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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Der Seewind milderte die Mittagswärme; Antonio ward durch die Sonne, obgleich sie fast senkrecht über ihm stand, nicht belästigt. Eine einzige Fischerbarke, den Farbenzeichen ihrer Segel nach einem Bewohner der Insel Chioggia gehörig, schwebte geräuschlos nahe am Lidostrande hin, als suchte sie eine Stelle zur Anfahrt. Plötzlich trottete ein junger Soldat kaum zwanzig Schritte vor dem Officier vorüber, ohne ihn zu gewahren. Die Büchse an langem Riemen über den Rücken geworfen, die Hände darunter verschlungen, stieg er bis dicht an’s Ufer hinab und marschirte der Barke entgegen. Es war der Strandwächter, der seine Aufgabe erfüllte. Spitzbübische Schiffer suchen hier gar zu gern heimlich zu landen, verbotene Waaren auszuladen und dieselben dann in kleinen Partieen auf Gondeln, die auf der Wasserdogana im venetianischen Hafen nicht visitirt werden, in die Stadt einzuschmuggeln.

Die Barke schwamm näher und näher, Antonio’s Adlerauge konnte die Gestalten auf ihr unterscheiden. Zwei schmutzige Männer, aus kurzen Pfeifen rauchend, saßen, scheinbar unbekümmert um den Strandwächter, auf dem Deck. Jetzt blieb der Soldat stehen, drohte stumm mit dem Zeigefinger und nahm sein Gewehr in den Arm. Da tauchte aus der Kajüte ein brauner Mädchenkopf empor. Noch ein paar Secunden stand der Hüter des Gesetzes still, dann sah er sich um, hängte die Büchse wieder über die Schulter, machte Kehrt, warf keinen Blick mehr rückwärts nach den Fischern, sondern schritt der Düne zu. Ungestört ging hinter ihm die Barke an’s Land.

Antonio hatte den Vorgang gespannt verfolgt; er begriff den Zusammenhang nicht. Als der Soldat ihm nahe genug war, stand der Officier mit einem Sprung aufrecht, wie aus der Erde gewachsen. Bei dem unverhofften Anblick des Vorgesetzten erblaßte der junge Mensch.

„Bursche, was hast Du gethan?“ donnerte ihn Fabbris an. „Siehst Du nicht, was dort geschieht?“

Der Schuldbewußte sank in’s Knie und faltete die Hände:

„Gnade, Hern Gnade!“

„Gnade?“ rief Antonio. „Weißt Du, daß Du die Kugel verdienst?“

„Herr, ich weiß es,“ wimmerte Jener, „aber wenn mich die schwerste Strafe trifft –“

„Sie wird Dich treffen,“ unterbrach der Lieutenant, „ich habe Alles gesehen; Du hast nicht aus Unachtsamkeit, sondern mit vollem Wissen und Willen gegen den Dienst gefehlt.“

„Ja, Herr, ich bin schuldig, aber wenn die Ninetta mit ihren Feueraugen mich anschaut, könnte der Tod neben mir stehen, ich vergäße ihn und Alles.“

„Die Dirne in der Barke?“

„Sie hat mir’s angethan, Herr!“

Das offene Bekenntniß entwaffnete Antonio’s Empörung. Durfte er als strenger Richter auftreten, wo ein armer Junge aus Liebe an seiner Pflicht gesündigt? Wenn er sich in die Lage des Frevlers versetzte – hätte er nicht vielleicht dasselbe Unrecht begangen? Was wäre er nicht im Stande zu wagen, wenn die blonde Gräfin ihn einmal anschaute wie die braune Dirne den Schächer, der vor ihm lag? Gemäßigt versetzte er:

„Die Halunken haben uns beobachtet; sie laden nicht aus, sie steuern seewärts; das kommt Dir zu statten. Ich will Dich nicht unglücklich machen – steh auf, fort!“

Der Soldat sprang auf die Füße und wollte davonrennen.

„Halt!“ gebot Fabbris.

Der Delinquent stand angewurzelt.

„Wenn Du mir wieder begegnest, kennst Du mich nicht. Verstanden?“

Der Begnadigte kreuzte wie ein betender Türke die Arme über der Brust. Auf einen kurzen Wink des Officiers schoß er hinweg, so rasch er laufen konnte.

Antonio ging langsam den Bädern zu. Er empfand an sich selbst, wie die Leidenschaft für ein Weib des Mannes Sinn und Seele zu berücken vermag, und ein altes Lied hebräischen Ursprunges fiel ihm ein, das er leise vor sich hin murmelte:

„Stark wie der Tod ist Liebe,
Fest wie die Unterwelt ihr Wille,
Eine Flamme Gottes;
Keine Gewalt der Erde
Lindert ihre Gluth.
Nie erlischt die Liebe
In gewaltiger Wogen
Brausender Wasserfälle,
Noch durch wilder Stürme
Aufgeregte Wuth – “

Hier verließ ihn sein Gedächtniß, er fand die Schlußzeilen nicht und grübelte ihnen noch nach, als er schon auf der Terrasse inmitten der Bäder stand. Je angestrengter wir etwas in unserer Erinnerung suchen, desto geringer ist meist der Erfolg. Antonio gab endlich alles Kopfzerbrechen auf; war doch inzwischen die Zeit nahe gerückt, wo die Gräfin kommen mußte.

Und siehe da: als wäre sein Gedanke eine Wünschelruthe, rauschte plötzlich ein Kleid durch den offenen Saal hinter seinem Platz; Ludovica mit ihrer alten Dienerin stand neben ihm. Die heftige innere Bewegung, die ihn ergriff, legte einen Flimmer vor seine Augen, daß er ihre Züge wiederum nicht deutlich erkannte; nur in unbestimmten Umrissen schwankten Antlitz und Gestalt hin und her. Um so klarer war der Blick der Gräfin: die Schönheit des jungen Mannes in der schmucken Uniform überraschte sie, und als er sich unwillkürlich verneigte, lächelte sie ihn holdselig an:

„Können Sie mir sagen, mein Herr, wo ich in das Damenbad gelange?“

Statt sich von seiner Verwirrung zu erholen, verlor er die Fassung noch mehr, sodaß ihm die Antwort fehlte. Zum Glück kam ihm eine Hülfe, die er nicht vermuthet, ja die ihn in höchstes Befremden versetzte.

„Folgen Sie mir, ich bitte, Signora! Ich werde Sie führen,“ rief aus dem Hintergrunde des Saales eine Mädchenstimme.

„Ah, gut!“ sagte die Gräfin und nickte so freundlich, als hätte Antonio Auskunft ertheilt: „Ich empfehle mich, Signor!“

Damit entschwebte sie.

Fabbris strich sich über die Augen: „War das nicht Angela?“ Auf dem verdeckten Gange in die Badezellen konnte sein Blick von der Terrasse aus Niemand verfolgen, doch war er auch ohne das überzeugt, sich nicht geirrt zu haben. „Ja, ja, Angela. Aber wie kommt sie hierher?“

Daß ihre Anwesenheit in einer Verbindung mit ihrer Einflüsterung vom vorigen Abend stand, errieth Antonio, allein in welcher Verbindung, das blieb ihm dunkel, obwohl der nebelhafte Schleier vor seinem Gesichte zerfloß und seine körperliche Sehkraft die gewohnte Schärfe wiedergewann.

Währenddessen hatte Angela die Gräfin an eine Zelle geführt, und Ludovica fragte nach der Badewärterin, die, wie sie gehört, in ihrer Hantierung so gewandt sein solle, daß sie es vorziehe, sich von der Frau, statt von ihrer eigenen alten Dienerin, für’s Wasser costümiren zu lassen. Angela holte ihre Tante. Als sie mit ihr erschien, hatte Ludovica den Hut bereits abgelegt. Die Wärterin brach in laute Verwunderung über das üppige Haar aus; reicheren Naturschmuck habe sie in ihrem Leben nicht gesehen, obschon sie vornehmen Damen aus allen Weltenden die Badekappe aufgesetzt.

„Ich verlasse mich auf Sie, gute Frau,“ entgegnete die Polin, „daß Sie mein Haar vor jeder Befeuchtung schützen. Vorsichtshalber will ich zunächst ein leichtes Tülltuch über den Scheitel ziehen.“ Gesagt, gethan. „Ich vertrage durchaus keine Nässe daran,“ schloß sie.

„Meine Nichte wird mir helfen,“ erwiderte die Wärterin.

Angela sprang hinzu.

„Gewiß, Tante! Wir müssen Nadeln zur Befestigung nehmen – hier sind sie!“

Die Gräfin ließ sich entkleiden und in das ärmellose wollene Gewand hüllen.

„Ach, wie wundervolle, weiße Arme!“ rühmte Angela dabei. „Was würden unsere Bildhauer darum geben, wenn sie solche Modelle hätten!“

Ludovica lächelte wohlgefällig.

Jetzt ging’s an die Bergung des Haares. Die Wärterin schaffte die größte Kappe aus ihrem Vorrathe herbei. Die schweren goldenen Locken wurden aufgerollt und eingepreßt. Als die Nadeln gesteckt werden sollten, verlangte Ludovica zwei Handspiegel, einen wollte sie selbst vor sich halten; den anderen befahl sie dem jungen Mädchen hinter ihr emporzuheben, damit sie prüfen könne, ob die Coiffüre zu ihrer Zufriedenheit ausfalle. Angela runzelte einen Moment die Brauen, fügte sich aber und brachte die Spiegel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_847.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)