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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

zehn Jahren die Schreibung -ieren.[1] Es scheint mir jetzt, daß sie nicht Aussicht hat, allgemein zu werden, und ich gebe sie auf.

Ein anderes Beispiel. Die Berliner Conferenz empfahl noch nach kurzem Vocal das Heyse’sche ſs, wofür Raumer mit solchem Eifer eingetreten war. Ich war immer dagegen. Das graue Büchlein des Berliner Unterrichtsministeriums von 1880 hat es nun auch aufgegeben (es schreibt: Haß, Riß, nicht mehr: Haſs, Riſs).

Da nun, wie aus diesen Beispielen ersichtlich ist, die Anschauungen solchen Schwankungen unterliegen, wer mag da orthographische Reformen den Schulen befehlen wollen, die mit dem herrschenden Gebrauche im Widerspruche stehen? Warum um’s Himmels willen läßt man denn die armen Lehrer, die armen Kinder nicht unbehelligt mit solchen Neuerungen, über deren Berechtigung die Gelehrten mindestens nicht einig sind?

Wäre es nicht heilsamer, der Schule zu empfehlen, ja zu befehlen – alle Gründe der Methode und Disciplin sprechen dafür – daß sie sich von allen Neuerungen der Schreibung fern halten? Wäre nicht von der Schule zu erwarten, daß sie die Kinder davor bewahren werde, so zu schreiben, daß gebildete Menschen glauben könnten: sie können nicht schreiben?

Die Ansicht, daß eine neue Schreibung durch die Schule eingeführt werden könnte, bei einem großen literarischen Volk, ist ein Irrthum.

Schriftsteller oder Gelehrter wird unter den Schulkindern nicht eines von tausend. Die große Mehrzahl der Ungelehrten, die eine neue Schreibung angenommen hat, soll sie demnach behaupten und vertreten im Widerspruch mit der ganzen Welt der Andersschreibenden, welche in der älteren Schule gebildet sind! Das wird diese Mehrzahl nicht durchführen. Sie wird zum Theil gar nicht in der Lage sein viel zu schreiben, oder sie wird im andern Fall sich dem allgemeinen Schreibgebrauch fügen müssen. Die Wenigen aber – von mehreren Tausenden etwa Einer – die Schriftsteller werden, besitzen eine Bildung, durch welche sie ganz gewiß sich entbunden fühlen werden von der Pflicht, die Orthographie, die man ihnen in der Schule aufgezwungen hat, zur Geltung zu bringen. Sie haben ihre Bildung gewonnen durch das Schriftenthum, das von der neuen Orthographie noch unbeeinflußt ist, und werden daher, wenn sie für Orthographie nicht ein besonderes Interesse haben, sich einfach dem vorgefundenen Gebrauch anschließen, wenn sie aber ihren Studien und ihrer Geistesrichtung nach für orthographische Reform sich interessiren sollten – was unter Hunderten wieder kaum bei Einem der Fall sein wird – so werden sie wahrscheinlich nicht für die in der Volksschule gelernte Orthographie eintreten, sondern ihre eigenen Wege gehen.

Aber warum sollten sie nicht für die in der Volksschule gelernte Orthographie eintreten wollen? Darum wahrscheinlich nicht, weil diese Orthographie eine Menge von Punkten enthält, die disputabel sind. Dies spiegelt sich deutlich schon in der Erscheinung, daß dort, wo die Gewalt des grauen Büchleins nicht hinreicht, auch die Zustimmung nicht erfolgt, wie man aus den vielseitig laut werdenden Protesten schon jetzt ermessen kann.

Der orthographische Friede in den Schulen ist nur durch die Verordnung herzustellen, daß sich die Schulen einer jeden auffälligen, ungewöhnlichen Schreibung im Unterricht zu enthalten haben. Ich glaube, daß viel, ja, daß alles gewonnen wäre, wenn in der Schule der Friede damit wieder hergestellt würde, daß sie verhalten wäre, im Unterricht nicht die Schreibung der Zukunft, also eine problematische Schreibung zu lehren. Die Lehrer würden bald die Wohlthat fühlen, um wie viel leichter es sich unterrichtet, wenn man sich in Uebereinstimmung befindet mit der Literatur, als wenn man sich abmüht den Sisyphusstein einer fraglichen Reform zu wälzen, in Widerspruch mit der Literatur und auch mit den Eltern der Schüler.

Das, was uns Alle, auch die etwa Gebietenden, zwingt, ist der Wogengang der Literatur im Großen. Der Lehrer lehre ihn achten und auf ihn achten.

Daß mit dem Zwecke des Jugendunterrichts die Bedingung einer Beschränkung auf das Herkömmliche gegeben ist, ergiebt sich, abgesehen von methodischen Gründen, auch schon daraus, daß die Frage des anzustrebenden Ideals noch ungeklärt ist, wie dies die zahllosen, sich widersprechenden Schriften, welche in neuerer Zeit über den Gegenstand entstanden sind, zur Genüge beweisen. Zur Abenteuerlichkeit wird jedes Abweichen von dem Herkömmlichen im Unterricht, wenn es gelehrt wird, als ob seine allgemeine Annahme gesichert wäre, bevor man eine Bürgschaft eines solchen Erfolgs nachweisen kann. Es wird damit der Streit, der in der Literatur noch unbeendet ist, in die Schule verlegt, und der Schüler sieht sich nicht nur im Widerspruche mit dem ganzen Schriftenthume, er sieht sich sogar zum Schiedsrichterthum bestellt, oft selbst zwischen seinen Lehrern.

Noch haben wir den methodischen Grund nicht berührt, der gegen eine vom Herkommen abweichende Schreibung im Unterricht spricht.

Die Sprachphysiologie hat gelehrt, daß unsere Buchstabenschrift lange nicht ausreicht, den Wortlaut vollkommen wiederzugeben. Wir lesen auch nicht buchstabirend oder lautirend. Wer so liest, liest schlecht. Die vorgeschrittenste Schreiblesemethode beginnt auch nicht mehr mit Lauten oder sinnlosen Wortbestandtheilen, sondern mit ganzen Wörtern, mit Wortbildern, und erreicht damit ausdrucksvolles Lesen und richtiges Schreiben sicherer, als mit allen Regeln. Wie sehr erschwert es nun den Unterricht, wenn eine nicht übliche Schreibung gelehrt werden soll, durch die eine Schranke gezogen wird zwischen dem Wortbild auf allen Straßen und Gassen, in Büchern und Zeitschriften, und dem des Schulbuchs![2]

Eine Schrift mit Regeln und Wortverzeichniß der deutschen Rechtschreibung, das sich an den herrschenden Schreibgebrauch hält, ist viel leichter und sicherer herzustellen, als Vereinbarungen über Zukunftsorthographien. So ein Büchlein, von obenher empfohlen, müßte wie Oel wirken, das man in aufgeregte Fluthen gießt. Es würde bald durch unanfechtbare Stichhaltigkeit, durch seine Uebereinstimmung mit der Literatur populärer und von Kindern, Eltern und Lehrern wie eine wahre Wohlthat empfunden werden.

  1. Auch Weigand’s vortreffliches Wörterbuch, das sonst so gewissenhaft die übliche Schreibung verzeichnet, weicht in dem Punkte davon ab, daß es durchaus -ieren schreibt. Es ist abgeschlossen 1871.
  2. Wir möchten den hier angedeuteten Punkt, namentlich dem phonetischen Princip gegenüber, ganz besonders betonen. Es ist schlechterdings unmöglich, die Orthographie nach der Aussprache zu uniformiren – weil es keine durchweg einheitliche Aussprache in irgendwelcher Sprache giebt, und weil, wenn es sie gäbe, wie oben bereits gesagt, ein unendlich compliciertes Alphabet geschaffen werden müßte. Thatsächlich ist die Schrift nichts Anderes, als ein Operiren mit Wortsymbolen, Wortbildern, welche mehr oder weniger mit versuchsweiser Rücksicht auf eine Lautunterscheidung gestaltet sind und welche Jeder nach den Lauten seines Dialekts ausspricht. Was der Mitteldeutsche „Geist“ liest, das liest der Schwabe „Gejscht“; der Zweck der Schrift ist erfüllt, wenn Jeder von beiden weiß, welchen Lautwerth das Wortbild für ihn hat, und damit, welcher Begriff und welche logische Stellung im Gedankenzusammenhang durch dasselbe repräsentiert wird. Keine Sprache mehr, als die englische, bezeugt, daß diese Auffassung vom Wesen der Schrift den thatsächlich vorliegenden und mit innerer Nothwendigkeit gewordenen Verhältnissen entspricht: hier hat sich die Aussprache in ihrer allmählichen Entwickelung bis zum Komischen von der in früher Zeit erstarrten Lautschrift abgewendet, und zwar ohne den geringsten Schaden für das Verständniß des geschriebenen und gedruckten Wortes. Aber wir möchten noch einen andern Punkt zur Ergänzung der obigen Gründe gegen die Orthographiereform hier nicht unerwähnt lassen: er betrifft den sehr prosaischen Geldpunkt. Es ist in den Tagesblättern schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß dem Buchhandel, das heißt einer Anzahl von Privatpersonen, welche Schul- und Jugendliteratur verlegt haben, aus der Puttkamer’schen Maßregel eine durch nichts zu rechtfertigende Schädigung erwächst; aber nur wenige Leute dürften einen Begriff davon haben, wie groß dieser Schaden, der stellenweise dem Ruin gleichkommt, sein wird, obschon dem Buchhandel das Zugeständniß gemacht worden ist, daß nunmehr, nach erfolgter Einführung der Reform, zwar keine Schulbücher mehr in abweichender Orthographie zu drucken sind, die alten Bestände jedoch noch durch fünf Jahre verwendbar bleiben. Wir können eine Einigung in Beziehung auf Orthographie für das Gesammtgebiet unserer Muttersprache nur auf’s Dringendste wünschen, aber dann mag sie im Sinne obigen Aufsatzes sorgfältig vorbereitet und darf sie nicht mit souveräner Willkür über’s Knie gebrochen werden.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_308.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)