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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Der erste Stich in’s Herz.

Es hat gar oft ein ernst Gesicht
Gewiesen mir schon früh das Leben:
Ich käm’ so bald zu Ende nicht,
Wollt’ ich davon Bericht euch geben.
Gar oft um mich stieg hoch die Fluth;
Gar oft umfing mich Nacht und Grauen,
Doch blieb, gottlob, mir frischer Muth
Trotz alledem und Gottvertrauen.

Jedoch zur Sache! – Laßt euch nur
Erzählen heut, wie mir’s im Leben
Durch’s Herz zum ersten Male fuhr,
Wie’s mir den ersten Stich gegeben.
Mag Mancher drum sentimental
Mich schelten: sei’s! – Ich fühl’ die Wunde
Noch heut nach Jahren jedes Mal,
Wenn ich gedenk’ an jene Stunde. –

Der Vater war seit Jahren todt,[1]
Und wiederum war nun gekommen
In unser Haus des Todes Noth
Und hat die Mutter mitgenommen.
Uns Kindern ließ ein neues Glück
In neuem Heim die Liebe finden –
Der alte Hausrath Stück für Stück,
Der ging, verkauft, nach allen Winden.

Den Bücherhaufen unterm Arm,
Grad’ aus der Schule kam ich eben.
Vor unserm Haus ein Menschenschwarm –
Was geht da vor? Was hat’s gegeben?
Ei ja, Verkauf sollt’ heute sein!
Mir war’s um’s Herz so weh und eigen,
Und doch zog mich’s mit Macht hinein;
Ich will hinan die Treppe steigen.

Da plötzlich steh’ ich wie gebannt;
Ein Weib tritt eben aus der Thüre
Mit unserm Schlitten in der Hand –
Mir war’s, als ob der Schlag mich rühre.
Mit unserm Schlitten! (Heute noch
Seh’ ich ihn nach so vielen Jahren.)
Was scheert das Weib der Schlitten doch?
Just der, drauf wir so oft gefahren?

Vor den – das Schwesterlein darauf –
Ich mit dem Bruder oft mich spannte:
Hei! wie dahin in raschem Lauf
Das Paar der muth’gen Renner rannte!
Mit dem wir in den tiefen Schnee
Gepurzelt oft und umgeschlagen;
Den einmal gar beinah – o weh! –
Uns ein Gensd’arm davongetragen!

Den Schlitten kannt’ ich zu genau,
Er war es, unser grüner Schlitten –
Nun trug ihn fort die fremde Frau – –
Wie das mir durch das Herz geschnitten!
Wie das die Brust mir eingepreßt! –
Sie haben später mich gefunden
Hinstarrend nach der Ecke fest,
Wo Schlitten längst und Frau verschwunden.

Dann ging ich – doch in’s Haus hinein,
In’s alte, bin ich nicht gegangen.
Im neuen Heim, wo Sonnenschein
Der warmen Liebe mich umfangen,
Vergaß ich allgemach den Schmerz,
Doch sah den Schlitten ich im Traume. –
Das war – wer lächelt? – für mein Herz
Der erste Stich. Ein Reif im März
Auf meines Lebens jungem Baume.

Hermann Schults.




Ein auferstandenes Wikingerschiff.

Wenn irgend ein Räuberthum mit dem Glanze des Erfolges und mit der Verklärung durch die Poesie einer romantisch gestimmten Nachwelt belohnt worden ist, so geschah das dem von der altgermanisch-heidnischen Bevölkerung Skandinaviens geübten. Diese normannischen „Wikingar“, das heißt Krieger, welche von den skandinavischen Küsten aus unter Anführung von „Heer“- oder „Seekönigen“ in kleinen, aber flinken und bis weit in die Flußmündungen hineintragenden Schiffen, den „schaumhalsigen Wellenrossen“, die See pflügten und plötzlich irgendwo landend, mit oder ohne Kampf Beute machten, um dann ebenso plötzlich wieder zu verschwinden – diese Wikinger sind Jahrhunderte lang die Verzweiflung Englands, Frankreichs, der Niederlande und zahlreicher anderer Küstengebiete gewesen. Tief im Lande oft trugen sie Tod und Verwüstung in Städte und Dörfer, nichts Transportables von Werth verschmähend, selbst nicht die überlebende Bevölkerung, welche in Sclaverei geschleppt ward – ein todtschlaglustiges Volk von rücksichtsloser Rohheit, durchsättigt mit der ganzen altgermanischen Kraft, Wander- und Abenteuerlust und Begier nach kriegerischem Ruhm.

Sie drangen auf der Seine bis Paris vor und haben es drei Mal geplündert (in der Mitte des neunten Jahrhunderts), sie liefen in die Garonne ein bis Toulouse. Sie fuhren die Maas hinauf und brandschatzten die Gegend von Aachen, Köln, Trier, Mainz, Worms, ja sie sollen den Rhein hinauf sogar in die Schweiz eingedrungen sein und sich im Haslithal festgesetzt haben. An den Flußmündungen verschanzten sie sich und gewannen durch Landabtretungen immer festere Positionen, zuletzt gar die Normandie, von wo sie nach der Hastingsschlacht ihre Herrschaft über ganz England trugen, nachdem sie dasselbe durch Jahrhunderte wie eine periodisch wiederkehrende Heuschreckenplage heimgesucht hatten.

Sie fuhren in das Mittelmeer ein und vergewaltigten die Küsten bis nach Kleinasien hin; sie eroberten das südliche Italien und Sicilien, wo ihre Herrschaft erst mit den Hohenstaufen endigte. Von Schweden aus bezwangen sie als „Waringer“ oder „Waräger“ die Ostseeküsten bis weit in das jetzige Rußland hinein und fügten unter Rurik den Grundbau des späterer russischen Reiches, auf dem Dnjepr bis in das Schwarze Meer dringend und Constantinopel bedrohend. Sie sind die Entdecker und Besiedler der Inseln auf dem Wege von Norwegen nach Grönland, ja sie wurden, indem sie dieses entdeckten, lange vor Columbus die Auffinder des amerikanischen Festlandes, das sie bis Carolina streiften.

Es ist eine fast räthselhafte Kraft und Unverwüstlichkeit, welche aus diesem in dreihundert Jahren etwa sich abspielenden Stück Geschichte redet. Die schwerlich allzu dichte Bevölkerung eines eben nicht fruchtbaren Landes, wie Skandinavien, giebt einen Ueberschuß an Menschen ab, welche solcher Vermehrung und solcher Kraftentfaltung fähig sind, daß sie unter der würgenden Hand beständiger Kämpfe und maritimer Gefahren dennoch eine Eroberungszone um ganz Europa, mit einem Streifen nach Amerika hinüber, zu schlingen vermögen und erst in dreihundert Jahren sich erschöpfen! Schon diese einzigartige Vergangenheit, welche eine Fülle der großartigsten geschichtlichen Bilder in sich schließt und Stoff zu einem Dutzend Epen bietet, muß einen romantischen Zauber üben. Aber auch in Art und Wesen, in Cultur und Sitte der alten Wikinger tritt uns, soweit wir hier einen Blick frei haben, soviel Originelles entgegen, daß die ärmlichste Dichterphantasie sich davon mühelos für eine ganze Lebensthätigkeit mit Stoffen versorgen kann. In Bezug auf die heidnische Vergangenheit des Germanenthums wären wir ohne die Edda-Aufzeichnungen der norwegisch-isländischen Wikinger fast ohne directe Quellen; zugleich aber braucht einer nur diese Ueberlieferungen zu studiren, um wie im Spiegel ein Bild von dem ganzen Empfindungsleben jenes historischen Heroenthums zu erblicken, welches als Pole hier, man möchte sagen: mammuthhafte Gewalt der Rohheit, dort das rührendste Fühlen kraftvoller Frauenherzen aufzeigt.

Es ist ohne Zweifel nöthig, das Alles in lebendiger Erinnerung zu haben, und vielleicht noch jenen glücklichsten poetischen Griff in das Wikingerleben: Esaias Tegner’s „Frithjofssage“, dazu, wenn man ganz das Interesse begreifen will, welches das jüngste Ereigniß auf dem Gebiete archäologisch wichtiger Ausgrabungen in

  1. Der bekannte Wupperthaler Dichter Adolf Schults (vergl. „Gartenlaube“ 1858, Nr. 34).
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_472.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)