Seite:Die Gartenlaube (1880) 218.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Was ist das?“ fragte Witold mit einem Tone, der keineswegs willfährig klang.

„Die Maria Stuart. Du hast uns versprochen, sie nächstens vorzulesen. Nun, heute ist nächstens.“

„Und Du hast das Buch selbst geholt?“ fragte er betreten.

Lora deutete sein Stirnrunzeln auf ein neues über ihrem Haupte sich sammelndes Unwetter. Flehend faltete sie die Hände.

„Erbarmen, allmächtiger Dalai Lama!“ bat sie mit komischer Zerknirschung, der sich doch auch ein wenig wirkliche Befürchtung beimischte. „Ich habe zwar Dein Gebot übertreten und bin in der Bibliothek gewesen, aber ich habe es auch sofort bereut und Staub auf mein Haupt gestreut, indem ich nämlich das Buch hier hervorzog. Weiter aber habe ich mich wahrlich nicht gewagt. Ueber der Thür zu Deinem Zimmer stand ja in leuchtender Geisterschrift ein dräuendes 'Tabu!' Ich neigte mich nur tief in den Staub und floh die heiligen Räume, die kein Frauenfuß betreten darf.“

„Es ist eben nicht jedes Buch vor einem neugierigen Frauenauge sicher und für ein reines, keusches Frauengemüth geeignet,“ setzte er auseinander, doch war es, als ob noch eine andere Befürchtung von ihm genommen wäre. Sichtlich erleichtert athmete er auf, wenn es auch der Scherzrede nicht gelungen, diesmal ein Lächeln auf seine ernsten Lippen zu locken.

Die Schäkerin merkte wohl den gewonnenen Vortheil und suchte ihn auszunützen.

„Nun aber liest Du uns vor, nicht wahr?“ bat sie.

„Ist Dir denn so sehr darum zu thun, Quälgeist?“ fragte er zaudernd.

„Verse höre ich für mein Leben gern, und besonders wenn Du sie vorträgst.“

„Du bist sehr freundlich,“ sagte er nickend, doch ohne sich von der Schmeichelei bestechen zu lassen, und seine Worte erhielten sogar einen herben Nachdruck, als er hinzusetzte: „Es empfindet aber vielleicht nicht Jedes das gleiche Interesse an einer Vorlesung solchen Dichterwerkes, das nur das Fortspinnen des modernen Romans in der eigenen Traum- und Gedankenwelt stört.“

Lisa merkte wohl, daß dies auf sie gemünzt sei, obgleich sie nicht den vollen Sinn der Anspielung ahnte. Erst das zurückgezogene, gemeinsame Leben in Riefling hatte dazu geführt, daß Witold, nachdem er im Gespräch hin und wieder ein Citat gebraucht, hauptsächlich auf Lora’s Andrängen, dasselbe durch ein Vorlesen der ganzen Stelle und wohl auch längerer Abschnitte aus den berührten Dichtungen vervollständigte. Seine Zuhörerinnen hatten Geschmack daran gefunden, und auch für seine Frau, die ehedem nie ein Verlangen darnach getragen oder selbst für ernste, erhebende Lectüre Zeit gefunden hatte, wurden diese Lese-Abende ein Bedürfniß, wenngleich sie noch niemals sich über den Genuß geäußert hatte.

Jetzt aber glaubte sie, den deutlich gegen sie ausgesprochenen Zweifel beheben zu müssen.

„Auch ich bitte Dich darum,“ sagte sie sanft, indem sie ihr Auge freundlich zu dem seinen erhob.

Auf Witold aber hatte das gerade die entgegengesetzte Wirkung. Er stieß das Buch weit von sich weg.

„Ja, ja,“ stimmte nun auch die Tante zu. „Es ist so angenehm zu arbeiten dabei. Du hast eine so schöne, ausdrucksvolle Stimme –“

„Sie ist heute rauh,“ unterbrach er sie.

Daß sie es war, hörte man, dennoch aber war es nicht der Schonung wegen, daß er sich zu lesen weigerte; denn er nahm eine Cigarre aus dem Täschchen und hüllte sich in eine dichte Rauchwolke, daß die Tante zu hüsteln begann und, von Lora unterstützt, ihm Vorstellungen machte, er möge bei seiner Heiserkeit nicht so schonungslos gegen sich selbst wüthen.

Lisa schwieg. Sie leerte ihre Tasse und ging dann still aus dem Zimmer. Bald hörte Witold den Flügel im Salon unter ihren Fingern ertönen.

Was sie spielte, war einer seiner Lieblinge aus den Müllerliedern, und sie hatte das Stück mit Absicht gewählt. Noch von der Zeit ihres Brautstandes her war ihr seine Vorliebe für dasselbe in der Erinnerung, und vielleicht eben darum hatte sie es jahrelang nicht gespielt. Ueberhaupt hatte sie sich die Musik, so lange sie in der Stadt wohnte, immer versagt, wenn sie glaubte, daß auch er zu Hause sei – heute sollten ihm dieselben Klänge sagen, daß sie ihm eine Freundlichkeit zu erweisen und ihn in eine wohlthuende Stimmung zu versetzen wünsche. Aber die Wahl war keine glückliche. Was ihn begütigen sollte, erbittert ihn; gerade heute schien er Musik gar nicht ertragen zu können, und er, der ruhig gleichmäßige, fast pedantisch ernste Mann, den man keiner Laune eines gereizten Nervensystems zugänglich wähnen mußte, sprang mit finster gerunzelter Stirn schon bei den ersten Tönen auf.

„Ich habe noch zu arbeiten – gute Nacht!“ sagte er kurz und verließ das Gemach.

Lora und die Tante sahen ihm verwundert nach.

„Er muß heute einen recht argen Verdruß mit dem Ortsvorstande gehabt haben,“ suchte ihn die Letztere zu entschuldigen.

„Ach, diese Bauerndickköpfe!“ schalt Lora, indem sie die kleine geballte Faust erhob und in der Richtung gegen das Dorf hin schüttelte, als hätten sich die Bedrohten weislich vor derselben in Acht zu nehmen. Dann aber erzählte sie leise, um die Musik nicht zu stören, von dem Besuche, und ihr Geplauder schien kein Ende nehmen zu wollen; es ging wie ein Mühlrad im rauschenden Wasser als Grundbegleitung zu der schwermüthigen, sanft ausklingenden Weise.

Der, für den sie tönte, war ihrer aber doch nicht verlustig geworden. Er ging im Garten draußen auf und ab und horchte auf sie. Jeder Ton schnitt ihm in’s Herz. So dringend die vorgeschützte Arbeit gewesen, sie hatte ihn nicht auf sein Zimmer genöthigt. Nach Luft und Kühlung begehrte sein heißer hämmernder Kopf, und unbedeckt setzte er ihn dem durch die Baumwipfel säuselnden Nachtwinde aus.

„Nun also ist’s da,“ murmelte er zwischen den Zähnen, die das Cigarren-Ende schon ganz zerbissen hatten.

Wochen waren in der Erwartung des Momentes vergangen, der die Entscheidung bringen mußte, eine Entscheidung, die er voraussah, auf die er sich gerüstet glaubte und an der er dennoch, wenn er sich’s auch nicht gestand, schon zu zweifeln begonnen hatte. So ganz unmöglich war es ja nicht, daß sie dem Drängen jenes Mannes nicht nachzugeben willens war, daß sie –

Ach, wozu war es gut, jetzt noch all die Möglichkeiten zu erwägen! Aus der Ruhe, in die er sich einzuwiegen begonnen, war er ja nun gewaltsam herausgerissen. Er wollte sie nicht hassen dafür, aber er zürnte ihr, und mit Schreck empfand er dieses Gefühl. Wo war die stolze Gleichgültigkeit, mit der er sich gepanzert glaubte? Kam’s, so sollte es ihn kalt finden – unempfindlich wie einen Stein. Nun war’s da – und – –?




8.

Es war ein Tag zu Ende des Aprils, aber die Sonne schien so sommerlich warm, daß sich die Schwestern in den kurzen Mittagsschatten des Hauses geflüchtet hatten. Sie saßen an einem Tischchen fast unmittelbar neben den aus dem Speisesaale in den Garten herabführenden Stufen. Lora band Flieder und Pyrusblüthen zu einem Strauße für den Mittagstisch, während Lisa an einem kleinen Aquarell arbeitete, das, schon beinahe vollendet, eine Ansicht des Hauses von der Parkseite darstellte. Es waren nur noch einzelne Schatten zu vertiefen, und hier und da eine Farbe dem Gesammtton unterzuordnen. Ihnen zu Füßen spielte Gretchen im Kiese, wobei ihr Frip und Harro Gesellschaft leisteten; zuweilen ging’s auch zu Dreien im Haschen und Jagen hinaus auf den Rasen. „Mama und Tantchen“ achteten nicht immer darauf. Sie wußten sich allein und besprachen allerlei; von Seiten der Gräfin hatten sie keine Störung zu befürchten, denn diese widmete ihren Sonntagsmorgen, wenn, wie jetzt in der Zeit strenger Feldarbeit, die Fahrt nach der ziemlich entfernten Stadt unterblieb und sie somit den Gottesdienst – die Dörfer um Riefling waren katholisch – entbehren mußte, ganz der Postille.

Zum Glück für ihr religiöses Bedürfniß besaß die gute Dame aber ihren Lieblingsprediger sogar in mehreren Exemplaren gedruckt.

Auch Lora hatte sich eines davon aufnöthigen lassen; sie wußte wohl warum; Tante mußte bei ihrer guten willfährigen Laune erhalten werden – dann that sie ihrem Lieblinge auch gern einen Gefallen. Dafür konnte man schon ein Bischen fromm sein. Das that auch der Heiterkeit keinen Abbruch, welche jetzt, nach der Pflichterfüllung, wieder in ihr volles Recht eingesetzt

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_218.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2018)