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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Ah! Es kommt Jemand,“ bemerke ich.

„Nur der Doctor,“ sagt Hann, ein wenig verlegen, wie mir's scheint.

Der Doctor stampft in ein Nebenzimmer. Indem er dessen Thür öffnet, dringt wiederum ein tiefer Seufzer an mein Ohr.

„Was war das?“ fragte ich.

„O! Das war nur die Mistreß. Sie stöhnt in Einem fort. Sie hat die – sie hat Zahn – sie hat K – sie hat Kopfweh, schreckliches Kopfweh,“ stottert Hann, nimmt die beiden Schillinge und poltert mit einem: „Adjö, Ma'am! Ich dank' Ihnen,“ Hals über Kopf in den Tartarus hinab.

„Wunderliche Person!“ murmele ich, indem ich anfange, mir ein Ei (besser: einen Kieselstein) zu Gemüthe zu führen. „Zeigt ein wahrhaft rührendes Vertrauen in meine Ehrlichkeit, da sie mich hier allein läßt. Wer bürgt ihr dafür, daß ich nicht mit den knöchernen Theelöffeln und dem baumwollenen Denkmal des Herzogs von Wellington davongehe? – Wunderliche Mistreß! Hat ein bischen Kopfweh und läßt gleich den Doctor kommen. Merkwürdig, wie verwirrt das Mädchen wurde, als ich fragte, wer da seufze – ganz dunkelroth im Gesicht. Wenn sie mir eine Unwahrheit gesagt hätte! Wenn Mistreß gar kein Kopfweh hätte, sondern eine schlimme Krankheit, die sie nicht zu nennen wagte – am Ende gar eine ansteck – Großer Gott! Wenn die Frau die Blattern hätte! Gerade in dieser Gegend fallen ihnen ja wöchentlich Hunderte zum Opfer.“

Ich stoße das Theegeschirr zurück, springe auf, stürze die Treppe hinunter zum Hause hinaus und höre nicht auf zu stürzen, bis ich athemlos in der Bahnhofshalle vor dem verdutzten Diener der Gerechtigkeit stehe.

„Antworten Sie mir auf Ihr Gewissen,“ rufe ich ihm zu, „haben Sie es gewagt, mich in ein Haus zu führen, dessen Besitzerin an den Blattern krank liegt?“

Rothbart zieht die Augenbrauen in die Höhe, schüttelt den Kopf und spricht, mir höflich die Thür meines Kerkers erschließend: „Daß ich nicht wüßte! Wer sagt das? Hann?“

„Ach nein. Die behauptet natürlich, ihre Herrin habe Kopfweh, wurde aber –“

„Verlassen Sie sich darauf, Ma'am,“ unterbricht er mich mit edler Begeisterung, „wenn Hann gesagt hat, daß ihre Mistreß Kopfweh hat, so hat sie Kopfweh. Hann lügt nicht.“

„Warum in aller Welt wurde sie denn so verwirrt und stürzte mit einem dunkelrothen Gesicht zur Thür hinaus?“

„Sie wird plötzlich Angst bekommen haben, der Braten könne anbrennen. Sie ist ein gewissenhaftes Mädchen – ist Hann.“

„Es ist etwas Schönes um das felsenfeste Vertrauen, das der gute Rothbart in Hann setzt,“ seufze ich, als ich mich wieder einsam in meinen vier Gefängnißwänden sehe, „ich wollte, ich könnte es theilen.“

Ich theile es nicht. Ich habe überhaupt kein rechtes Vertrauen zu den Londonern von heutzutage. Sie sind lange nicht mehr so gewissenhaft wie ihre Vorfahren zur Zeit der furchtbaren Pest. Dazumal zeichnete der ehrliche Bürger, sobald die Seuche bei ihm eingezogen war, ein großes, rothes Kreuz an seine Thür, was so viel bedeutete, als: „Wenn Du Dein Leben lieb hast, so tritt nicht über meine Schwelle!“ Heute ladet des würdigen Mannes Urenkel arglose Leute mit gleißnerischen Worten in sein inficirtes Haus und setzt ihnen inficirte Lebensmittel in inficirten Schüsseln vor, einzig und allein um ein paar armselige Schillinge an ihnen zu verdienen. Der also Betrogene ißt und trinkt, bezahlt sein Geld und – bekommt die Blattern.

Hundert alte halbvergessene Ansteckungsgeschichten kommen mir in den Sinn, während ich wie ein ruheloser Geist um den großen, polirten Tisch herum wandere. Ich denke sie nach einander von Anfang bis zu Ende durch und bringe sie auf meine Lage in Anwendung. Meine Seele leidet dabei Folterqualen, aber die Zeit vergeht mir schnell. Ich traue meinen Ohren nicht, als Rothbart plötzlich die Thür aufschließt und mir strahlenden Antlitzes verkündet, daß ich jetzt nur noch eine einzige Stunde zu warten habe.

Im Laufe der Stunde erscheinen fünf Damen, eine alte, zwei ältliche und zwei junge. Sie tragen sämmtlich Capothüte und halten Gebetbücher in den Händen, zum Zeichen, daß sie die Bahn heute nur deshalb benutzen, weil sie in irgend einer Vorstadtskirche den Nachmittagsgottesdienst zu besuchen wünschen. Sie vertheilen sich auf vier Ledersophas und sehen mich, die ich endlich wieder auf dem meinigen zur Ruhe gekommen bin, starr, stumm und vorwurfsvoll an; denn daß ich nicht in der nämlichen frommen Absicht reise, offenbaren ihnen mein runder Hut und mein Handkoffer. Fünf Minuten lang ertrage ich das Kreuzfeuer aus den zehn Augen; dann gehe ich hinaus, um den Mann des Gesetzes zu bitten, mich baldmöglichst einsteigen zu lassen.

Draußen ist es lebendig geworden. Rothbart hat Gesellschaft bekommen. Er löst sich aus einem Knäuel von Gepäckträgern und kommt mir entgegen. Einsteigen kann ich jederzeit, meint er, die Waggons halten ja vor dem Perron, aber es wird noch eine gute halbe Stunde darüber hingehen, bis der Zug reisefertig ist.

„Lieber eine halbe Stunde im Coupé sitzen, als noch eine halbe Minute im Wartesaal,“ entscheide ich.

Rothbart holt meine sieben Sachen heraus, schließt mir draußen das allerschönste Coupé auf und entfernt sich mit dem Versprechen, mich zu benachrichtigen, sobald ich mir am Schalter ein Billet lösen kann.

Die Zeit vergeht langsam, aber sie vergeht doch. Die Locomotive langt schnaubend an. Einige Dutzend Sonntagsreisende steigen mehr oder weniger schamroth ein. Jetzt kommen die fünf Capothüte, schenken mir im Vorüberschreiten noch schnell fünf vorwurfsvolle Blicke und wählen, jede Gemeinschaft mit mir meidend, das nächste Coupé.

Und nun erscheint Rothbart, der Treue. Er hat meinen Koffer besorgt und meint, es sei nun hohe Zeit, daß ich mir ein Billet löse, der Zug fahre in sechs Minuten. Ich wage es, der guten Seele nochmals ein Geldstück in die Hand zu drücken. Er nimmt es zu meiner Freude ohne Scrupel entgegen, wünscht mir gerührt eine glückliche Reise und geht. Ich eile an den Schalter:

„Ein Billet nach W.“

„Billet nach W.! – Nach W? – W.? Bedaure! Eilzug nach Edinburgh hält nicht in W. Werden bis fünf Uhr warten müssen.“

Einen Moment stehe ich wie vom Blitze getroffen; dann fliege ich, eingedenk der eilenden Minuten, an das allerschönste Coupé und entreiße ihm mit blutendem Herzen meine Habseligkeiten.

„Einsteigen einsteigen!“ ruft, indem ich dies thue, der Schaffner. Er hat die Hälfte der Wagen bereits geschlossen.

Von Angst getrieben stürze ich auf den ersten besten Gepäckträger zu und beschwöre ihn, mir schnell, schnell meinen Koffer herauszugeben. Der Mann ist mit Freuden bereit dazu, weiß aber nicht, ob der Verlangte im Gepäckwagen Nr. 1, unmittelbar hinter der Locomotive, oder in Nr. 2, am äußersten Ende des Zuges, weilt. Ich weiß es auch nicht; drei Collegen, die er nach einander consultirt, wissen es ebenfalls nicht. Niemand weiß es, außer Rothbart, und der ist spurlos verschwunden. Ueber dem Consultiren ist es auch schon zu spät geworden. Sämmtliche Wagen sind geschlossen. In einer halben Minute reist mein Koffer auf eigene Faust nach Edinburgh und von da nach Thule – kehrt vielleicht über's Jahr, vielleicht nimmer wieder. Da erscheint plötzlich ein Rettungsengel, ein wohlbekannter, mit leuchtenden Coteletten, sieht mich unter der Last meines Grames tiefgebeugt dastehen und begreift im Nu die Situation. Auf den Schaffner zustürzen, ihm ein unverständliches Wort zurufen, einen Wagen aufreißen und einen Koffer an das Tageslicht zerren, ist das Werk eines Augenblicks. Der Zug braust davon. Aufathmend stehen wir da. Rothbart erschöpft sich in Entschuldigungen, daß er mein Eigenthum dem falschen Zuge anvertraut, ich mich in Danksagungen, daß er es ihm noch zu rechter Zeit wieder entrissen hat. Dann gehe ich traurig gesenken Hauptes in den fatalen Wartesaal zurück. Rothbart folgt mit dem Schlüssel. Es thut ihm unendlich leid, aber es ist seine heilige Pflicht, mich bis fünf Uhr wieder einzusperren.

Nachdem er gegangen, strecke ich mich auf das alte traute Lederkanapee und zolle meinem harten Schicksal einen kleinen Thränentribut. Bei dieser vergnüglichen Beschäftigung überrascht mich der Schlaf, der Allerweltströster. Mir weiß er leider keinen besseren Trost, als einen langen, verwickelten Traum, in dessen Verlaufe ich berghohe Hindernisse übersteige, um den Fünf-Uhr-Zug zu erreichen, der mir schließlich schadenfroh davondampft. Ich schicke ihm einen Jammerruf nach und erwache – erwache und fahre entsetzt in die Höhe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_622.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)