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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


fähig sind. Ueberhaupt werden Erfolge vorzugsweise bei solchen Leuten erzielt, denen es leicht wird, sich recht vollkommen in Verhältnisse und Umstände zu versetzen, die von denen verschieden sind, in welchen sie sich thatsächlich befinden.

Bei Männern scheinen sich ungefähr zehn Procent zu solchen Experimenten zu qualificiren; daß bei Frauen der Procentsatz ungleich größer ist, und daß die Jugend und zumal das Entwickelungsalter bei beiden Geschlechtern sich besonders gut zu diesen Versuchen eignet, wird nach dem oben Gesagten nicht überraschen.

Jedenfalls ist in Deutschland durch das Auftreten des Magnetiseur Hansen die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf ein dunkles Gebiet des körperlichen und geistigen Lebens gelenkt worden, dessen Betrachtung uns den Schlüssel zum Verständniß mancher früher constatirten Thatsache giebt.

Brauchen wir uns jetzt noch zu wundern, daß es den Yogi, Schamanen, Fakiren des Orients gelingt , sich in einen Zustand zu versetzen, in dem sie gefühllos sind und die tollsten Mißhandlungen ihres Körpers zur größeren Ehre ihrer Götter ohne jedes Zeichen von Schmerz ertragen? Muß man an übernatürliche Einwirkung oder jedesmal an Betrug denken, wenn ein durch Askese und monotone geistliche Exercitien systematisch mißhandelter Mönch oder Klosterschüler in eine den hier beschriebenen Zuständen ähnliche Verzückung geräth und in dieser thatsächlich Dinge sieht, hört und fühlt, die dem tollsten Wunderglauben Thür und Thor öffnen? Sind unsere Vorfahren immer so sehr zu verurtheilen, weil sie Einzelne, wegen zufällig oder absichtlich an Anderen hervorgerufener Wirkungen, welche den hier beschriebenen ähnlich sind, für Hexen und Zauberer hielten?

Bis heute war es selbst den meisten Aerzten und Psychologen von Fach unbekannt, daß die Zahl der zu solchen hypnotischen Versuchen geeigneten Personen so groß ist, daß Leute wie Hansen getrost öffentliche Vorstellungen daraufhin veranstalten können.

Nicht ohne Absicht habe ich übrigens manche für das Gelingen solcher hypnotischen Versuche erhebliche, für das Verständniß derselben jedoch unwesentliche Umstände unerwähnt gelassen, weil es überaus bedenklich wäre, wenn Unberufene derartige Experimente nach dieser Beschreibung nachmachen wollten. Es ist leicht verständlich, daß eine andauernde oder wiederholte Aufhebung der Fähigkeit, die Richtung seiner geistigen Aufmerksamkeit beliebig zu lenken, schließlich zu bleibenden oder wenigstens länger anhaltenden geistigen Störungen führen kann. Vielfach bleiben die, welche solchen Versuchen unterworfen wurden, tagelang geistig befangen, leiden hinterher noch lange an Kopfschmerz, Schlafsucht und allgemeiner Mattigkeit. Es erstrecken sich bei sehr Empfindlichen die Lähmungserscheinungen gelegentlich sogar bis auf die Athmungs- und Herzbewegungen, sodaß Blutandrang nach dem Kopf und Erstickungsanfälle eintreten, bei welchen die Gefahr des schlimmsten Ausganges nicht ausgeschlossen ist.

Da die zuversichtliche Erwartung des Resultates den Eintritt desselben rasch herbeiführt und die immer übermächtiger werdende Vorstellung, ganz unter dem Einflusse des Experimentators zu stehen, jeden Widerstand immer erfolgloser erscheinen läßt, so ist es auch nicht wunderbar, daß sich die Empfindlichkeit fast mit jedem neuen Versuche merklich steigert; selbst die, welche anfänglich kräftig, zumal gegen das Eintreten falscher Vorstellungen, sich wehrten, sanken bei neuen Versuchen bald ebenfalls zu willenlosen Automaten herab. Die Empfindlichkeit kann sich schließlich sogar zu einer solchen krankhaften Höhe steigern, daß derartige Zustände ohne jede äußere Veranlassung von selbst eintreten, in Krämpfe übergehen und damit diese Leute für die Arbeiten ihres Berufes längere Zeit hindurch, wenn nicht dauernd, unbrauchbar werden.

Selbst vor häufigem Betrachten solcher Experimente möchte ich leicht Erregbare, zumal Frauen und junge Leute, ernstlich warnen. Die Disposition zum Eintreten hypnotischer Zustände, die doch gewiß eine sehr fatale Zugabe zu den übrigen Unannehmlichkeiten des Lebens ist, kann durch eine Art von Ansteckung leicht auf Solche übertragen werden, die vorher vollkommen ungeeignet erschienen. Trotz allen Sträubens können sich dieselben des Eintrittes dieser Befangenheit nicht mehr erwehren, ähnlich wie Viele das Gähnen nicht mehr unterdrücken können, nachdem ihr Gegenüber ihnen dazu das böse Beispiel gegeben, und wie Lustigkeit, üble Laune, bei Frauen selbst hysterische Zufälle, und gelegentlich sogar Geistesstörungen notorisch ansteckend gewirkt haben.

Ein Glück ist es, daß die Meisten, welche empfindlich sind, dies nicht wissen, und Diejenigen, welche diese unangenehme Entdeckung einmal an sich gemacht haben, sich leicht vor Wiederholungen schützen können, wenn sie sich nur den nöthigen Vorbereitungen nicht unterwerfen und jeder Veranstaltung dazu sich sofort widersetzen.




Küstenfahrten auf dem Eise.
Ein Winterbild von O. von Riesenthal.


Wenn am Saaler Bodden, an der vorpommerschen Küste die Herbststürme ausgetobt und mit ihrem eisigen Hauch die letzte Spur des Pflanzenlebens bis auf bessere Zeiten vertagt haben, tritt momentan eine Zeit der Ruhe ein; eine zwar kalte, aber herrliche, krystallreine Luft strömt von der See herüber; der Strandbewohner athmet auf und bessert an seiner Hütte für den kommenden Winter aus, was die Stürme beschädigt haben.

Die Seeleute, welche vor Kurzem in die heimathlichen Winterquartiere einkehrten, manchmal von langer, langer Fahrt draußen von „der Japanischen See“ her, die Fischer und was sonst dem blauen Elemente zugethan ist, sieht man alsdann mit besonderem Interesse auf das große Binnenwasser auslugen und die dort beginnende Umwandlung beobachten; denn der stille Frost beginnt seinen „krystallenen Brückenbau“, auf dessen Vollendung diese breitschulterigen Gestalten in ihren dicken, wollenen Jacken, den Südwester auf dem Kopf, gespannt und ungeduldig harren.

Die Zwischenzeit, in welcher das Fahrwasser nicht mehr frei, die Eisdecke aber unbrauchbar ist, bringt den Strandbewohnern eine unerwünschte Ruhe; die Fischer können ihrem Gewerbe nicht nachgehen; die Heuer liegen still; die Post muß die Fahrt ihrer Yacht einstellen und die Poststücke auf dem langen Landwege befördern, so gut es eben gehen mag; der Schmuggler verdient Nichts, und der Herr Pastor kann nicht hinüber zur Predigt in seiner Filialgemeinde – das Alles ist verdrießlich.

Aber der Frost hält Stand und baut fleißig weiter; die Schwäne habe sich schon auf der Mitte der Binnensee mehr und mehr zusammengedrängt, und endlich hört man ihr Rufen gar nicht mehr, denn sie haben sich über Nacht auf und davon gemacht. „Die See steht.“

Man hat diesen Zeitpunkt nicht unvorbereitet erwartet, im Gegentheil allenthalben die verschiedenen Geräthschaften und Transportmittel zur Eisfahrt zurecht gehämmert und geklopft, in die Schlittschuhe frische Hanfschnuren gezogen, die Peekstange mit einer scharfen Spitze, den betreffenden Schlitten mit neuem Sitzbrette versehen; dem Stuhlschlitten des Lehrers hat der Tischler eine neue Lehne besorgt, und dem des jungen Steuermannes durch erneuten Anstrich ein so verlockendes Aeußere verliehen, daß Fieken Voß, die hübsche Capitainstochter, sich gewiß nicht lange zieren wird, von dem kräftigen, schmucken Manne sich zur Kirche schieben zu lassen; er will sich ja doch schon im nächsten Jahre ein eigenes Schiff bauen; die Eltern sehen ihn nicht ungern – wer weiß?!

Die Dorfstraße schlendert ein Seemann gemächlich daher, die Hände in den weiten Hosentaschen.

„Klas!“ ruft ihm ein altes verwettertes Gesicht aus dem halb geöffneten Fenster zu, „wo steit et? Ik hew kenn Solt!“

Der Seemann schiebt den Prieem auf die andere Seite seines breiten Mundes, spritzt den braunen Saft mit kräftigem Strahle von sich – und zuckt einfach die Achseln. „Es ist noch Nichts los.“

Der Mann ist nämlich eine Person von Gewicht, ein Bootsmann im Dienste der Regierung und hat zu bestimmen, wann das Eis befahren werden darf. Will ein Wagehals sich nicht so lange gedulden, so steht es ihm natürlich frei, eine Fahrt auf eigene Rechnung und Gefahr vorher zu unternehmen und dabei gelegentlich einzubrechen und zu ertrinken –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_144.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)