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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Was war das Motiv aller Deiner Handlungen?“

Sie strich, wie sich besinnend, über sich selber nachdenkend, die schweren dunklen Haarmassen von der feuchten Stirn. Angstvoll, hülfesuchend, blickte sie von Einem zum Andern.

„Was war die Ursache?“ fragte er noch strenger.

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte sie, „vielleicht – Langeweile.“

Wir sahen uns Alle entsetzt an. Dieses frivole, frevle Spiel mit Menschenglück, Menschenfrieden, Menschenleben – aus Langerweile!

Dem nutzlosen Leben der vornehmen Frau fehlte der Segen der Arbeit, fehlte ein höheres Streben, ein höheres Interesse, als das an der kleinen Welt der Gefallsucht und des Müßigganges.

„Ich kann nicht mit Dir leben, Ina!“ rang es sich von den Lippen des Barons.

Ina schleppte sich auf den Knieen zu ihm, umklammerte angstvoll seine Füße, suchte mit den Lippen seine widerstrebenden Hände.

Er riß sie eine Secunde empor in seine Arme, trug sie wie ein kleines Kind unter die Ampel, hielt sie hoch unter das Licht und blickte ihr in die verstörten Züge, als wolle er sie sich einprägen für Zeit und Ewigkeit. Tief seufzend ließ er sie dann herabgleiten. Es muß ein schweres, unsagbar schweres Kämpfen in ihm gewesen sein; denn seine Stimme war tonlos, als er niedergeschlagen sagte:

„Geh mit Gott, Ina – für Deine Zukunft werde ich sorgen! Mein Wappen trägt den Wahlspruch ‚Veritas‘ nicht selber darf ich ihn zerbrechen, und eine Freifrau von Bassowitz darf unser Motto nicht mit Füßen treten. Geh, mein Kind!“ sprach er noch leiser, noch milder und weicher, „Gott …“

Er schluchzte auf. Seine Hand streckte sich wie segnend nach ihrem Scheitel aus; dann drohte das Gefühl ihn zu übermannen. Er eilte hinaus. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.

Ina lag besinnungslos am Boden, und wie der Engel der Barmherzigkeit kniete neben ihr, angstvoll über sie hingebeugt, meine Ingeborg.




Wie sind die Jahre leise, lautlos an uns vorübergeglitten! Fünf oder sechs? Meine Ingeborg versichert mir eben, daß es deren sieben sind. Wahrhaftig, sieben Jahre!

Unsere Ehe war nicht kinderlos – ach, unsere kleine goldhaarige Ingeborg riß uns der Tod plötzlich vom Herzen. Mich mit festem Gottesvertrauen aufrichtend, ruhig gefaßt, stand in der dunklen Stunde diejenige hoch über mir, die innerlich tausendmal gebrochener sein mußte als ich; denn eine Mutter verliert tausendmal mehr an dem in allen Fasern mit ihr verwachsenen Kinde, als der Mann, der mitten im Leben und mitten in der Arbeit steht.

Ingeborg ist Licht geworden meinen lichtlosen Augen; für mich hat sie gesehen, als ich beinahe erblindet war. Sie ist die Hand geworden, die dem Gedanken erst Dasein gab. Sie hat mir, im regen geistigen Verständniß für Alles, was draußen in der Welt sonst an mir vorübergegangen, in das dunkle Krankenzimmer eine Auslese des Besten getragen; körperlich und geistig hat sie mich gestützt während der langen Monde des Siechthums. Mir die Gedanken von den Augen lesend, mich errathend, ist sie jedem Wunsche zuvorgekommen. Ein wackerer Camerad, ein treues Weib ist sie mir in diesen dunklen Prüfungstagen gewesen, in denen ich das Opfer meiner Berufspflichten das Opfer ansteckender Krankheit geworden, die alle meine Lebenskräfte niederstreckte.

Beruhigend, wie der glatte Meeresspiegel, liegt das Wesen meines Weibes vor mir da; tief, wie in die durchsichtige, klare Fluth, blicke ich durch die ernsten Augen in dieses reiche, von einem unerschöpflichen Liebesborn erfüllte Gemüth einer nordischen Frau. Frisch, kühl, erquickend, wie die Meeresbrise, weht es aus ihrem ganzen Sein mich an, und jeder Gedanke Ingeborg's ist Kraft, Wahrheit, jedes ihrer Worte stolze Offenheit. Aber Heimweh zieht sie doch alle Jahre dem Meere zu. Bei dem jungen Malte Bassowitz und seinem braven Weibe haben wir oft genug unser Zelt aufgeschlagen, und immer war es ein gar trautes Heimwesen, das uns bei den lieben Menschen umfing. Dem alten Bassowitz ist kaum Zeit gelassen worden, mit mir zusammen den ersten Enkel über die Taufe zu halten und an dem Glück seiner Kinder sich zu erfreuen; er wurde ungewarnt und schmerzlos plötzlich aus dem Leben gerufen. Er hat die Beruhigung mit in's Grab nehmen dürfen, daß der schwächliche Junker ein Bassowitz aus echtem Schrot und Korn geworden ist; Lore ist in dem stillen Eichenhof völlig an ihrem Platz mit ihrer holden Demuth und mädchenhaften Bescheidenheit.

Von Ina hatten wir, nachdem sie mit mir Eichenhof verließ und nach Italien ging, lange nichts mehr gehört oder doch nur Schwankendes durch die ungewisse Fama. Man wollte sie öfters in den Spielsälen der rheinischen Bäder in auffallender Toilette mit einem wahnsinnig pointirenden, verlebt und wüst aussehenden Manne in hochmodischer Kleidung gesehen haben.

Während eines Tages heftige Aequinoctialstürme als Vorboten des anrückenden Herbstes unser stilles Haus im Stadtpark umtosten, klingelte es schwach an der Hausthür.

Wer konnte es sein? Meine Freunde und Collegen respectirten sonst diese Abendstunde, die einzig und allein meiner Frau gehörte. Niemand sprach um diese Tageszeit bei uns ein, während wir plaudernd, berathend am behaglichen Theetisch saßen. Das Klingeln wiederholte sich leise, und zugleich glaubten wir eine Droschke von unserer Gartenthür fortrollen zu hören. Die im Winde heftig rauschenden Bäume übertäubten jedes andere Geräusch.

„Es wird der Briefträger sein,“ meinte ich. „Bei dem Hundewetter käme doch Keiner sonst zu uns heraus.“

In demselben Augenblick ging die Thür auf, und es wurde gemeldet, daß eine Frau mit einem Kinde draußen warte, die den Herrn Professor zu sprechen wünsche.

Ein kleines, etwa dreijähriges Mädchen lief einer wankenden Gestalt vorauf, die zögernd hinter dem einen Flügel stehen blieb. Die Kleine ging zutraulich auf unsern behaglichen Tisch zu und streckte Ingeborg ein fettes Grübchenhändchen entgegen. Die lachenden braunen Aurikelaugen gingen neugierig im Kreise umher, und das wunderliebliche Kindergesicht umtanzten die langen, goldblonden Locken unter dem wollenen Shawl, der ihr um den Kopf gewickelt war. Das Kind war dürftig, aber bunt, wie in Theaterplunder, gekleidet; der strahlenden Schönheit, der angeborenen Vornehmheit des kleinen Dinges hatten die bunten Lumpen aber keinen Abbruch thun können.

Mit einem entzückten: „O das liebe Kind!“ hatte meine Frau die reizende Kleine hochgehoben, geküßt und an den leckern Theetisch vor eine Schüssel mit Biscuit gesetzt. Man sah den leuchtenden Augen an, daß es ungewohnte Herrlichkeiten waren, die sich ihnen hier boten. Fröhlich bissen die kleinen Zähne in das Gebäck. Wir hatten der Fremden in unserer Freude über das holde Kind beinahe vergessen.

„Mama – wo ist Mama?“ rief das Mädchen. „Mama, ich hebe für Dich drei Kuchen auf,“ jubelte sie und packte ungenirt in die Kleidertasche, was hinein wollte.

Von der Thür kam ein seltsamer Laut. Weinte die Fremde oder war es Freude? Ein ehemals schwarzer, vom Tragen grau gewordener Schleier bedeckte ihr das Gesicht; noch dünner, noch ärmlicher war sie gekleidet, als das Kind, dem sie wahrscheinlich das Beste gegeben, was sie noch hatte. Die Gestalt zitterte vor Kälte. Meine Frau bat sie freundlich und gütevoll, hereinzukommen und hinter sich die Thür nach dem zugigen Flur zu schließen, und als sie sich noch immer nicht vom Platze regte, ging ich ihr entgegen, weil ich das seltsame Gebahren für übertriebene Schüchternheit hielt. Dann aber überzeugte ich mich, daß es Schwäche war, was sie zögern ließ; denn als ihre Hand die Stütze der Thürklinke verließ und sie einen Schritt vorwärts that, taumelte sie wie ein Trunkner.

Am Tische ließen wir sie in einen Armsessel nieder, und meine sorglich um die Aermste beschäftigte Frau wärmte in ihren weißen Händen die erstarrten mageren Finger der Kranken und nahm ihr vom Gesicht den Schleier fort.

Herr des Himmels! Ina! Erschrocken blickte das Kind von Einem zum Andern und stellte, vom Stuhle herabkriechend, sein zartes Figürchen wie eine Schutzmauer vor der Mutter auf. Um Ina's farblosen Mund schwebte ein schmerzliches Lächeln.

„Nun kann ich sterben, meine Ingeborg, bei Euch sterben – Du Johannes und jene Gute da, Ihr werdet meinem Kinde – es heißt ja auch Ingeborg – Vater und Mutter sein,“ sagte sie mühsam, mit halbgeschlossenen Augen. Welch furchtbare Verheerungen hatten Zeit und Unglück in diesem einst so schönen Geschöpfe angerichtet! In den langen, bangen Stunden der Nacht des Wiedersehens hat sie uns bruchstückweise, in abgerissenen Lauten ihre Erlebnisse erzählt, eine traurige, ach so traurige

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