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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

gegenüber gelegenen, jäh abstürzenden Wand erschien plötzlich ein am schwindelnden Hange sich fortbewegendes Pünktchen, das für eine Gemse halten zu dürfen ich meiner aufgeregten Phantasie gern verwilligte, besonders da ihm in einiger Entfernung ein gleiches Etwas folgte. Als aber in ganz gemessenen Abständen dieselbe Erscheinung sich wiederholte und so zuletzt eine Kette lebendiger Punkte bildete, da muthmaßte ich, wie es sich später auch als richtig herausstellte, daß es die Linie der Treiberleute sein möchte,

Gemsen auf der Flucht.
Nach der Natur aufgenommen von Guido Hammer.

die, in für mich geradezu unbegreiflicher Weise, am schaurigen Gesenke ihren Weg hinnahmen. Indeß zerbrach ich mir hierüber nicht weiter den Kopf, hatte doch der Leben bietende Anblick wahrhaft erlösend auf mich gewirkt und den Bann, der ob der langen, vergeblichen Erwartung schon recht drückend auf mir gelastet, mit einem Male gebrochen; froh und frei darüber aufathmend, fühlte ich, wie sich im Nu alle meine Lebensgeister wieder zu neuer Hoffnung anfrischten. In dieser bekümmerte es mich denn auch durchaus nicht, daß die lebendigen Colonnen wieder hinter vorspringenden Gebirgsmassen verschwanden, wenigstens konnte ich mir nun aus dem Erspähten schon leichter ein Bild vom Getriebe der mir so neuartigen Jagd schaffen, ein Umstand, der mich meinen aufmerkenden Blick nun auch nicht mehr, wie erst, allzu sehr in’s Unbestimmte hinaus richten ließ.

Wiederum war geraume Zeit verflossen, in welcher all mein Denken in erneuerter Erwartung sich gipfelte, als ein Ton an mein Ohr schlug, welcher mich mit freudigem Bangen erfüllte, glich er doch genau dem mir von Gebirgsjägern als Warnzeichen der Wachtgemsen bezeichneten. Ich mußte also eine Gefahr witternde Gemse in der Nähe vermuthen. Und in der That hatte ich richtig geschlossen; denn nicht lange nach nochmaliger Wiederholung des gleichen Lautes fiel der erste dröhnende, die tiefe Stille weithin durchhallende Schuß vom Stande des Herzogs aus, dem rasch hinter einander noch vier Schüsse folgten, sodaß das knatternde Echo in dem vielfach zerrissenen Geklüft unserer Umgebung kein Ende nehmen wollte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_589.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)