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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

freundlich empfing und im Laufe des Gesprächs scherzhaft fragte: wie er nun seine Zeit hinzubringen gedenke, worauf der Angeredete ernsthaft entgegnete: „Im Wasserclub, Majestät!“ Durch diese Antwort erhielt der König Kenntniß von einer geschlossenen Gesellschaft, die bereits viele Jahre in Berlin bestanden und mehrere hundert Mitglieder, unter diesen Generale und hochstehende Beamte, zählte, die sich wöchentlich mehrere Male an bestimmten Abenden ihrem Locale an der Potsdamer Chaussee versammelten, um ihr L’hombre zu machen und sich an Wasser zu erquicken. Ob zu diesem ein Spritbeguß niemals vorgekommen, will Fama nicht verkünden. Der Club existirt nicht mehr, und auch Gern, der humorvolle Komiker, hat am 25. Februar 1869 seine irdische Laufbahn beschlossen. Noch ist sein Name und Verdienst nicht ganz vergessen. Wir sind vielmehr gewiß, daß viele Kenner des alten Berlin und seiner mancherlei Vorzüge sich freuen werden, diese Zeilen als eine Blüthe der Erinnerung auf das Grab des würdigen und ehrenhaften Mannes gelegt zu sehen, der es so ungemein ernst genommen hatte mit seiner heiteren und belustigenden Kunst.

F. Brunold.




Die zehnte Muse.
Ein Wort über die „fahrenden Leute“ des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Anthony.


In einem Zeitalter, welches an Entdeckungen und Erfindungen, an Umgestaltungen und Neuerungen so reich ist, wie das unserige, darf es kaum überraschen, wenn auch im Reiche der Musen Erscheinungen auftreten, welche in den älteren Mythologien völlig unbekannt waren. Bis auf die Neuzeit glaubte man an neun Musen vollauf genug zu haben, und selbst das „Volk der Dichter und der Denker“ begnügte sich mit dieser Zahl, bis es plötzlich mitten im Kreis der freundlichen Schwestern einen Eindringling gewahrte, der zu uns gekommen war wie das „Mädchen aus der Fremde“ und ohne Nachweis seiner legitimen Zugehörigkeit zu dem Reiche der Helikoniden sich mit dreister Ungenirtheit die Gerechtsame der einen oder andern darunter aneignete. Diese „zehnte Muse“, deren cynisches Lachen mit greller Dissonanz in die liebliche Harmonie des schwesterlichen Chores einbricht und deren frivole Haltung zu der holden Keuschheit der anderen „erfindenden Göttinnen“ gar übel contrastirt, diese zehnte Muse könnte man nach jener Atmosphäre von Tabaksduft, welche von ihr unzertrennlich ist, schlechtweg: Nicotina nennen.

Schon in dem Anfang dieses Jahrzehnts begann der mit seuchenartiger Geschwindigkeit sich ausbreitete Cultus der zehnten Muse, deren Tempel der Volkswitz mit dem seltsamen Namen „Tingeltangel“ taufte, ein Cultus, dessen Muster ohne Frage in den „cafés-concerts“ der Franzosen zu suchen ist. Die Ueppigkeit des „Fünf-Milliardenjahres“ förderte in unheilvoller Weise die Einführung jener neuen „Musentempel“ in Deutschland. Heute sind sie – schlimm genug! – für manches – nicht blos großstädtische – Publicum fast zum Bedürfniß und der auf sittlicher Basis stehenden Bühne zur bedrohlichsten Concurrenz geworden, letzteres, indem sie an Stelle der lauteren Heiterkeit und ernsten Anregung, wie das Theater sie bietet, jenen Sinnenkitzel setzt, dem der große Haufe leider nur allzu zugänglich ist. Die Vertreter der Bühne haben die drohende Gefahr längst erkannt und Maßregeln zu deren Abwehr bereits getroffen. Aber diese Angelegenheit ist keine bloße Theaterfrage, und mit jenen Gegenmaßregeln der Bühnenvorstände ist’s nicht abgethan. Alle Schichten der Bevölkerung haben ein Interesse daran, haben die sittliche und nationale Pflicht, dazu mitzuwirken, daß die Pseudomuse Nicotina in Zucht genommen, daß sie wenigstens der Möglichkeit beraubt wird, durch Eingreifen in die Rechte der legitimen Künste im Dienst der Frivolität und Liederlichkeit sich ihr Publicum zu sammeln und das Blut unseres Volkes zu vergiften.

Um dies näher zu begründen, wird es nöthig sein, die Künste des Tingeltangel nach den einzelnen Ressorts aufzuzählen. Beginnen wir mit den durch weibliches Personal vertretenen, so präsentirt sich uns zunächst das Fach der „Schleppsängerinnen“, welche auch meisthin den vocalen Theil des Programms eröffnen und die undankbare Aufgabe haben, das überaus ungenirte Publicum durch den Vortrag irgend einer allbekannten Spree-Arie in delicatester Weise darauf aufmerksam zu machen, daß man in diesem großen und luxuriös ausgestatteten Saale nicht ausschließlich des Bieres wegen versammelt sei. Der curiose Name „Schleppsängerin“ ist von der Kleidung dieser Damen, der Schlepprobe, entnommen; sie erscheinen stets in dem traditionellen Concertcostüm und versuchen die meist schon herbstliche Reife ihrer Schönheit in diesem auch in den besten Kreisen sanctionirten Costüm bestmöglichst zur Schau zu stellen. Nicht selten finden wir unter ihnen Sängerinnen von der Bühne, welche wegen zu kurzen Athems oder Gedächtnisses der Theatercarrière Valet sagen mußten. Ihre Vorträge beleidigen nie das Sittlichkeitsgefühl, oft freilich das musikalisch gebildete Ohr ihrer Hörer. Aehnlich bewegt sich in den Grenzen eines anständigen, wenn auch nicht gerade genußreichen Concerts die „Salonjodlerin“, die echte oder „imitirte“ Tiroler Sängerin, die im Costüme ihrer Heimath erscheint und deren neue Lieder mit dem bekannten Jodlerrefrain zum Besten giebt. Die Dritte im Bunde ist die „Soubrette“. Sie singt nicht nur Possencouplets vom ältesten Datum, sondern bisweilen auch allerlei „pikante Nouveautés“. Man bezeichnet dieses Fach auch mit dem Namen der „deutschen Chansonette“, und hiermit eröffnet sich dann die lange Reihe der kurzröckigen, oft im zwanglosesten Debardeurcostüm erscheinenden Liedersängerinnen aus allen Nationalitäten, welche dermalen die deutschen Tingeltangel mit ihrem meisthin geradezu abscheulichen Gequieke (die Engländerinnen sind darin die ärgsten) erfüllen. Der Text ihrer Couplets ist oft recht schlimm – ein Glück, daß die Mehrzahl ihn nicht versteht! Was aber Alle in dem tabaksqualmigen Salon verstehen, sind die unzweideutigen Gesten und die frivole Mimik dieser Hauptpriesterinnen der zehnten Muse, welche in Schamlosigkeit des Costüms wie des Gesanges oft Alles überbieten, was jede ernste Kritik der Schule Offenbach’s zum gerechten Vorwurf gemacht hat. Ueber den philologischen Nonsens der Fachbezeichnung „Chansonette“ (d. h. Lied und nicht Liedersängerin) mögen sich die Herren Etymologen nebenher noch die Haare ausraufen.

Unter dem männlichen Personal des Tingeltangel sei zuerst der Liedersänger erwähnt, meist ein haarbuschiger Geselle mit mächtiger Brüllstimme, der zu arrogant war, um das ehrliche Brod eines Choristen zu essen, und auch zu faul, um der weit anstrengenderen Berufspflicht im Theater gerecht zu werden. Außerdem bezieht er ja im Tingeltangel dreimal so viel „Gage“. Dasselbe Lockmittel hat auch manchen seiner Collegen aus dem Fach der „Komiker“ der Bühne untreu gemacht, allein die Coulissenwelt wird sich über diesen Abfall wahrlich gern und leicht trösten. Wer Unterschlupf im Tingeltangel sucht, gehörte selten zu den respektableren Elementen der Bühne, sondern lief aus Faulheit der zehnten Muse in die allzeit offenen Arme. Ganz wie die Chansonette in ihren Extravaganzen entsittlichend wirkt, so auch meisthin der burleske Komiker, dessen Couplets oft die Grenzen des Erlaubten ebenso überschreiten, wie seine Pantomimen.

Im Fache der Komiker giebt es übrigens der Unterabtheilungen gar viele. Da ist zunächst die niedrigste Gattung: der „Kellerkomiker“, eine Sorte von Acteurs, die in den kleinsten unterirdischen Tingeltangellocalen ihr Dasein fristet und sich selten zu den größeren Etablissements „über der Erde“ versteigt. Weit nobler ist der „Tanzkomiker“, der manchen ausrangirten Ballettänzer in seinem Corps aufweisen dürfte; sodann der „Negerkomiker“ (meisthin Engländer oder Amerikaner), welcher uns oft in recht charakteristischer, wenn auch etwas parodistisch-übertreibender Weise kleine komische Genrebilder aus dem südstaatlichen Negerleben vorführt. Das Genre ist überaus zahlreich und hat etliche Vertreter, die in ihrer drastischen Komik geradezu Vortreffliches leisten, ohne irgendwie zu verletzen. Auch der „musikalische Clown“, der oft eine ganz respectable Virtuosität auf den verschiedenartigsten Instrumenten, Kamm und Stiefelknecht mit eingerechnet, an den Tag legt, nimmt einen anständigen Platz ein. Das Gleiche gilt von dem „Salonkomiker“, der uns bisweilen Levassoriaden[1] in

  1. Levassor war ein berühmter französischer Komiker (geb. 1808), der besonders in den Pariser Variété-Theatern spielte, sich aber auch auf Kunstreisen im Auslande, namentlich in Deutschland, bekannt gemacht hat. Die drastischste Komik entwickelte er in seinen Bauern, Soldaten und Engländern.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_684.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)