen. Alles lief auf den Schloßplatz, wo die ganze Garnison aufmarschirt war. König Jérôme kam zu Pferde von Bellevue herunter, wurde von den Truppen mit dem Rufe „Vive le roi!“ empfangen und ließ dieselben vor ihrem Ausmarsch gegen den Feind defiliren. Man hörte aus der Ferne, wie sich das Gefecht vor der Stadt, in der Gegend des Siechenhofes, entspann. Die westfälischen Truppen wurden zurückgedrängt, konnten aber nur mit Mühe wieder in die Stadt gelangen, weil das Leipziger Thor und die Fuldabrücke unterdessen verrammelt worden waren. Die Russen nahmen das Thor mit Sturm, drangen in die Unterneustadt ein, befreiten die Staatsgefangenen im Castell und versuchten, jedoch vergebens, auch die Fuldabrücke zu stürmen. Sie zogen dann südwärts in der Richtung des Städtchens Melsungen, erschienen aber nach zwei Tagen abermals vor Kassel. König Jérôme, welchem der Muth vollständig abhanden gekommen war, hatte sich unterdeß mit seiner Garde in der Richtung nach Marburg zurückgezogen, nachdem er den General Alix zu seinem Stellvertreter in Kassel ernannt hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_623.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)