Seite:Die Gartenlaube (1880) 438.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


getrieben, seine eigene Familie in empörendster Weise gepeinigt, seinen zweitältesten Sohn eigenhändig umgebracht, in mongolisch wüster Vernichtungsraserei die Bewohnerschaften ganzer Städte und Landschaften ausgetilgt, daneben im Schlamme ekelhafter Ausschweifungen sich gewälzt hatte, geradezu leidenschaftlich unterwürfig und zugethan waren – so leidenschaftlich, daß beim Tode des Scheusals von Zar die allgemeinste, aufrichtigste, wildeste Wehklage losbrach. Man hätte, so man dies Gebaren der Moskowiten ansah, meinen können, ein Gott, ihr Gott wäre ihnen gestorben. Und im Grunde war es ja so, denn die zarische Macht und Gewalt war eine abgöttisch geglaubte und verehrte.

Vom 18. März 1585 an hieß Feodor Iwanowitsch, Iwans des Schrecklichen dritter Sohn – der älteste war frühzeitig gestorben, den zweitältesten hatte der Vater todtgeschlagen – der Zar aller Reußen. Der zweiundzwanzigjährige Junge war physisch und psychisch eine Null, kraft-, verstand- und kenntnißlos, ein Dreiviertels-Trottel, ein Fex, welcher seine ganze Zeit damit verbrachte, in den Kirchen des Kremlin herumzulaufen die Glocken allerhöchsteigenhändig zu läuten und sich tagelang die absurdesten Heiligenlegenden vorlesen zu lassen. Bei feierlichen Anlässen setzte man den Zar-Fex auf den Thron und gab ihm Skepter und Reichsapfel in die Hände. Dann starrte er mit dem Lächeln blödsinniger Bewunderung auf diese Insignien einer Macht, die ein anderer statt seiner innehatte und übte. So war der letzte Zar aus dem Hause Rurik, will sagen aus dem warägisch-normannischen Herrscherstamme, der letzte Zar aus der Familie der alten Großfürsten von Moskau. Man hatte dem Schwächling die Schwester des Boris Godunow, Irinia oder Irene, als Gemahlin angetraut, und sein Schwager Boris war der Zar des Zaren, thatsächlich jetzt schon der Leiter und Beherrscher Russlands. Denn dieser Magnat, dem Titel nach ein Mitglied des Regentschaftsrathes, also einer der fünf obersten Minister, hatte vermöge der zarischen Schwagerschaft die Macht seiner vier Amtsgenossen bald zu einem Nichts gemacht. Boris war zweifelsohne ein ungemein begabter, ein schlauer und erfahrener Mann, dabei von einem unbändigen Ehrgeiz besessen, welcher als sein Endziel die Erlangung der Zarenkrone wohl schon frühzeitig in's Auge gefaßt haben mochte. Daß ihm dabei seine tatarische Abkunft ein Hinderniß sein würde, brauchte er nicht zu fürchten, denn bekanntlich war seit den Zeiten, wo die Mongolen zwei Jahrhunderte lang über Russland geherrscht hatten, das Blut der Russen namentlich auch das der vornehmen, stark mit tatarischem gemischt.

Nun aber ist zu melden, daß Iwan der Schreckliche neben seinem Nachfolger Feodor noch einen Sohn hinterlassen hatte und zwar einen Sprössling aus seiner siebenten Ehe mit Marfa (Martha) Nagoy, einer Dame von tatarischer Abkunft. Dieser Sohn, im Jahre 1581 geboren, also beim Tode seines Vaters ein unmündiger Knabe, hieß Dmitry (Dimitri, Demetrius) und war in den Augen streng rechtgläubiger Russen allerdings nur ein Bastard. Denn der Lehre der russischen Kirche zufolge kann ein orthodoxer Christ nur viermal rechtmäßig sich verheiraten. Indessen war es bei des grausen Zaren Lebzeiten niemand eingefallen, gegen die Legitimität des kleinen Dmitry Protest erheben zu wollen, und demzufolge führte der Prinz gleich seinem Halbbruder Feodor den Titel Zaréwitsch, d. i. Zarensohn. Iwan der Schreckliche selbst jedoch schien diesen seinen letzten Sprössling nicht für voll angesehen zu haben, denn er hatte ja in seinem Testamente bestimmt, daß Dmitry nichts erben sollte als die Stadt Uglitsch und ihr Gebiet. Dies verhinderte jedoch nicht, daß angesichts der Schwächlichkeit und Hinfälligkeit des Zaren Feodor die Augen vieler Russen in dem Knaben Dmitry den künftigen Zaren erblickten. Boris ließ es sich daher angelegen sein, diesen Thronprätendenten dem Volke vorderhand mehr aus dem Gesichtskreise zu rücken. Kaum war Feodor zum Zaren gekrönt, wurde Marfa Nagoy, die Witwe des Schrecklichen, mit ihrem Söhnlein Dmitry nach der Stadt Uglitsch geschafft, um dort ihren ständigen Aufenthalt zu nehmen. Boris bestellte zum Wächter von Mutter und Kind seinen Diak (Kanzleisekretär) Bitjagowski, auf welchen er sich vollständig verlassen konnte. Ist den Berichten, welche dieser Beamte von Uglitsch nach Moskau sandte, zu glauben, so verrieth sich der kleine Dmitry als der echte Sprössling seines Vaters und zwar mittels Bethätigung der Instinkte wilder Grausamkeit. Der Knabe hatte ein Wohlgefallen daran, Thiere raffinirt zu quälen, und er soll auch haben verlauten lassen, daß er dereinst mit Menschen ebenso verfahren wollte. Eines Wintertages, so wird erzählt, hatte er mit Hilfe seiner Spielkameraden auf dem Hofe des uglitscher Schlosses nach Knabenart den Schnee zu Menschenfiguren geballt. Diesen gab er die Namen der Magnaten des Reiches und die größte nannte er Boris. Dann nahm er seinen hölzernen Säbel und schlug damit den Schneemännern die Arme und die Köpfe ab mit den Worten: „So werde ich mit ihnen umspringen, wann ich einmal groß bin!“

Es ist möglich, daß der Knabe in Folge der grollenden, aufreizenden rachsüchtigen Aeußerungen seiner Mutter solche oder ähnliche Worte gesprochen. Wahrscheinlicher freilich erscheint es, daß ihm hinterher dieselben in den Mund gelegt worden seien. Im übrigen hat es solcher kindischen Drohungen gar nicht bedurft, um das Leben des letzten Sprösslings Iwans des Henkers zu gefährden. Der Prinz war ja ein Hinderniß, sogar, wie die Sachen lagen, das einzige ernstliche Hinderniß auf Boris Godunows Wege zum Zarenthron.

Daß Boris der Urheber dessen war, was am 15. Mai 1591 (a. St.) auf dem Schloßhofe zu Uglitsch geschah, dürfte einer ernstlichen Anzweifelung kaum unterstellt werden können. Am genannten Tage, am hellen Tage, ist nämlich dort der Zaréwitsch Dmitry mittels Durchschneidung der Kehle ermordet worden. Das ist eine unzweifelhafte Thatsache. Allein die Einzelnheiten der Mordthat konnten nicht aktenmäßig festgestellt werden, weil die Mörder, der Diak Bitjagowski, sein Bruder Daniel, seine Frau, sammt Josef Wolochow und Nikita Katschalow, von dem wüthenden Volke von Uglitsch, welches Marfa Nagoy und ihre zwei Brüder angesichts der Leiche des ermordeten Sohnes und Neffen zur Rache aufgerufen hatten, gesteinigt wurden.

Boris unterschlug den aus Uglitsch über die Katastrophe eingelaufenen Bericht und gab dem Zaren Feodor einen gefälschten in die Hände, worin es hieß, der junge Dmitry hätte sich in einem Anfalle von Epilepsie, da er gerade ein scharfes Messer in der Hand gehabt, selber eine Wunde am Halse beigebracht und wäre an der Verblutung gestorben – eine ganz dumme Lüge, welche ihrem Urheber später theuer zu stehen kommen sollte. Vorderhand freilich erntete er die Früchte des uglitscher Verbrechens. Niemand wagte mehr, seinem Willen zu widerstehen, vollends dann nicht mehr, als er auch die große Familie der Fürsten Schuisky, sowie das Haupt der russischen Klerisei, den Erzbischof-Metropoliten von Moskau, tief gedemüthigt und seinem Machtgebote gebeugt hatte. An die Mutter des ermordeten Dmitry erging ein zarischer Ukas, kraft dessen sie „zur Strafe dafür, daß sie ihren Sohn nicht besser behütet hätte“, aus Uglitsch hinweg und in ein im Norden Russlands gelegenes Kloster verwiesen wurde, allwo sie den Nonnenschleier umthun mußte. Die Hinterlassenen derer dagegen, welche der Lynchjustiz des Volkes von Uglitsch zum Opfer gefallen, wurden reichlich versorgt. Rastlos bemüht, seine Stellung nicht nur zu erhalten und zu befestigen, sondern dieselbe auch zu einer Ausgangsstufe herzurichten, von welcher aus das letzte und höchste Ziel unschwer zu erreichen wäre, suchte und wußte Boris seine Regierung mit dem Glanze von Eroberungen zu umgeben, welcher dem russischen Ausbreitungstriebe schmeichelte. Ebenso beeiferte er sich, die Geneigtheit von Klerisei und Adel zu gewinnen, und auf sein Bestreben, dem letzteren zu gefallen, ist hauptsächlich eine im Jahre 1593 getroffene, tiefeinschneidende Maßregel zurückzuführen, jener zarische Ukas, welcher die russischen Bauern an die Scholle fesselte, indem er denselben strengstens verbot, ihren Wohnsitz zu ändern. Das war eine Maßregel, deren unberechenbare Tragweite zunächst gar nicht erkannt wurde. Das war die Begründung der bäuerlichen Leibeigenschaft und bald auch eine der Hauptursachen des gegen Godunow erwachenden russischen Volkshasses.

Zu Anfang des Jahres 1598 starb der Schattenzar Feodor, und so war denn die Zeit gekommen, wo Boris auch dem Namen nach der Zar aller Reußen sein wollte. Er fand es angezeigt und räthlich, zuvörderst noch eine Komödie aufzuführen, nämlich diese, daß er durch den sogenannten großen Landesrath („Semskaya Duma“), ein Schein- und Schemenparlament, in welchem die geistlichen Magnaten, die Erzbischöfe und Bischöfe, sowie die adeligen, die Bojaren, saßen, seine Schwester Irene, Feodors kinderlose Witwe, zur regierenden Zarin bestellen ließ. Im raschen Weitergange der wohlinscenirten und gutgespielten Posse entsagte dann

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_438.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)