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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Vor zwanzig Jahren hatte diese grauenvolle Zeit ihren Anfang genommen. Die gute Jahreszeit war damals noch nicht so weit vorgeschritten wie heute, als er für zwanzig Jahre – die Menschen sagten für immer – Abschied genommen vom Leben, von der freien schönen Gottesnatur.

Weit, weit, in goldene Tage der Kindheit, der Unschuld, trugen ihn damals seine Gedanken zurück. Er sah sich sitzen auf der braunen Scholle, die der Pflug des Vaters auf ostpreußischer Erde aufgehoben. Die munteren Spiele der Dorfjugend, die seine Knabenjahre erheitert, spielte er noch einmal in der Erinnerung, während der Eisenbahnzug ihn Meile um Meile dem engen Hause seiner Bestimmung näher trug, während die Fesseln ihm an Händen und Füßen rasselten. Aus dem dunklen Schatten der Wolken, welche Schritt hielten mit dem eilenden Zuge, aus der Ecke des Wagens: wohin sein stierer Blick sich heftete, blickte dann überall das ernste, traurige, vorwurfsvolle Auge des treuen Vaters ihn an und rief ihm die schweren Verirrungen, die Verbrechen seiner Jugend vor die Seele.

„King,“ hatte da der Transporteur plötzlich gesprochen. „Sie weinen. Das erste Mal, daß Jemand bei Ihnen eine Thräne gesehen! Gestehen Sie! Entlasten Sie Ihr Herz!“

„Was soll ich gestehen? Ich bin unschuldig. Haß, Rache und Meineid haben mich so weit gebracht. Es wird ein furchtbares Gericht geben, wenn unser Herrgott –“

„Schweigen Sie, King! Sie kennen unsern Herrgott nur mehr vom Hörensagen!“ hatte der Transporteur erwidert.

King hatte geschwiegen. Aber ein häßliches boshaftes Lächeln hatte seinen Mund umspielt.

Er hatte nicht mehr gelächelt, als der Finger des Transporteurs aus dem Coupéfenster nach einem fernen Schatten am Horizont gezeigt, der blau und duftig sich über dem Hügellande erhob. Ein altes Schloß mit Thürmen und Zinnen, malerisch auf einem Berge gelegen, stellte sich in noch verschwommenen Umrissen dem Blicke King’s dar. Er wußte, daß dort das Ziel dieser Reise sei, vielleicht das Ziel seiner ganzen Lebensreise. Er hätte das gewußt, auch wenn der einsilbige Transporteur nicht gesagt hätte: „Schloß Zwingburg.“ Der blaue ferne Schatten rückte immer näher; er wurde immer dunkler und größer. Und als der Zug hielt, da stand es in seinem finstern massigen Grau gerade über King. Von dieser Höhe gab es sicher kein Entrinnen! Auch die Schildwachen, mit ihrem über die Brust gekreuzten weißen Riemenzeug, konnte man nun von unten schon deutlich erkennen.

Viel ernster noch war King’s Aussehen, als die Schloßpforte zu seinem Willkommen in den Angeln kreischte und krachend hinter ihm zufiel. Scheu blickte sein Auge in dem öden Hofe mit den vergitterten Fenstern umher, in welchem düstere Gestalten in grauen Hosen und Jacken lautlos wie die Seelen Abgeschiedener vorbeihuschten. Und dann blickte er sehnsüchtig zurück in das Sonnenlicht der Freiheit, von dem er scheiden sollte.

„Vorwärts, zieh’ Dich aus!“ schallte der Befehl eines Anstaltsbeamten an sein Ohr. Und in wenigen Minuten sah er sich wieder, wie in seinen Jünglingsjahren, in der Züchtlingskleidung; im Nu war sein Gesicht glatt rasirt, sein Haar bis wenige Linien über den Wurzeln verschnitten. Dann hatte er sich dem höchsten Machthaber für den Rest seines Lebens, dem Zuchthausdirector, gegenüber gesehen und erfahren, welche Strafen ihn erwarteten, falls er der eisernen Ordnung des Hauses in irgend einem Punkte sich widersetzen sollte.

Jetzt, in seiner wiedergewonnenen Freiheit, lächelte King höhnisch und wild, als er daran zurückdachte, daß niemals in zwanzig Jahren irgend eines der Zuchtmittel der Strafanstalt gegen ihn zur Anwendung gebracht worden war. Er hatte sich vom ersten bis zum letzten Tage seiner Haft immer gleich „musterhaft geführt“ und gehörte bald der ersten Disciplinarclasse an. Er war der eifrigste und begabteste Schüler der Sonntagsschule und zählte, nach Ansicht des Predigers – eines großen Eiferers vor dem Herrn und eines vermeintlich noch größeren Herzenskundigen und Menschenkenners – zu denjenigen Züchtlingen, welchen der Herr die Gnade der Buße und Zerknirschung im reichsten Maße zugewendet habe. So oft auch ein Beamter das Auge an das Schaufenster der Zelle King’s legte, immer war der Verbrecher gleich eifrig an der Arbeit. Er lieferte weit mehr als sein Pensum.

Aber wenn die Nacht auf dem finsteren Schlosse lag und kein Auge im Dunkeln die Züge King’s zu betrachten vermochte, dann verzerrte wieder das wilde, häßliche Hohnlächeln sein Gesicht, und mehr als einmal gaben die dicken Wände seiner Zelle schaurig den Laut seines wüsten Lachens zurück. Den ganzen Tag, Jahr für Jahr, ging er nur auf das eine Ziel los: die Herzen der Menschen sich zu gewinnen, von deren Gunst zunächst die Möglichkeit abhing, daß ihm einst die Freiheit wiedergegeben würde. Aber die Nacht gehörte ihm allein – seinem wahren Gesicht und seinen wirklichen Gedanken. Ihnen widmete er von der kurzen Schlafzeit täglich mindestens eine halbe Stunde, manchmal viel längere Zeit.

Dann träumte er mit wachem Auge, wie dereinst das rostige Schloßthor in seinen Angeln abermals knarren werde, aber nur, um ihn wieder hinaus zu lassen in die wonnige Freiheit, und wie er ohne Geleit dem Bahnhofe zufliegen werde, um auf Dampfesflügeln davon zu eilen. Wohin? Nach der Heimath, zu den Füßen der armen, alten Eltern? Ein Hohnlachen antwortete der Frage, so oft sein Gewissen sie aufwarf.

„Der Alte hat mich so gut wie verflucht. Ja mehr als das: er hat mich verkauft und verrathen – mag er, ohne mich wieder zu sehen, zur Grube fahren!“

Oder weit, weit fort, gleichviel wohin, nur unter wildfremde Menschen, die nie von seinen Verbrechen von seiner Zuchthaus-Vergangenheit erfahren hatten? Abermals widerhallten die Zellenwände von dem kurzen heiseren Lachen.

„Die löbliche Polizei wird schon dafür sorgen, daß ich überall mit Schimpf und Schande fortgejagt werde, wo ich mir Arbeit erbetteln möchte. Der schlaue Kern hat Recht; er kennt die Menschen, wenn er sagt: ‚Hat Jemand zehn oder fünfzehn Jahre im Zuchthause gesessen und ist dort sehr gut gerathen, so maust er blos, wenn er wieder herauskommt. – Der stille, unverbesserliche Bösewicht aber, der raubt, brennt, schändet und mordet!’ Wir wissen, zu welcher Sorte wir gehören, Josua King! Und wir haben unsere Gründe dafür, haha! Margret Winkelmann – oder wie die Hexe jetzt heißen mag – kennt sie diese Gründe? Denkt sie wohl noch meiner Abschiedsworte? Nein, natürlich nicht. Josua King ist todt für sie, für die ganze Welt. Wenn er aber wieder lebendig wird, Margret Winkelmann, dann freue Dich! Kein Tag soll vergehen, ehe er zu Dir eilt – sein Anblick soll Dir der letzte sein, ehe Dich sein Stahl in’s Jenseits schickt!“

Diese Gedanken waren King die Zukost zum täglichen Brod, die allen Hunger und alle Entbehrungen erträglich machte. Und immer bestimmter, immer zuversichtlicher regte sich in ihm die Hoffnung, daß er den Tag noch erleben müsse, an dem er alle diese Gedanken verwirklichen werde. Der Herr Pastor und der Herr Zuchthausdirector hatten ihm ja deutlich zu verstehen gegeben, daß sie ihrerseits Alles aufbieten würden, um einst seine Begnadigung zu erwirken.

Er hatte in den letzten Jahren seiner Gefangenschaft eine Art von Aufseherposten über seine Mitgefangenen erhalten und in dieser Stellung von einem derselben, der aus der Gegend des Bergstädtchens stammte, erfahren, daß Margret noch lebe, daß sie verheirathet und im Städtchen Gastwirthin sei. Sie lebte, sie war zu finden! –

Das hatte King vor etwa zwei Jahren gehört. Er hatte bis dahin in zäher Geduld dem unbestimmt fernen Tage der Freiheit entgegengeharrt. Zu dieser Zeit aber war ein Ereigniß eingetreten, welches ihn mit steigender Ungeduld und mit fieberhafter Erregung erfüllte: Ein trockener Husten hatte sich bei ihm eingestellt. Wenn er klagte, hatte der Anstaltsarzt die Achsel gezuckt. „Das ist hier so. Sei froh, daß Du im Unterleibe fest geblieben bist! Da geht es rascher zu Ende.“ Aber vor etwa zwei Jahren hatte der Arzt auf einmal die Ueberführung King’s in die Krankenstation angeordnet. Seit dieser Zeit hatte er manche Woche fest gelegen. Aber die ihm zur Gewißheit gewordene Hoffnung, daß er den Tag der Freiheit erleben müsse, erfüllte ihn mit zäher Widerstandskraft gegen die weiter und weiter fortschreitende Auflösung seiner Kräfte.

Endlich, endlich war der heißersehnte Tag der Freiheit doch erschienen. King erhielt seine alte Kleidung ausgehändigt, in der er vor zwanzig Jahren eingeliefert worden. Wie schlotterte ihm Alles um den mageren Leib, um die eingefallene Brust! Er erhielt seinen Arbeitsverdienst ausgezahlt – eine nicht unbeträchtliche Summe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_692.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)