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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

es dann noch besondere kleine Hülfsmittel. Der Knoten im Taschentuch ist ein unsicheres, denn wenn du nicht glücklicher Weise den Schnupfen hast, so magst du dir nur gleich noch anders wohin einen zweiten Knoten knüpfen, um den ersten nicht zu vergessen.

Ein besseres Mittel schon ist das Zählen der Dinge, die man sich zu merken hat. „Ich habe sechs Gegenstände einzukaufen; ich will dem Arzte drei Fragen vorlegen; vier dringende Briefe sind morgen zu schreiben etc.“ Diese Zahlen merkst du dir leicht. Besonders nützlich ist es, auf Reisen stets so die Zahl der Gepäckstücke im Kopfe zu behalten. Freilich giebt es auch Leute, bei denen Hopfen und Malz verloren ist, Solche, von denen es heißt: „Gut, daß ihm der Kopf fest angewachsen ist, sonst hätte er ihn sicher auch schon einmal vergessen“, Solche, die mit unglücklicher Miene dastehen und fragen: „Hatte ich denn nur drei Pakete? Mir ist doch, als hätte ich vier gezählt.“ Das ist traurig. Wer sich nicht einmal die Zahl der Dinge merken kann, die er sich merken soll, für den bleibt nur noch das letzte Radicalmittel – das Aufschreiben.

Ehe wir aber von diesem reden, müssen wir noch eine Eigenthümlichkeit vergeßlicher und zerstreuter Personen erwähnen. Wenn dieselben sich noch auf den Ort zu besinnen vermögen, wo sie zuletzt an das Vergessene gedacht haben, und sie suchen diesen Ort auf, so fällt es ihnen meistens wieder ein.

„Ich weiß es genau,“ seufzt eine Hausfrau, „ich stand im Garten, unter dem Apfelbaum, als ich daran dachte.“

Gut, dann stelle dich wieder unter den Apfelbaum! Sorge aber auch, daß du die Augen nach derselben Richtung kehrst, wie damals! Da stehst du. Dort drüben über dem Zaune liegt der Nachbarin Wäsche auf der Bleiche. Ein Blick darauf, und sofort fällt dir wieder ein, daß du neuen Seifenvorrath bestellen wolltest.

Und jetzt also vom Aufschreiben und Notiren!

Das ist entschieden das beste Mittel, um nichts zu vergessen, nur leider passirt es dann zuweilen, daß wir gerade – das Notizbuch vergessen. Auch verwöhnt dieses beständige Aufschreiben unser Gedächtniß in einem solchen Grade, daß wir bald gar nicht mehr ohne Notizbuch leben zu können meinen und etwas, das wir nicht aufgeschrieben haben, dann jedesmal ganz sicher vergessen.

Geradezu erstaunlich ist es, welch treues Gedächtniß oft Menschen aus den niederen Volksclassen haben, die nie etwas aufschreiben, aber freilich auch nur einzig an die einfachen Vorgänge ihres geregelten Tagewerkes zu denken haben. Ich bewunderte darin einen Schuhmacher, der drei Personen Maß nahm, ohne sich die zusammen etwa fünfzehn verschiedenen Nummern dieser Maße zu notiren.

„Sie schreiben es aber doch dann zu Hause auf?“ fragte ich.

„Wäre nicht übel!“ meinte er; „habe ich doch die Maße von zwanzig Kunden genau im Kopfe.“

Ein ähnlicher Gedächtnißkasten ist meine alte Gartenfrau. Die weiß es genau zu sagen, auf welchem Beet vor zehn Jahren die Bohnen gestanden haben oder vor fünfzehn die Gurken, und wenn irgend ein Geräth durch lange Jahre nicht benutzt worden ist, braucht man nur die Alte danach zu fragen; sie weiß es gewiß, wo es Anno dazumal aufbewahrt wurde. Sie weiß es, die siebenzigjährige einfache Frau, die nicht ihren Namen schreiben kann und nie ein anderes Buch gelesen hat, als Bibel und Gesangbuch. – Ein Beweis, daß die vielen Gedächtnißübungen, mit denen man die heutige Jugend quält, nur dann das Gedächtniß wirklich kräftigen, wenn damit auch gleichzeitig eine gewisse strenge Schulung und Erziehung dieser Geisteskraft Hand in Hand geht. Wo aber diese fehlt, da werden gerade die gedächtnißstärksten Menschen oft die vergeßlichsten; hundert komische oder drastische Beispiele zerstreuter Gelehrten beweisen es täglich.

Die Beobachtung des außerordentlich klaren und treuen Gedächtnisses Ungebildeter drängt uns aber auch die Frage auf, ob wir es ihnen nicht auf irgend eine Weise nachthun können. Ja, wir können für bestimmte kurze Zeiträume unseren Kopf ebenso klar machen, wie es der des Schusters und der alten Gartenfrau ist, indem wir ihn freiwillig ebenso – leer machen.

Wer jemals die mühevolle und complicirte Pflege eines geliebten Schwerkranken besorgt hat, der versteht vielleicht am besten, wie ich das meine. Es kommen bei solcher Pflege Stunden, ja ganze Tage, wo wir die Kraft haben, aus unserem Gedächtniß so vollständig jeden anderen Gedanken auszulöschen, daß nichts mehr darin bleibt, als nur der fortschreitende Zeiger der Uhr, der uns angiebt, was in jeder einzelnen Minute bei dem Kranken zu geschehen hat. „Auf Ihre Pünktlichkeit kommt jetzt Alles an,“ hat ja der Arzt gesagt. An dieser unserer Pünktlichkeit hängt also das Leben des Heißgeliebten, und wir denken nichts – nichts mehr, als diese rettende Pünktlichkeit. Auf die Minute genau werden alle Vorschriften befolgt, und nicht die geringste Kleinigkeit wird vergessen. Haben wir doch nicht nur unser Denken, nein, selbst unser Fühlen in diesen engen Kreis gebannt! Still und todt ist es geworden in dem zuckenden Herzen; wir haben eine eiserne Mauer um all unser Denken, Fühlen und Erinnern gezogen. Es ist, als sei der Kranke, der dort liegt, für uns nur ein willenloser Körper, dessen Schmerzensausbrüche und Fieberphantasien uns ruhig lassen; keine Ahnung seines möglichen Scheidens darf unsere Seele streifen.

Nur wo dieses Concentriren aller geistigen Fähigkeiten auf die Pflege und Wartung errungen werden kann, wird die Pflege ebenso gut sein, wie die einer geschulten fremden Wärterin. Wenn du dem Theuersten, was du auf Erden hast, nicht fremd zu werden vermagst in der Stunde der Gefahr, dann taugst du nicht an sein Schmerzenslager.

Aber – du kannst es auch; du kannst vergessen, was dieser Kranke dir jemals war und ist, um – nicht die Minute für die vorgeschriebene Arznei zu vergessen, oder die Zahl seiner Pulsschläge oder die Temperatur des Thermometers. So groß, so unumschränkt ist unsere Gewalt über unser Gedächtniß.

Nicht nur im Schmerz, auch in der Freude müssen wir oft die gleiche Herrschaft darüber bewahren. Seht da die Brautmutter am Hochzeitstage der geliebten Tochter! Vergessen muß sie, daß dieses Kind heute für immer von ihr scheidet, vergessen die Träume von Glück, die sich in die Zukunft desselben hinausspinnen, und die Aufregung der jüngsten Vergangenheit, vergessen Alles, was ihr Herz so stürmisch bewegt, um nicht vielleicht darüber – den Hochzeitskuchen in der Ofenröhre zu vergessen.

Ja, unsere Gedanken losreißen von den Gegenständen, die sie mit Macht gefangen halten, und sie mit Schärfe und Klarheit auf tausend Kleinigkeiten richten, das ist das bittere, aber auch einzig wirksame Recept gegen die Vergeßlichkeit bei wichtigen Veranlassungen.

Wie aber bekämpft man diesen bösen Erbfeind im gewöhnlichen Lauf des Alltagslebens?

Da muß das schon oben erwähnte „Ordnung halten“ in unserm Gedächtnißschrein eintreten. Wir können nicht, wie bei großen Ausnahmefällen, Alles hinauswerfen, was darin ist, aber wir können, wie der Volksausdruck ganz richtig sagt, „unsere Gedanken hübsch ordentlich zusammen nehmen“.

Jeder von uns hat die Aufgabe, den größeren oder kleineren Gedächtnißraum, den ihm Mutter Natur bescheert hat, so nützlich und zweckmäßig wie möglich auszufüllen, nicht aber, wie manches Mädchen seine Schubfächer, mit altem Flitterkram und Naschwerk, neben dem die nöthigen Dinge nicht mehr Raum haben.

Da giebt es zum Beispiel Frauen, die sich mit fast grauenhafter Genauigkeit jedes Wort merken, welches sie jemals haben sprechen hören, die dich moralisch niederschmettern können durch Wiederholung einer vor Jahren flüchtig hingeworfenen Bemerkung, welche vielleicht deinen heutigen Ansichten entgegenlautete. – Es giebt wieder Andere, die ebenso genau vom ersten Ball an, den sie besuchten, bis zur zuletzt stattgefundenen Kaffeegesellschaft herzählen können, welche Toiletten die sämmtlichen Theilnehmer dieser Feste getragen haben. Noch Andere haben das gleiche treue Gedächtniß für Speisen und Getränke oder für Handarbeiten. Eine vierte Sorte – und es ist die schlimmste – vergißt nie ein Aergerniß, einen Streit, ein unangenehmes Ereigniß. Ob auch der Sohn solch einer Mutter selbst schon Vater wäre, immer noch zählt sie bis in’s letzte Detail alle seine Kinderkrankheiten auf und weiß genau, wie viel Brauschen er sich als Schuljunge an die Stirn gestoßen hat. So oft sie es aber herzählt, jammert sie darüber ebenso herzbrechend, wie vor dreißig Jahren.

Von allen diesen Frauen kann man fast mit Bestimmtheit annehmen, daß sie – vergeßlich sind. Sie haben ihren Kopf so voll gepfropft mit überflüssigem Ballast, daß kein Platz darin bleibt für die Bedürfnisse des Augenblickes; sie haben ihr Gedächtniß so ermüdet, so abgestumpft durch das beständige Wiederholen alter Ereignisse, daß ihm die Spannkraft verloren gegangen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_543.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)